Geschrieben am 1. Mai 2022 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2022

Christian Y. Schmidt „Quarantäne Updates Shanghai“

Zeichnung von Hartmut Andryczuk (Vorzugsausgabe)

Christian Y. Schmidt: Quarantäne Updates Shanghai. Ein Feldforschungsbericht. Herausgegeben von Hartmut Andryczuk. Hybriden-Verlag, Berlin 2022. 128 Seiten, gebunden, Auflage: 100 Exemplare, signiert und nummeriert, 100 Euro. Mit fünf farbigen Abbildungen sowie Quarantäne-Video (DVD) von Christian Y. Schmidt. Beilage: Originalzeichnung „ROOM 5038“ von Hartmut Andryczuk.
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Eine kleine Einführung von Alf Mayer sowie ein Textauszug, mit freundlicher Erlaubnis von Autor und Verlag

Wenn einer eine Reise tut …, sagte meine Großmutter immer. Wohl kaum ein Deutscher hat die Pandemie so vielfältig erlebt wie Christian Y. Schmidt, der seit 2005 in Peking lebt. Und er war – und ist, Stichwort die aktuelle Situation in China – wahrscheinlich noch etwas mehr betroffen als die meisten anderen Deutschen. Bereits im Januar 2020 erlebte er den ersten Lockdown in Peking selbst mit und berichtete auch in deutschen Medien darüber. Damals schien das alles noch sehr weit weg. Als er am 12. Februar 2020 nach Deutschland flog, um dort sein neues Buch „Der kleine Herr Tod“ zu promoten – ein Buch, das Georg Seeßlen bei uns dann „Genau das Richtige für diese Zeiten“ fand – rechnete er fest damit, am 1. April wieder nach China zurückfliegen zu können. Das aber war ein Irrtum. 

Insgesamt 20 Monate steckte Christian Y. Schmidt in Deutschland fest. Eine Rückkehr nach Bejing wäre, und das variierte andauernd: zu teuer/ zu kompliziert/ nicht möglich gewesen. Die Folge: Seit siebzehn Jahren hielt Christian Y. Schmidt sich nicht mehr so lange in Deutschland auf, ebenso lange war er nicht mehr derart von seiner Frau getrennt. Geradezu zwangsläufig, so sieht er es selbst, hat er sich deshalb immer wieder mit dem Corona-Thema beschäftigt – und tut es immer noch. Als Journalist stehen ihm etliche Medien offen, aber das Medium, in dem er unmittelbar Stellung beziehen kann und nicht zensiert wird, ist Facebook. Seinem Account zu folgen, erweitert auf jeden Fall die eigene Perspektive und konterkariert unseren sehr eurozentrischen Standpunkt. (Ebenfalls auf Facebook und aus anderen Gründen sehr lesenswert, sein Nachruf auf die jetzt im April verstorbene Mutter Ursula Schmidt, an deren Bestattung er – erneut wegen Corona – nicht teilnehmen konnte.)

Aus diesen ersten Corona-Postings auf Facebook entstand ein feines kleines Buch, das zwar „Corona Updates Beijing“ hieß, aber auch einen langen Text zur Pandemie in Deutschland hat. Wobei: so klein ist dieses Buch wahrlich nicht, es hat A 4-Format, es ist leinengebunden und erstklassig buchbinderisch verarbeitet, hat edles, schmeichelndes Papier, einen großzügigen Satzspiegel und eine klitzekleine Auflage. Welche eine erstaunliche Metamorphose: Aus den Facebook-Posts ist eine bibliophile Kostbarkeit des feinen Berliner Hybriden-Verlags geworden, nummeriert und signiert, mit Foto-Leporello und eingebundener Originalzeichnung von Hartmut Andryczuk.

Und das Ganze hat nun eine Fortsetzung gefunden, wieder als bibliophile Kostbarkeit: „Quarantäne Updates Shanghai“. Christian Y. Schmidt nennt es im Untertitel „Ein Feldforschungsbericht“. Dazu gehört auch eine DVD mit von Christian Y. Schmidt gedrehten Videos, manche erinnern an Stanly Kubricks Hotel-Schauerfilm „Shining“.

