Geschrieben am 1. Oktober 2020 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2020

Bodo V. Hechelhammer: Interview mit Oliver Hilmes

Ein kalter Fall

Oliver Hilmes, Jahrgang 1971, ist promovierter Historiker. Seit 18 Jahren arbeitet er aber für die Berliner Stiftung Philharmoniker als Kulturschaffender und ist als Chefredakteur verantwortlich für deren Magazin 128. Bekannt ist Hilmes aber vor allem durch seine erfolgreichen Biografien, etwa über Alma-Mahler Werfel, Cosmia Wagner oder über Ludwig II. Seine Sachbücher schaffen es regelmäßig auf die Bestsellerliste des Spiegels; so auch sein aktuelles Werk.

Mit seinem neuesten Buch, »Das Verschwinden des Dr. Mühe. Eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre«, betritt der etablierte Autor Oliver Hilmes aber in gewisser Weise Neuland. Neuland, da es sich diesmal nicht um eine Biografie, nicht um ein klassisches Sachbuch handelt, sondern um einen Kriminalroman, wenn auch dieser einen historischen Fall behandelt.

„Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Zahlreiche Ereignisse konnten anhand historischer Dokumente rekonstruiert werden, anderes wurde aus dramaturgischen Gründen erdacht.“ (Hilmes)

Oliver Hilmes: Das Verschwinden des Dr. Mühe. Eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre, Penguin, München 2020, 240 Seite, 20 Euro.

Hilmes beschreibt einen so genannten »Cold Case«, also ein ungeklärtes Verbrechen, aus dem Berlin der 30er Jahre. Ein tüchtiger Hausarzt verschwindet spurlos und der mit dem Fall betraute Kriminalbeamte beginnt mit den Ermittlungen. Je mehr Zeugen aber vernommen werden, je mehr Personen sich verdächtig machen, je mehr Hintergründe und Details ans Tageslicht geholt werden, umso mehr verrinnen die Spuren im Strom der Zeit. Im Wald sieht man nur Bäume. Der Leser verfolgt chronologisch die Spuren über Tage, Monate und dann über Jahre, nimmt an den Ermittlungen und Verhören teil, erlebt den jeweiligen Wissensstand des Kriminalbeamten und durchlebt aus der Perspektive des Ermittlers die Irrungen und Wendungen des Falls. Seite für Seite setzt sich Stück für Stück eines mysteriösen Puzzles weiter zusammen, aber je mehr Teile zusammengeführt werden, umso weniger ist ein klares Bild zu erkennen. Das fühlt sich sehr authentisch an. Man spürt es auf jeder Seite und das ist spannend. Gerade das plötzliche Ende der Geschichte kann dem einen oder anderen Leser aber vielleicht einen Schlag versetzen oder ihn zumindest ein wenig orientierungslos zurücklassen. Die letzte Seite schließt zwar die Akte, doch der Leser muss sich jetzt seine eigenen Gedanken machen und damit nimmt die Geschichte ihren eigenen Lauf.

Oliver Hilmes ist auf diese schöne Idee zum Roman durch einen Zufallstreffer im Landesarchiv Berlin gekommen; durch die Recherchen für sein Sachbuch »Berlin 1936. Sechzehn Tage im August«, erschienen 2016. In den dort vorgefundenen Fallakten alter Kriminalfälle stieß er auf das mysteriöse und letztendlich ungelöste Verschwinden des Berliner Arztes Doktor Erich Mühe. So ist es kein Zufall, dass das gesamte Buch in seiner Struktur von der ersten Seite an auch mehr an die Niederschrift einer Ermittlungsakte erinnert, in der die einzelnen Zeugenaussagen das jeweilige Kapitel bestimmen. 

„DR. MED. ERICH MÜHE,
PRAKTISCHER ARZT IN BERLIN-KREUZBERG
MONTAG, 13. JUNI 1932“ – und dann folgt das Buchkapitel.

