Geschrieben am 1. Februar 2023 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2023

Christian Y. Schmidt: „Corona Tests Beijing“

© Fotos: Gong Yingxin/ Christian Y. Schmidt

Die Familienähnlichkeit erkennen

Christian Y. Schmidt ist ein Reisender zwischen den Welten und in China verheiratet. Corona setzte seinen Weltenwechseln ein jähes Ende, schränkte die Beweglichkeit stark ein. Erst 2022 konnte er wieder reisen. In den knapp acht Monaten, die er sich im letzten Jahr in Peking aufhielt, musste er sich rund 75 mal einem PCR-Test unterziehen, davon 69 mal in Folge. Aus seinen Beobachtungen und Erfahrungen dabei hat er nun ein Buch gemacht, das – ergänzt von Fotos, die er und seine Frau Gong Yingxin machten – einen seltenen Einblick gewährt. Zudem plädiert er für eine andere, differenzierte Sicht auf die Corona-Politik Chinas und kontert manch westliche Überheblichkeit.

Wir präsentieren Ihnen hier dazu das Vorwort als Textauszug, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Christian Y. Schmidt: Corona Tests Beijing. Neunundsechzig Massentests in China. Zweisprachige Ausgabe (deutsch-englisch). 112 Seiten, Leinenbindung, Prägung. Texte von Christian Y. Schmidt, Fotos von Christian Y. Schmidt und Gong Yingxin. Mit einem Beiheft und einer Originalzeichnung von Hartmut Andryczuk. Hybriden-Verlag, Berlin 2023. Normalausgabe: 100 Euro (Exempl. 1 bis 100), Vorzugsausgabe: 700 Euro (Exempl. 1 bis 30).
Alle Exemplare signiert und nummeriert. Verlagsinformationen und Bestellmöglichkeit hier.

Siehe auch seine „Quarantäne Updates Shanghai. Ein Feldforschungsbericht.“ Herausgegeben von Hartmut Andryczuk. Bei uns vorgestellt hier.

CYZ selbst schreibt zu seinem neuen Buch: „Es hat nicht lange gedauert, da waren die Tests als regelmässige Routine in meinen Alltag integriert. Nach einer Weile begann ich sogar Gefallen an dieser behördlich angeordneten Unterbrechung meines Tagesablaufs zu finden. Während ich in der Schlange stand, konnte ich ungestört die Leute beobachten, die in meiner Nachbarschaft wohnen und arbeiten, und die ich vorher nie in dieser Ballung zu sehen bekommen hatte. Weil ich sonst nichts zu tun hatte, studierte ich ihre Kleidung und ihre unterschiedlichen Wartehaltungen. Ich versuchte die Aufschriften auf den T-Shirts zu entziffern, und fragte mich, woran ich die Angestellten aus den benachbarten Büros von Arbeitern unterscheiden konnte. Bemerkenswert fand ich auch, mit welcher Selbstverständlichkeit selbst Kinder auf Inlinern, Skateboards oder mit Wasserpistolen ausgerüstet zu den Tests erschienen. 

In seiner 1960 erschienen „Theorie des Films“ formulierte Siegfried Kracauer angesichts der von Edward Streichen konzipierten New Yorker Ausstellung „The Family of Man“ eine ähnliche Hoffnung. Den ausgestellten Fotografien aus 68 Ländern sprach Kracauer die Fähigkeit zu, den Betrachter dazu zu bringen, die „Familienähnlichkeit“ aller Menschen zu erkennen. So würden die Fotos dafür sorgen, dass wir globaler zu sehen beginnen: „Sie machen“, so der Soziologe und Filmtheoretiker, „aus der Welt virtuell unser Zuhause.“

Ich denke, dieses Erkennen der Familienähnlichkeit und der globale Blick ist angesichts der zunehmenden Konfrontation zwischen dem westlichen Block und China nötiger denn je. Alle Bewohner dieses Planeten sollten sich im Klaren darüber sein, dass wir inzwischen an einem Punkt angelangt sind, wo diese Konfrontation jeder Zeit in einen Krieg münden kann. Dann werden die Leute, die auf den Fotos hier in der Schlange stehen, zu Feinden deklariert werden. Auch deshalb sollte man alles tun, um diesen Krieg zu verhindern.“

Beiheft von Hartmut Andryczuk zum Buch

Nachwort zum Vorwort: Die chinesische Coronawende 

Das vorangehende Vorwort schrieb ich im Oktober 2022. Zum Erscheinungstermin dieses Buchs Anfang 2023 hat sich so viel an der chinesischen Corona-Bekämpfungspolitik geändert, dass zwar kein neues Vorwort – an ihm wurde kein Wort korrigiert –, aber dieses kurze Update notwendig ist. Wie man wohl allgemein weiß, ist die chinesische ZeroCovid- Politik Geschichte. Die Wende bereitete sich im Laufe des November 2022 vor, als in China die Infektionen mit der Omikron-Variante des Virus noch einmal deutlich anstiegen. 