Wir dürfen Ihnen hier einen Auszug präsentieren:

Es gibt in Deutschland kaum genaues Wissen darüber, wie die Rückkehr aus dem Ausland in der Pandemie läuft. Aus diesem Grund habe ich meine Rückkehr nach Peking, die insgesamt fast zwei Jahre dauerte, als einen Feldforschungsbericht verfasst. Ich verbinde mit dieser Darstellung die Hoffnung, dass man aus ihr etwas für die nächste Pandemie auch im Westen lernen wird, denn die kommt so sicher wie das Amen in der Kirche. Viele Maßnahmen, die ich am eigenen Leib erfahren habe, lassen sich durchaus übernehmen, ohne dass man die demokratische Verfasstheit des eigenen Staates aufgeben muss.

Nur nach Hause geht es nicht

Am 12. Februar 2020 verließ ich unsere Wohnung in Peking und flog mit dem bis heute letzten Direktflug überhaupt nach Berlin. Der Flug war von mir vor der Corona-Pandemie gebucht worden. Ich wollte in Deutschland mein neues Buch vorstellen, und am 1. April wieder nach Peking zurückkehren. Natürlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass in der Zwischenzeit eine Pandemie ausbrechen würde, doch als sie dann da war, ging ich davon aus, dass die chinesischen Behörden sie recht bald wieder unter Kontrolle bringen würden. Nie im Leben hatte ich gedacht, dass es fast zwei Jahre dauern würde, bis ich zu meiner Frau Yingxin zurückkehren könnte.

Ich hatte nicht mit dem Versagen nahezu der gesamten westlichen Welt bei der Seuchenbekämpfung gerechnet. Dieses Scheitern bei der Bekämpfung des Virus hatte zur Folge, dass die Infektionszahlen außerhalb Chinas sehr bald explodierten, so dass die chinesische Regierung als Reaktion darauf am 28. März 2020 das Land nahezu komplett für ausländische Staatsbürger schloss. Ausgenommen waren jetzt nur Diplomaten und unentbehrliche Experten mit speziellen Visa. Ich musste bis zum 20. Juli 2021 warten, bis ich es schaffte, einen Flug am 16. September von Frankfurt am Main nach Chengdu, der Hauptstadt Sichuans, für sagenhafte 1 430 Euro zu buchen. Das ist zwar doppelt so viel, wie ein Hin- und Rückflug in Vorpandemie-Zeiten, aber zu diesem Zeitpunkt war es ein veritables Schnäppchen.

Rund einen Monat lang sah ich meinem Rückflug mit einiger Zuversicht entgegen. Ich verabschiedete mich nach und nach von meinen Berliner Freundinnen und Freunden. Für Ende August verabredete ich einen Abschiedsbesuch bei meinen über neunzigjährigen Eltern in ihrem Altersheim bei Hamburg. Da ich keine Ahnung hatte, wann es wieder möglich sein würde, aus China zurückzukehren, hätte es vielleicht das letzte Mal sein können, sie überhaupt noch einmal zu Gesicht zu bekommen. Doch dann kam schon wieder alles anders. (Anm. d. Red.: Christians Mutter ist jetzt Ende April gestorben. Christians Nachruf, auf Facebook veröffentlicht, hier.)

Es war der Morgen des 19. August, als mich überraschend eine SMS von Air China erreichte: der Flug war abgesagt. Ich wusste, es hatte gerade einen kleinen Corona-Ausbruch in Nanjing gegeben. Aber musste man deswegen den Flug streichen?

…..

Ein Jahr, acht Monate, vier Wochen später

Noch 130 Kilometer, 100, 70, 30, 20 und dann sind wir da. Flug CA934 von Frankfurt ist um 14:04 Uhr Ortszeit in Shanghai-Pudong gelandet. Fast zwei Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet. Jetzt fühlt es sich so an wie zig Landungen zuvor im Leben.

Es ist Sonntag, der 7. November 2021, 14:04 Uhr, auf dem Flughafen Shanghai- Pudong. Der erste Checkpoint: Ein Tisch vom chinesischen Zoll, der offensichtlich mit dem Gesundheitsmonitoring internationaler Flüge beauftragt ist. Verstehe jetzt, warum ich den zusätzliche Health Declaration Code vom Zoll schon in Frankfurt herunterladen musste, den ich für ein bisschen redundant hielt. Am Checkpoint stehen und sitzen einige Männer, selbstverständlich in Hazmat-Anzügen. In diesem Moment wird mir klar, dass ich in den nächsten zwei Wochen keinen normal gekleideten Menschen mehr zu Gesicht bekommen werde, jedenfalls in meiner unmittelbaren Nähe. Momentane Ausnahme noch: Meine Mitpassagiere, soweit sie sich nicht selbst verpackt haben.