Hilmes hat sich hierbei strikt an die Struktur und Vorgaben der Originalakte gehalten, die aus sich heraus, weil eben authentisch, bereits ein besonderes Sittenbild der Berliner Gesellschaft der 30er Jahre zeichnet. Ergänzt wurden die Dialoge und die zahlreichen Details zu den handelnden Personen und beschriebenen Orten. Hierbei wurde mit großer Sorgfalt recherchiert. Es sind gerade diese detaillierten und lebendigen Beschreibungen des alten Berlins und das Wissen, dass es sich hierbei um einen echten Fall handelt, was den besonderen Reiz an dieser Kriminalgeschichte ausmacht. Man taucht selbst in das damalige Berlin ein, wenngleich nicht mit den historischen Kriminalromanen von Volker Kutscher vergleichbar. Man sollte als Leser also kein neues »Babylon Berlin« erwarten. Die historischen Vorgaben der Protagonisten sind aber gleichzeitig auch eine Erklärung dafür, dass sich gerade die Charaktere nicht wirklich entfalten können. Leider erwärmt keine Figur das Leserherz. Aber, »Das Verschwinden des Dr. Mühe« zwingt einem zum Nachdenken, gerade nachdem die letzten Seiten zugeschlagen wurde. Das Buch von Oliver Hilmes ist ein spannend erzählter »Cold Case«, der einen nicht kalt zurücklässt.

Oliver Hilmes © Maximilian Lauterschläger

„Authentizität ist wichtig“ – Ein Interview mit Oliver Hilmes

Mit »Das Verschwinden des Dr. Mühe« hat Oliver Hilmes seinen ersten Kriminalroman vorgelegt. Bodo V. Hechelhammer hat sich für CulturMag mit ihm im Berliner Café Einstein, Unter den Linden, getroffen und über die bisherigen Biografien und das aktuelle Buch gesprochen. 

Hechelhammer: Sie sind von Hause aus Historiker, haben in Potsdam 2002 promoviert, aber sogleich angefangen für die Stiftung Philharmoniker zu arbeiten. Bis heute. Eine universitäre Karriere hatte keinen Reiz für Sie oder wie kam es zur Lebensentscheidung Philharmoniker?

Hilmes: Ich wollte eine Doktorarbeit schreiben, weil ich mich mit einem Thema wissenschaftlich auseinandersetzen wollte, darüber hinaus habe ich aber keine universitäre Karriere angestrebt. Ich wollte nie als klassischer Historiker arbeiten. Um in der Wissenschaft am Ball zu bleiben, muss man Kongresse besuchen und immer die aktuelle Fachliteratur lesen. Allerdings war ich schon immer musikaffin und bin auch heute ein großer Musikliebhaber. Just in der Zeit, als ich mit meiner Doktorarbeit fertig wurde, habe ich in der Zeitung gelesen, dass bei den Berliner Philharmonikern ein Intendantenwechsel bevorstand. Franz Xaver Ohnesorg sollte aus New York nach Berlin kommen. Mein Entschluss stand fest, dass ich an dieser neuen Ära irgendwie teilhaben wollte. Daraufhin habe ich mich »blind« beworben – und so hat meine Tätigkeit für die Berliner Philharmoniker begonnen. 

Frage: Wenn Sie Ihre Bücher schreiben, folgen Sie dabei einem strengen Zeitplan, der akribisch eingehalten wird oder müssen Sie erst in der richtigen Stimmung sein? Sind Sie also mehr ein impulsiver Kreativer oder mehr ein disziplinierter Stratege?  Was ist Ihr persönliches Erfolgsrezept?

Hilmes: Fleiß gehört immer dazu, genauer gesagt: Sitzfleisch. Man darf sich vor allem nicht von jeder Stimmung gleich beeinträchtigen lassen. Wenn ich ein Buch schreibe, dann muss dies auch jeden Tag geschehen. Ich versuche jeden Tag immer weiter zu kommen und Weiterkommen heißt: Recherchieren, sich klar werden, was man sagen will und es aufzuschreiben. Das sind zwei Seiten einer Medaille. Wenn ich das Gefühl habe, ich kann gerade nicht schreiben, dann muss ich genau überlegen, was ich eigentlich sagen will. Wenn man sich darüber im Klaren ist, dann kann man es in der Regel auch aufschreiben.