Die chinesischen Behörden reagierten darauf wie gewohnt mit der Verschärfung der Maßnahmen. Das rief erstmals größere Proteste im ganzen Land hervor, die sich nach einem Brand im Lockdown, der am 24. November in der Hauptstadt Xinjiangs, Umrumqi, zehn Menschen das Leben gekostet hatte, noch steigerten. Nachdem dieser Protest am 27. November auch auf Peking übergegriffen hatte, sah – trotz der nur recht kleinen Gruppe der Demonstranten – ein großer Teil der westlichen Medien bereits die Herrschaft der kommunistischen Partei erschüttert. So bildete Der Spiegel am 3. Dezember auf seinem Titel eine chinesische Anti-Maßnahmen-Demonstrantin ab und feierte mit gleichnamiger Schlagzeile das „Virus der Freiheit“, das sich jetzt in China verbreite. 

Die Antwort der chinesischen Regierung auf die Proteste kam schnell und war ziemlich überraschend. Am 7. Dezember 2022 kündigte man an, dass von nun an die Testpflicht deutlich reduziert und Lockdowns nur noch sehr eingeschränkt verhängt würden. Die wohl entscheidendste Änderung war, dass kein negativer Test mehr verlangt wurde, um die meisten öffentlichen Einrichtungen zu betreten. Damit war der Weg für das Virus bereitet, sich explosionsartig auszubreiten. Bereits in den ersten drei Dezemberwochen, so eine Schätzung der chinesischen Nationalen Gesundheitskommission (NHC), hatten sich rund 250 Millionen Menschen im ganzen Land mit dem Corona- Virus infiziert. 

Genauere Daten waren nicht zu erhalten, denn am 15. Dezember stellten die Behörden die Veröffentlichung von so genannten asymptomatischen Infektionen ein; es sei inzwischen „unmöglich, sie genau zu erfassen“. Am 25. Dezember verkündete die NHC schließlich, ab sofort auch die Publizierung der Zahl täglicher Corona-Erkrankungen und -Toten zu beenden. Bereits zuvor hatte man erklärt, nur noch diejenigen als Corona-Tote zu zählen, die nachweisbar einem Lungenleiden erlegen waren. Damit war die bis dato recht zuverlässige chinesische Corona-Statistik unbrauchbar geworden. Logische Folge dieser radikalen Wende war die völlige Aufhebung der Quarantänepflicht und Einreisebeschränkungen für chinesische Staatsbürger, Verwandte von Bewohnern Chinas sowie Geschäftsreisende ab dem 8. Januar 2023, der wohl über kurz oder lang auch die Öffnung des Landes für Touristen folgen wird. 

Reaktion der westlichen Medien 

Bemerkenswert ist allerdings nicht nur nicht nur diese einschneidende Wende der chinesische Regierung, die quasi über Nacht eine drei Jahre lang verfolgte Politik in ihr Gegenteil verkehrte. Auch die westlichen Medien änderten von einem Tag auf den anderen ihre Einschätzung dieser Politik. Hatten sie noch kurz zuvor die chinesischen Maßnahmen als „Horror- Lockdowns“ oder „Albtraum“ (siehe Vorwort) bezeichnet, und sich wenig später vehement auf die Seite der Demonstranten geschlagen, die die Abschaffung der Maßnahmen und eine sofortige Öffnung Chinas forderten, begannen sie exakt in dem Moment diese Forderungen zu denunzieren, als die chinesische Regierung nachgab und sie umzusetzen begann. 