Ich muss an einem Aufsteller einen QR-Code scannen, um einen frischen Health Declaration Code vom Zoll aufs Handy zu bekommen, denn der aus Frankfurt ist ja bereits abgelaufen. Allerdings funktioniert mein großartiges Aldi-Talk-Auslandspackage nicht – vielleicht bin ich auch zu doof, es zu aktivieren -, so dass ich den Code zunächst einmal wieder nicht herunterladen kann. Kein Problem für die Zoll-Hazmatis: Ich darf mich in das Zoll-WLAN einloggen. Ein Zöllner gibt das Passwort ein. Ich hoffe, ich verrate kein Staatsgeheimnis, wenn ich schreibe, dass es acht Mal 1 lautet. Dieses WLAN-Passwort hat man übrigens öfter in China, genauso wie 8 mal die 8 – bringt Glück, aber wahrscheinlich nur dem Hacker – oder eben die klassische Zahlenreihe 1,2,3,4,5,6,7,8. Hätte ich auch von alleine drauf kommen können.

Die dem Buch beiliegende DVD – Shining-Atmosphäre

Im Setting von »Squid Game«

Der Treppe folgt ein weiterer labyrinthischer Gang, der schließlich aus dem Abfertigungsgebäude heraus zu einer aus Containern errichteten, langgezogenen Baracke führt, die dicht an den Terminal herangestellt wurde. Das ganze Setting erinnert etwas an die koreanische Serie »Squid Game«. Durch die Fenster sehe ich, dass drinnen rund fünfzig Abstrichschalter eingerichtet sind. Vielleicht dreißig davon sind geöffnet. Jetzt wird also getestet. Ein Hazmati bedeutet mir, mich vor dem äußerst linken Schalter – wo sonst? – aufzubauen. Natürlich tragen alle Hazmatis auf dem Flughafen Latex-Einweghandschuhe. Trotzdem wird laufend jede denkbare Fläche desinfiziert, und zwar in einem Maße, wie ich es in Deutschland noch nicht gesehen habe.

Am Sonntag, den 7. November 2021, kurz vor 18 Uhr stehe ich am provisorischen Rezeptionstisch eines »Holiday Inn Express« irgendwo in den Suburbs von Shanghai. Links von mir ein Absperrband, dahinter Stapel grellgelber Mülltonnen, ungefähr 2,50 Meter hoch. In diesen Tonnen wird offenbar der Giftmüll entsorgt, den wir Ankömmlinge aus Seuchendeutschland während unseres Aufenthaltes produzieren werden. Rechts von mir niedrige Absperrgitter, die mich und die anderen Wartenden von dem Rasen trennen, der den Hotelhof bedeckt. Das Hotel selbst besteht aus mehreren vierstöckigen Kästen, die – das kenne ich aus Südchina und Südostasien – auf Betonstelzen stehen, so dass das Erdgeschoss im Freien liegt, aber überdacht ist.

Ein gelbbeige gestrichener Gang ohne einen Hauch von Dekoration. Squid Game all over again. Ein Wegweiser zu den Zimmern 5030 – 5045. Eine Halle, die nach Chlor stinkt. 5040, 5041, 5039. Wo ist denn jetzt 5038? Ah, hinter dem Wandvorsprung, etwas versteckt. Ein blaues Schild mit der Nummer, darunter ein kleines, sechseckiges Tischchen. Ich lege meine Papiere drauf, mache ein paar Fotos und fitzele meine Zimmerkarte aus dem Umschlag.

Zehn Meter im Zimmer

Die Tür geht auf und ich stecke die Karte in den dafür vorgesehen Schlitz, um das Licht anzumachen. Das Pärchen verschwindet in den beiden Zimmer rechts neben mir. Sie dürfen die nächsten vierzehn Tage nicht zusammen sein, aber wenigstens haben sie zwei Zimmer nebeneinander. Ich greife mir meine Papiere und überschreite dann die Schwelle.