Frage: Nach Ihren ersten beiden Publikationen erschienen immer wieder Biografien, etwa Witwe im Wahn (2004), Herrin des Hügels (2007) oder Ludwig II (2013). Was reizt Sie an der Beschreibung eines anderen Lebens, in eine andere Biografie einzutauchen und diese zu deuten? Warum widmen Sie sich immer wieder Lebensdarstellungen

Hilmes: Geschichte wird von Menschen gemacht. Und das, was diese geschaffen und gestaltet haben, hängt immer auch mit deren Persönlichkeiten zusammen. Das ist zwar eine Binsenweisheit, die jedoch in der deutschen Geschichtswissenschaft lange Jahre ohne Bedeutung war. Wenn wir beispielsweise das Buch von Hans-Ulrich Wehler »Das deutsche Kaiserreich 1871 – 1918« von 1973 nehmen, erhält man beim Lesen das Gefühl, der Kaiser hätte nie gelebt. Die Person des Kaisers tritt weit zurück. So hat man etwa in der englischen Geschichtswissenschaft nie gedacht, wo es immer eine starke biografische Tradition gab. Und dieser Tradition fühle ich mich verpflichtet. Wenn man sich beispielsweise wie ich in meiner Doktorarbeit mit dem Komponisten Gustav Mahler beschäftigt, muss man der Person nachspüren und verstehen, wie dieser Mensch gelebt hat. Und wenn man das bayerische Königshaus versehen will, muss man sich eben auch mit der Person Ludwigs II. beschäftigen und ist damit automatische bei seiner Biografie angelangt. 

Wie kommen Sie dabei zu Ihren Geschichten, etwa durch eine Art von Marktanalyse, oder kommen finden diese vielleicht Sie?

Das Wichtigste ist: das Thema muss mich persönlich interessieren. Aber natürlich macht man sich auch darüber Gedanken, ob es etwa bereits zu einer Person eine aktuelle und überzeugende Biografie gibt. Dann muss ich diese nicht nochmals angehen. Wenn ich ein Buch schreibe, dann will ich auch etwas Neues erzählen. Also muss auch die Quellenlage dazu stimmen. Es gibt auch Privatgelehrte, die zu Hause in ihrer Bibliothek sitzen und dort ein biographisches Buch schreiben, ohne jemals ein Archiv zu betreten. Das ist nicht mein Stil. Ich will etwas Neues mitteilen und dazu muss man prüfen: wie ist die Dokumentenlage, gibt es beispielsweise Nachlässe und erhält man Zugang dazu. Am Ende fällt die Entscheidung, ob es sich lohnt oder ob man es besser sein lässt.

Kommen wir zu Ihrem neuen Buch. Wie sind Sie auf die Idee zu »Das Verschwinden des Dr. Mühe« gekommen?

Während meiner Recherchen für »Berlin 1936. Sechzehn Tage im August« bin ich auch auf den Bestand der polizei-historischen Sammlung im Landesarchiv Berlin gestoßen. Das sind viele tausend Seiten. Aus den Verzeichnissen habe ich mir die interessantesten Akten bestellt und habe diese zunächst überflogen. Dabei bin ich zufällig auf den Fall des Dr. Mühe gestoßen, der eigentlich zeitlich viel früher ansetzt als 1936. Aber durch Fügung bin ich länger mit meinen Blicken hängengeblieben und habe etwas in der Akte geblättert und schnell begriffen: das ist eine krasse Geschichte. Ein Arzt, der über Nacht spurlos verschwindet und nie wieder auftaucht. Ich habe weitergelesen. Da war für mich klar, obwohl die Geschichte zeitlich nicht zu meinem damaligen Buch passte: irgendwann in meinem Leben werde ich daraus etwas machen. Das ist jetzt geschehen. 

Wie lange haben Sie für das neue Buch recherchiert, welches vor allem für die Detailbeschreibungen des Berlins in den 30er Jahren in den Kritiken gelobt wird?