Selbstverständlich machten auch die deutschen Medien bei diesem 180- Grad-Schwenk keine Ausnahme: „Xis Corona-Kehrtwende: Dieser Starrsinn stürzt China in die Katastrophe“, titelte die Nachrichtenseite von t-online am Tag vor Heiligabend – ohne auf die Idee zu kommen, dass ein Umdenken eigentlich immer das genaue Gegenteil von Starrsinn ist – auch der Stern behauptete Ende Dezember, dass China in eine Katastrophe steuere, während die NZZ bereits Mitte Dezember als Folge der Corona-Wende eine „allgemeine Panik“ in den Straßen Pekings zu beobachten glaubte. Andere Mainstreammedien schrieben Anfang Januar 2023 von „Corona- Horror“ (BILD), „Covid Chaos“ (Spiegel), „Desaster“ (ntv) oder – wie gehabt – vom „Corona Albtraum“ (Berliner Morgenpost), der China einmal mehr erfasst habe. 

Im Zuge der sich immer hysterischer gerierenden „Berichterstattung“, die – ebenfalls wie gehabt – selten von vor Ort, sondern zum großen Teil von 

Deutschland aus erfolgte, wurde vergessen zu erwähnen, dass man sich selbst noch kurz zuvor mit den Forderungen der chinesischen Oppositionellen nach völliger Abschaffung der Corona-Maßnahmen solidarisiert hatte. Auch fehlte jeglicher Hinweis darauf, dass die Pandemie weltweit längst hätte beendet sein können, hätte der Rest der Welt inklusive des Westens das Covid-Virus genauso entschieden bekämpft wie die chinesische Regierung in den knapp drei ZeroCovid-Jahren. Nur weil das nicht geschehen war, konnte sich erst die hochansteckende Omikron-Variante entwickeln, die – nachdem sie nach China reimportiert worden war – die dortigen Behörden nicht mehr in den Griff bekommen konnten. 

Versäumnisse der chinesischen Regierung 

Man muss allerdings auch einräumen, dass die alarmistische Berichterstattung im Westen zumindest einen wahren Kern hatte, denn tatsächlich brachte die überstürzte Beendigung nahezu sämtlicher ZeroCovid-Maßnahmen schwerwiegende Probleme für die Bewohner Chinas mit sich. Das lag hauptsächlich daran, dass sich die Impfquote bei den chinesischen Risikogruppen zu diesem Zeitpunkt auf einem zu niedrigem Niveau befand. Zwar reichen drei Impfungen mit chinesischen Totimpfstoffen wie SinoVac aus, um schwere Verläufe und Tod größtenteils zu verhindern. Doch waren am 14. Dezember 2022 nach einer offiziellen chinesischen Statistik nur 69,8 Prozent der über Sechzigjährigen und lediglich 42,4% der über Achtzigjährigen drei Mal geimpft. Für die niedrige Quote gab es ein ganzes Ursachenbündel. Die zwei wichtigsten Gründe: Einerseits ein generelles Mißtrauen älterer Chinesen gegenüber Impfungen – einige Impfskandale liegen noch nicht lange zurück – sowie paradoxerweise der Erfolg der fast dreijährigen ZeroCovid-Politik. In China fühlten sich die Alten auch ohne Impfung einfach zu sicher. 

Geholfen hätte gegen diese Impfskepsis wohl nur die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht. Tatsächlich hatte zumindest die Pekinger Lokalregierung versucht, Anfang Juli 2022 für das Stadtgebiet eine solche zu verordnen. Doch konnte sie sich damit nicht durchsetzen. Schon drei Tage, nachdem sie erlassen worden war, nahm die Stadtregierung nach heftigen Online-Protesten ihre Anordnung wieder zurück. Trotz dieses Widerstandes hätte die Zentralregierung größere Anstrengungen unternehmen müssen, die vulnerablen Gruppen zu überzeugen, sich auch ein zweites und ein drittes Mal impfen zu lassen. Zwar wurde ab Mitte Dezember eine neue, speziell auf die Risikogruppen zugeschnittene Impfkampagne schließlich doch noch aufgelegt, aber sie kam eindeutig zu spät, um schwere Erkrankungen und Todesfälle unter den Nichtgeimpften bzw. Nichtgeboosterten zu verhindern. 

Auch wäre es wohl klüger gewesen, die Maßnahmen langsamer zurückzufahren bzw. nach Regionen gestaffelt, um Intensivstationen bzw. Krankenhäuser zu entlasten. Dass dies alles nicht geschah, ist eigentlich nur dadurch zu erklären, dass die Regierung keine weiteren Proteste riskieren wollte. Das befreit sie allerdings nicht von ihrer Verantwortung. Klar ist, dass durch das abrupte Aufkündigen der ZeroCovid-Politik mehr Menschen schwer erkrankt und gestorben sind als nach heutigem Stand der Wissenschaft hätten erkranken oder sterben müssen. 

