Geschrieben am 15. November 2018 von für Crimemag, CrimeMag November 2018

Bloody Chops – Bücher kurz serviert – November 2018

bloody chops

Bücher, kurz serviert

Kurzbesprechungen von fiction und non fiction. Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM), Frank Rumpel (rum) und Thomas Wörtche (TW) über: 
Edoardo Albinati: Die katholische Schule
Christiane Bogenstahl/Reinhard Junge: Seelenamt
Max Bronski: Schneekönig
Olaf R. Dahlmann: Fillingers Erbe
Max de Radiguès: Bastard
Katrine Engberg: Krokodilwächter
Frank Festa (Hrsg.): Lovecrafts Dunkle Idole
Stephen Hunter: Dirty White Boys
Lutz Wilhelm Kellerhoff: Die Tote im Wannsee
Timo Leibig: Nanos
Jörg Maurer: Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt
Patricia Melo:  Der Nachbar
Thomas Mullen: Darktown
Carol O’Connell: Blind Sight
Christoph Peters: Das Jahr der Katze
Fred Vargas: Der Zorn der Einsiedlerin
Gary Victor: Dreizehn Voodoo-Erzählungen
Peter Vogl: Das große Buch des kleinen Horrors
Hartmut Wächtler: Widerspruch
Gabriella Ullberg Westin: Der Schmetterling
Gerd Zahner: Goster

stephen hunter dirty 9783865526793Schön schmutziges Vergnügen

(AM) Im McAlester-Staatsgefängnis hatten nur drei Männer einen noch größeren Schwanz als Lamar Pye, aber diese drei waren schwarz und daher nach Lamars Maßstäben kaum menschliche Wesen. Sein Schwanz war der größte, den man je an einem Weißen gesehen hatte – in diesem Gefängnis und all den anderen, in denen Lamar den größten Teil seines Erwachsenenlebens verbracht hatte. Sein Schwanz war ein Monster, eine Schlange, ein seilartiges, geädertes Ding …“
1994 stieg so Stephen Hunter, damals noch Filmkritiker der Baltimore Sun, in seinen sechsten Roman ein. Dirty White Boys, volle Sahne. Auf Seite 38 ist Lamar Pye ausgebrochen, zusammen mit seinem riesenhaften, aber schwachsinnigen Cousin Odell und dem elend feigen, aber künstlerisch angehauchten Richard, der es nicht gut aufnahm, als seine Mutter sich über seine Erfolglosigkeit belustigte. Jetzt sind sie draußen, bis an die Zähne bewaffnet, wütend und rachelüstern, und ziehen – ach, ist das nicht ein Schmaus für Klappentexter – eine Schneise der Gewalt durch den amerikanischen Südwesten. Ihnen auf den Fersen: Sergeant Bud Pewtie von der Oklahoma Highway Patrol, auch kein Kostverächter, wenn es ans Aufräumen geht. Vor ein paar Jahren wurde Pewtie von Lamar fast getötet. Jetzt bewegen sich ihre Lokomotiven wieder auf einander zu, der Zusammenprall ist unvermeidlich.

Stephen Hunter macht aus dieser Rezeptur ein unglaublich süffiges, spannendes und gutes, ja sogar schönes Buch. Politisch inkorrekt, dass sich die Balken biegen. Nebenbei werden, durchaus witzig und auf den Kopf gestellt, die amerikanischen „family values“ verhandelt. „Kirkus Reviews“ übrigens sahen 1994 Lamar aus der gleichen Wildnis treten, aus der Nietzsche seinen Zarathustra kommen ließ. Eine frühere Übersetzung ist als „Die Gejagten“ noch in manchen Antiquariaten zu finden. Der Festa-Verlag setzt mit einer Neuübersetzung seine Stephen Hunter-Werkausgabe fort. Iris Bachmeier hat einen guten Job gemacht. Zumindest also eine Frau, die Stephen Hunter liest – und versteht.

Stephen Hunter: Dirty White Boys (Dirty White Boys, 1994). Aus dem Amerikanischen von Iris Bachmeier. Festa Verlag, Leipzig 2018. 584 Seiten, 14,99 Euro.