Das kann ich genau nicht beziffern, aber Recherchen sind häufig mühsam. Ich habe den Anspruch, wenn ich beispielsweise eine Situation im Restaurant Aschinger beschreibe, will ich mir natürlich nicht die Gerichte ausdenken müssen. Ich will genau das dem Leser präsentieren, was es im Frühjahr 1932 dort zu essen gab. Glücklicherweise habe ich im Deutschen Historischen Museum eine Speisekarte von Aschinger von 1932 gefunden. Wenn ich also diese kleine verspielte Szene zwischen dem Oberkellner und dem Doktor Mühe im Restaurant Aschinger beschreibe, in der es um den Unterschied zwischen dem Sahnegulasch und dem Sahnegulasch Spezial geht, referiere ich die damalige Speisekarte. Oder wenn am Ende der Geschichte die Schwester des Doktors nach Berlin kommt und diese ominöse Pension Europa aufsucht, hat es die in der Tat gegeben. Und die Inhaberin, die ich beschreibe, hieß tatsächlich so. Ein letztes Beispiel: dass es im kriegszerstörten Berlin 1946 auf der Fasanenstraße bereits wieder einen Hundefriseur gab, ist penibel recherchiert. Genau das bringt Authentizität. Und Authentizität ist wichtig, denn diese spürt man zwischen den Zeilen. Ich möchte, dass die Leserinnen und Leser tatsächlich das Gefühl haben, gewissermaßen live dabei zu sein. 

Was ist für Sie persönlich das Besondere am neuen Buch?

Was mich an diesem Fall so fasziniert, ist das ständige Wechseln der Richtung: Glaubt man für einen Moment eine Erklärung für das Verschwinden des Arztes zu haben, nimmt die Geschichte in der nächsten Sekunde eine ganz neue Wendung. Es ist ein raffiniertes Vexierspiel, in dessen Verlauf immer neue Spuren und Fährten gelegt werden. Nichts ist so, wie man zunächst glaubt. »Das Verschwinden des Dr. Mühe« erzählt eine faszinierende Kriminalgeschichte aus der Spätzeit der Weimarer Republik. Das Buch ist aber auch ein Epos über Schuld und Verbrechen und darüber, wozu Menschen fähig sind. 

Der Ausgang der Geschichte bleibt offen. Hat es sie nicht gereizt, den Fall nachträglich aufzuklären?

Ich habe es natürlich versucht, aber es ging nicht. Es gibt zum Fall keine weiteren Quellen, die in irgendeiner Weise erklären könnten, was aus dem Doktor geworden ist. Ich habe daher gedacht: ich mache aus der Not eine Tugend und baue einen spannenden Cliffhanger. Es ist doch auch einmal schön, nicht genau zu wissen, was wirklich geschah. Der Leser wird zum Mitdenken angeregt und entwickelt seine eigenen Theorien, was passiert sein könnte. Das ist schön.

Das aktuelle Buch ist eine Kriminalgeschichte. Interessiert sie das Genre auch privat, lesen Sie selbst Krimis oder Thriller und wenn ja, haben Sie Lieblingsautoren?

Nein, eigentlich nicht. Natürlich habe ich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Krimis gelesen, beispielsweise Tannöd von Andrea Maria Schenkel. Das Konstruktionsprinzip des Buches fand ich sehr spannend. Ich habe einfach ein Faible für spannende Geschichten. Diese Leidenschaft findet sich auch in meinen Biografien wieder. Mich interessieren einfach die Abgründe der Menschen und damit ihre abgründigen Geschichten.

Das Interview wurde am 16. September 2020 vis a vis geführt.

Bodo V. Hechelhammers Buch „Spion ohne Grenzen. Heinz Felfe – Agent in sieben Geheimdiensten“ von Alf Mayer hier besprochen. Seine Texte bei uns hier. Zuletzt ein großes Interview mit Oliver Kalkofe: SchleFaZ bedeutet Liebe.

Tags : ,