Keinen Grund zur Hybris 

Diese Tatsache ist jedoch kein Grund für die westliche Politik und Medien, sich über China zu erheben. Denn selbst nach der überstürzten Einstellung der Corona-Maßnahmen wird China am Ende höchstwahrscheinlich deutlich besser durch die Pandemie gekommen sein, als das Gros der westlichen Staaten. Das ist nun keineswegs chinesische Propaganda, sondern wurde von der unabhängigen britischen Gesundheitsdatenfirma Airfinity errechnet. Die publizierte am 29. Dezember 2022 eine – am 6. Januar 2023 ergänzte – Studie –, die die Höhepunkte für die aktuelle chinesische Infektionswelle für den 13. Januar (Städte) und den 3. März (Land) prognostizierte. Im April würde dann die Welle deutlich abflachen, um gegen Ende April 2023 mit insgesamt 1,7 Millionen Toten vorläufig auszulaufen. 

Diese Studie wurde zwar mit ihren Zahlen auch von vielen deutschen Medien von Der Spiegel bis zur Tagesschau zitiert, allerdings ohne diese Zahlen ins Verhältnis zur deutschen Corona-Statistik zu setzen. So waren in Deutschland bis Anfang Januar 2023 mehr als 162.000 Menschen an Covid 19 gestorben; etwa 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung von 84 Millionen. Umgerechnet auf die chinesische Bevölkerung von 1,4 Milliarden wären das 2,8 Millionen Tote. Das bedeutet, dass in China 1,1 Million Menschen mehr gestorben wären, hätte man dort Corona nach deutschem Vorbild bekämpft. Im Vergleich zu den USA, wo mehr als 0,3 Prozent an Corona starben, steht China mit einer Quote von 0,12 sogar noch besser da. 

Dieses Verhältnis kann zwar auch nicht die Versäumnisse der chinesischen Regierung im Zuge der Beendigung von ZeroCovid entschuldigen, relativiert aber das von den westlichen Medien behauptete chinesische Corona- Desaster. Wenn 0,12 Prozent Corona-Tote ein „Albtraum“ oder „Horror“ sind, mit welchen Worten soll man dann die deutsche Quote von 0,2 Prozent beschreiben? Das Missverhältnis in der Berichterstattung fällt um so mehr ins Auge, als die westlichen Medien gleichzeitig die weiterhin recht hohen Corona-Sterblichkeitsraten im Westen – in Deutschland starben Anfang Januar 2023 täglich 180 Menschen an Corona – überhaupt nicht mehr oder nur noch sehr versteckt erwähnen. 

So zeigt auch die Berichterstattung zur chinesischen Corona-Wende durch die westlichen Medien einmal mehr, dass diese sich eher als Kampforgane gegen einen geopolitischen und systemischen Gegner verstehen, denn als neutrale Beobachter. Möge dieses Buch auch zu diesen Berichten und Kommentaren ein kleines Gegengewicht schaffen. Zugleich wird es mit der Beendigung der ZeroCovid-Politik noch schneller als von mir im letzten Jahr gedacht selbst zu einem historischen Dokument, das im Detail bezeugt, wie diese Politik einmal funktionierte. 

Christian Y. Schmidt 

Berlin, den 9. Januar 2023 

Christian Y. Schmidt, 1956 geboren, war von 1989 bis 1996 Redakteur der «Titanic». Seitdem arbeitet er als freier Autor, u. a. für FAZ, SZ, taz, Stern, konkret, NZZ, Zeit sowie für verschiedene Fernsehredaktionen. Er ist Senior Consultant der Zentralen Intelligenz Agentur und war Gesellschafter und Redakteur des Weblogs «Riesenmaschine». 2003 zog er nach Singapur, 2005 nach China. Er lebt heute in Berlin und Peking, hat etliche Bücher veröffentlicht, so etwa Bliefe nach dlüben. Der China-Crashkurs oder Allein unter 1,3 Milliarden. Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu. 2018 erschien sein erster, vielbeachteter Roman: Der letzte Hülsenbeck. CulturMag mit zwei Stimmen dazu hier. Im März 2020 erschien Der kleine Herr Tod. Dazu bei uns Georg Seeßlen.
Christian Y. Schmidts Texte bei uns hier. Sein Jahresrückblick 2022 bei uns hier.

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