586_Junge_Seelenamt_rgbZiegelsteinartiger Schmöker

(JF) Das Monster ist zurück. Paul Kehlmann, ehemals Professor für Informatik, hat seine Haftstrafe wegen Vergewaltigung abgesessen und sinnt auf Rache. Etliche Kilo leichter und mit wallendem Haupthaar sieht er zwar besser aus als früher, doch ein brandgefährlicher Psychopath ist er noch immer. Und hochintelligent obendrein. In einem Zellenkumpel findet er den richtigen Mann für seine diabolischen Pläne – und schon sind wir wieder in der digitalen Welt mit ihren unerschöpflichen Möglichkeiten, Menschen das Leben zur Hölle zu machen.

Seelenamt, das zweite Gemeinschaftswerk von Christinane Bogenstahl und Reinhard Junge, setzt die beliebte Reihe um das Dortmunder Ermittlerteam Pegasus schwungvoll fort. Die Symbiose von Familienaufstellung und Psychothriller funktioniert sehr ordentlich. Gelegentlich macht sich sogar der alte didaktische Impetus der Serie bemerkbar. Man kann tatsächlich etwas lernen. Die knapp 400 Seiten voller atmosphärischer Details allerdings, mit denen der Roman aufwartet, hätte es dafür nicht unbedingt gebraucht. (Textprobe: „Auf dem Rückweg erreichte sie ihre Lieblingsbäckerei und kaufte sich dort ein Schokocroissant.“) Aber das ist wohl Geschmacksache, immerhin liegen ziegelsteinartige Schmöker seit Jahren im Trend.

Christiane Bogenstahl/Reinhard Junge: Seelenamt. Kriminalroman. Grafit, Dortmund 2018. 409 Seiten, 13 Euro.

9783608503876Kein Trost nirgends

(TW) Ärger mit den Nachbarn? Die einem auf dem Kopf herumtrampeln, lärmen, poltern und allzu laut kopulativ jauchzen … Dann sollte man vielleicht doch nicht einfach hingehen und töten, auch wenn´s nur allzu verständlich ist. Aber genau das tut, wenn auch eher aus Versehen, Patrícia Melos Hauptfigur in ihrem neuen Roman Der Nachbar (Tropen). Und schon gar nicht hätte der vom Leben und seinem Job frustrierte Biologielehrer sein Opfer dann in der Badewanne zerteilen und in Häppchen verpackt, in dessen Wohnung verstecken sollen. Das gibt richtigen Ärger, führt letztendlich zu Knast und Wahnsinn. Knapp 160 Seiten braucht Patrícia Melo, um aus einem makabren Alltagsereignis eine Rundumwatsche für ihre, also die brasilianische Gesellschaft zu machen, wobei auch die nur exemplarisch ist. Ihr Anti-Held ist überfordert, von seinen eigenen, selbstherrlichen Vorstellungen, von dem täglichen Stress der Lebenswelt, von selbstbewussten Frauen, von anderen Lebensentwürfen, vom Schulsystem, von Lärm und Hektik, von elektronischen Pieptönen, der Übermacht der Bakterien und anderen unschönen „Wirklichkeitsfetzen“. Kein Trost nirgends, schon gar nicht in der Literatur. Doch halt, da ist noch Rúbia, eine der Frauen, die sich in Mörder verlieben – aber deswegen, ein typisch Melo´scher Sarkasmus, weil „ein Großteil der männlichen Bevölkerung des Landes im Gefängnis sitzt“. Jair Bolsonaro wird zu diesem Trend durchaus beitragen, dürfen wir vermuten. Die Frauen müssen „lernen, uns zu lieben“, wie ein Co-Gefangener unseres Helden feststellt. „Sich in ehrenwerte Männer zu verlieben, wird nur noch etwas für perverse Frauen sein.“  Der Nachbar ist ein sehr komisches, sehr maliziöses und intrikates Buch, Erzählökonomie pur.