Als allererstes unterziehe ich das Zimmer einem Schnellcheck. Es ist etwa vier Meter breit, und der Abstand von der Tür bis zur Fensterfront beträgt rund zehn Meter. Nicht schlecht, da kann man einigermaßen anständig hin- und herlaufen. Die Fensterfront ist genauso breit wie das Zimmer; da habe ich also was zu gucken. Allerdings sehe ich im Moment nur zwei windgepeitschte Weiden im Laternenlicht und etwas Kanalwasser nahe am Hotel, und in weiter Ferne eine Hochhauswand, auf deren Spitzen rote Lichter blinken sowie ein einzelnes Hochhaus mit der in China so beliebten animierten LED-Fassade. Gerade wird ein Feuerwerk darauf abgebrannt; auch das ein beliebter Standard. Sonst ist wegen Stockfinsternis nichts weiter zu erkennen. Das ist aber egal. Hauptsache, der Blick kann schweifen, und endet nicht an einer Mauer.

Um 18:50 Uhr klopft es an der Tür. Als ich öffne, steht ein Plastikteller auf dem sechseckigem Tischchen, daneben ein Becher Jogurt und eine Mandarine. Ich hole alles ins Zimmer, nehme den Deckel vom Plastikteller ab und entdecke, dass er etwa zwanzig Jiaozi – mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen – enthält, sowie dunklen chinesischen Essig zum Eintunken. Ein schöne Begrüßung. Die Jiaozi kommen gerade Recht, denn ich habe inzwischen wirklich großen Hunger.

Trotz des geschlossenen Fensters bleibt das Zimmer kalt. Dafür funktioniert das WLAN jetzt. Gerade rechtzeitig, denn um 19 Uhr soll das sonntägliche VooV- Meeting mit meiner chinesischen Familie beginnen. VooV, eine APP des chinesischen Internetkonzerns Tencent, ist das chinesische Pendant zu Zoom. Schon von Berlin aus habe ich wöchentlich an diesen virtuellen Familien-Treffen teilgenommen. Auf diese Weise hielt ich den Kontakt zu meiner Frau und meinen Schwiegereltern aufrecht. Außerdem nehmen an diesen Treffen auch meine Schwägerin und mein Schwager im südchinesischen Guangzhou teil, sowie deren Kinder und meine beiden Neffen in Berlin. Lustigerweise habe ich ausgerechnet hier in Shanghai Probleme mich einzuloggen. Am Ende klappt es aber irgendwie doch. Das ist überhaupt ein sehr chinesischer Satz. Viele Dinge, die zunächst unmöglich scheinen, regeln sich in China am Ende irgendwie. Man muss nur manchmal sehr lange warten wie man auch an meiner Rückkehr sieht.

Christian Y. Schmidt, 1956 geboren, war von 1989 bis 1996 Redakteur der «Titanic». Seitdem arbeitet er als freier Autor, u. a. für FAZ, SZ, taz, Stern, konkret, NZZ, Zeit sowie für verschiedene Fernsehredaktionen. Er ist Senior Consultant der Zentralen Intelligenz Agentur und war Gesellschafter und Redakteur des Weblogs «Riesenmaschine». 2003 zog er nach Singapur, 2005 nach China. Er lebt heute in Berlin und Peking, hat etliche Bücher veröffentlicht, so etwa Bliefe nach dlüben. Der China-Crashkurs oder Allein unter 1,3 Milliarden. Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu. 2018 erschien sein erster, vielbeachteter Roman: Der letzte Hülsenbeck. CulturMag mit zwei Stimmen dazu hier. Im März 2020 erschien Der kleine Herr Tod. Dazu bei uns Georg Seeßlen, weitere Texte hier.
Sein Jahresrückblick 2021 bei uns hier.
Eine Besprechung von Christian Y. Schmidt: Coronavirus Updates Beijing Edition bei uns hier.

Siehe auch:
Christian Y. Schmidt: Coronavirus Updates Beijing Edition. Zweisprachig (deutsch/englisch). Text und Foto-Leporello von Christian Y. Schmidt sowie ein Aerosol (Originalzeichnung von Hartmut Andryczuk). Hybriden-Verlag, Berlin 2020. Auflage: 100 Exemplare, nummeriert und signiert, 100 Euro. Vorzugsausgabe in 30 Exemplaren: 650 Euro. – Internetseite des Verlages hier.

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