Patricia Melo:  Der Nachbar (Gog Magog, 2017). Übersetzung von Barbara Mesquita. Tropen Verlag, Stuttgart 2018. 159 Seiten, 18 Euro.

albinati-10003171Die Welt in einem Buch

(AM) Natürlich macht man um Bücher solchen Kalibers lieber einen Bogen. Ein Kriminalroman mit dem Titel Die katholische Schule, 1298 Seiten Umfang, was mag da auf einen zukommen? Der Roman von Edoardo Albinati, in Italien mit dem Premio Strega ausgezeichnet, ist nicht nur ein Anschlag auf die Lebens- und Lesezeit, es ist eines jener Bücher, die man nie mehr aus dem Kopf bekommen wird. Zehn Jahre hat der Drehbuchautor Albinati, Jahrgang 1956, der im römischen Rebibbia-Gefängnis Schreibkurse gibt, an seinem Buch gearbeitet. Man darf es in Anspruch und Spektrum getrost mit Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ vergleichen – nur dass die Hauptfigur hier ein Heranwachsender ist. Schüler der katholischen Privatschule San Leone Magno in Rom, aus deren Umfeld die Täter des „Massakers von Circeo“ kamen (das auch Pasolini beschäftigte), bei dem 1975 zwei junge Frauen entführt, vergewaltigt, gefoltert wurden und nur eine überlebte.

Schärfer noch als Musil, der den Mordprozess um den Lustmörder Moosbrugger zum Anlass nahm, über die Moral und Verfassung unserer Zivilisation zu philosophieren (Peter Münder dazu in zwei Teilen bei CrimeMag), steigt Albinati in das Gefüge unserer Gesellschaft, seziert Schule, Familie, Sexualität, Adoleszenz, Kirche, Katholizismus und Politik. „Die wichtigsten menschlichen Ressourcen werden darauf verschwendet, in einer Rolle ernst genommen zu werden“, heißt es einmal. Die Gewalttat selbst, ab Seite 447 mit der Abkürzung VvC markiert (Verbrechen von Circeo), nimmt in der Schilderung nur knappen Raum ein. Was den Übersetzer von Nabokov und Stevenson interessiert, ist die Binnenwelt der Jugendlichen, der er sich in immer wieder neuen Ellipsen, Episoden, Refelxionen. Fallstudien, Rekonstruktionen und Szenen annähert: „Männlich geboren zu werden ist eine unheilbare Krankheit.“

Der Roman basiert auf wahren Begebenheiten, die der Autor zum Teil miterlebt hat, verrät eine Nachbemerkung. Einige Figuren und Episoden seien reine Erfindung, der Fiktionsgehalt anderer unterschiedlich. Er habe „keine Skrupel, Wahres und Mutmaßliches mit falschen Wahrscheinlichkeiten und unwahrscheinlichen Wahrheiten zu mischen, Erinnerung und Fantasie zu kreuzen“. Zwar stütze er sich  auf Vernehmungsberichte, Verhöre, Abhörprotokolle, Interviews und Gerichtsurteile, habe aber „nicht den geringsten Anspruch, eine historische Wahrheit zu rekonstruieren“. Wenn überhaupt, will Albinati, der Drehbücher für Marco Bellocchio und Matteo Garrone schrieb, „eine von Rhetorik befreite Atmosphäre wiederherstellen“, sieht in Kafkas „Prozess“ nicht von ungefähr Logik und Widersinn kulminieren. Am Ende, nach 1292 Seiten, entschuldigt er sich bei seinen Lesern, „die Opfer meiner skrupellosen Unzulänglichkeit geworden sind“. Da ist man dem Buch längst verfallen.

Edoardo Albinati: Die katholische Schule (La scuola cattolica, 2016). Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Berlin Verlag, München 2018. Hardcover, 1296 Seiten, 38 Euro.

Knochenwanderung180514 Dreizehn Voodoo-Erzählungen Umschlag 12 × 19 cm.indd

(AM) In „Ein Ehrenmann“ erwacht ein Toter in seinem Sarg und will vierzig Minuten Aufschub, um noch etwas Wichtiges zu erledigen. Alles nur ein Traum? Aber der Ärmel, an dem der Tote sich das blutige Messer abgewischt hat, ist tatsächlich blutverschmiert. Da holt ein lumpiger Oberschenkelknochen sich seine Opfer in der UN-Mission, da macht sich eine Zunge selbständig, da spukt und wiedergängert es aufs Wildeste. Ein Mörder stampft seine Opfer zu Brei, unaussprechliche Gerichte werden serviert, ein Magier erledigt die schwierigsten Aufgaben.  Und die Polizei lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Oder nicht sehr.

All das ökonomisch knapp erzählt, der Humor höllenschwarz. Gary Victor, 1958 in Port-au-Prince auf Haiti geboren und dort der meistgelesenen Gegenwartsautor, ist eh kein Schwartenschreiber, in seinen Dreizehn Voodoo-Erzählungen zeigt er sich als Meister der kleinen Form. Wie schon die Erzählsammlung „Der Blutchor“ ist auch dies eine willkommene Ergänzung zu den Romanen „Schweinezeiten“, „Soro“ und „Suff und Sühne“.

Gary Victor: Dreizehn Voodoo-Erzählungen (Treize nouvelles vaudou, 2007). Aus dem Französischen von Ingeborg Schmutte und Cornelius Wüllenkemper. Litradukt, Trier 2018. 140 Seiten, 9 Euro.

Der Zorn der Einsiedlerin von Fred Vargas

Gift und Geduld

(rum) Ein Biss der Einsiedlerspinne soll ein paar ältere Herren in Fred Vargas aktuellem Roman Der Zorn der Einsiedlerin dahin gerafft haben. Allein: die Tierchen beißen selten und das Gift einer Spinne würde längst nicht reichen, um einen Menschen zu töten. Vargas eigenwilliger Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg nimmt sich der Sache an, ermittelt gegen den Widerstand einiger Kollegen und kommt schließlich einer kriminellen Bande auf die Spur, die in den 1940er  Jahren in einem Internat erst die Mitschüler terrorisierte und sich dann auf sexuellen Missbrauch verlegte.

Bis dahin freilich braucht es etwas Langmut. Gleich zu Beginn entlarven die Polizisten anhand von Indizien einen Verkehrsunfall als Mord. Ein ziemlich überflüssiges, seltsam isoliert stehendes und sogar für Vargas’sche Verhältnisse rätselhaftes Intro, denn erst danach beginnt die eigentliche Geschichte. Und auch die mäandert dahin, wechselt immer mal wieder unversehens die Richtung. Sinnbildlich steht dafür wohl der irrlichternde Adamsberg selbst, denn bei ihm „so hätte man sagen können, formten sich die Gedanken, noch bevor er an sie dachte“.

Doch auf geradem Weg hat Vargas noch nie erzählt, ihre Romane gleichen Wundertüten, bei denen man nie weiß, was da wie kombiniert heraus purzelt. Das kann schnell mal gewollt wirken, zumal dann, wenn sich die einzelnen Teile am Ende auf Biegen und Brechen ineinanderzufügen haben. Dabei ist ihr das schon öfter gut geglückt und auch hier fallen die einzelnen Teile (sieht man mal von den ersten Kapiteln ab) an ihren Platz, verbinden sich zu einer weitschweifigen, herrlich skurrilen Geschichte über menschliche Abgründe und Eigenheiten. So geht es nicht nur um Einsiedlerspinnen, sondern etwa auch um Einsiedlerinnen, Reklusen, gläubige Frauen, die sich im Mittelalter einmauern ließen und dafür verehrt wurden. Und Vargas erzählt von Männerbünden, von zementierten Machtverhältnissen, von massiver Gewalt gegen Frauen und am Ende von Rache. Das ist dann doch ein sehr konkreter und aktueller Kern, auf den Vargas bisweilen so märchenhaft wirkende Geschichte hinausläuft.

Fred Vargas: Der Zorn der Einsiedlerin (Quand sort la recluse, 2017). Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze. Limes-Verlag, München 2018. 509 Seiten, 23 Euro.

Blind Sight von Carol OConnell

New York als phantasmagorischer Ort

(TW) Seit 1994 ist Carol O’Connells Hauptfigur Kathy Mallory von der Special Crimes Unit des NYPD schon unterwegs und immer noch ist sie Mitte Zwanzig. Immer noch ist sie eisig, exzentrisch, erschreckend intelligent, skrupellos, knallhart, wenig sozialkompatibel und mit einem sehr eigenartigen Humor ausgestattet. Empathie strahlt sie nicht gerade aus, oberflächlich gesehen. Und ausgerechnet Empathie ist das subkutane Thema ihres neuesten Abenteuers: Blind Sight. Carol O’Connells New York City ist, ähnlich wie bei Jerome Charyn, ein phantasmagorischer Ort, in dem alles mit allem zusammenhängt. Der Bürgermeister ist eine hochkriminelle Hedgefond-Heuschrecke, die katholische Kirche hat ihre schmutzigen Finger in so ziemlich allem, die Superreichen wähnen sich außerhalb jeder Gesetze, Polizei und Staatsanwaltschaft sind ein korrupter Haufen. Und so ist die bizarre Tatsache, dass im Garten von Gracie Mansion (der Residenz des Bürgermeisters, Isaac Sidel hat eine zeitlang auch dort gewohnt) vier Leichen ohne Herzen auftauchen, wenig verwunderlich. Die Herzen kommen später, mit der Post. Die New Yorker Medien freuen sich schon auf die nächste Lieferung, Quote pur. Und irgendwie ist auch eine Nonne zu Tode gekommen, die früher mal auf dem Babystrich anschaffen war, und ihr kleiner Neffe, ein blinder Junge, wurde entführt.

Der Plot des Romans ist, im schönsten Wortsinn, labyrinthisch, verästelt, wahnsinnig und grotesk. So wie Mallorys Methoden, ihre Art, Auto zu fahren, jenseits der Legalität zu agieren und ihr skorpiongleicher Umgang mit ihren Mitmenschen – blitzschnell hat sie deren schwachen Stelle erkannt und sticht unbarmherzig zu. Der kleine, blinde Junge, der sich im Laufe des Romans grandiose Dialoge mit seinem Entführer, einem bis zur Halskrause zugedröhnten Auftragskiller, liefert, ist, so hat man den Eindruck, derjenige, der noch am ehesten durchblickt. Was er mit seinen blinden Augen sieht, ist nicht schön: Eine Gesellschaft, die, ohne dass der Namen Trump je fällt, brutal, gleichgültig und widerwärtig geworden ist. Herzlos und ohne jede Art von Empathie. Aber halt: Es gibt Empathie in dem Buch, die aber ist, und das ist ein bitterer Zeitkommentar, nicht mehr von dieser Welt. Carol O´Connell in Hochform.

Carol O’Connell: Blind Sight (Blind Sight, 2016). Aus dem Englischen von Judith Schwaab. Verlag btb, München 2018. 512 Seiten, 10 Euro.

cover_Goster_heller.inddMinima Moralia aus dem Stadtalltag

(TW) Einen hohen Wahsinnsquotient hat auch Gerd Zahners Goster. Auch Goster ist ein, milde gesagt, egozentrischer Polizist aus Berlin, ein Einzelgänger und Quertreiber. Vermutlich Eigenschaften, die man braucht, um mit dem kreischenden Wahnsinn fertig zu werden, der sich in merkwürdigen Todesfällen manifestiert: Locked Room Mysteries, die ihren Ursprung in eigenartigen Sexualpraktiken und deren viraler Verbreitung haben, und Schusswaffen, die ein doch recht autonomes Eigenleben entfalten. Spott und Hohn für alle Leute, die einen „anständig geplotteten“ Kriminalroman verlangen, als ob sowas „realistischer“ sein könnte als die Halluzinationen, die Gerd Zahner so erzählt, als ob sie „realistisch“ seien. Aber um genau diesen „Sachrealismus“ in die Tonne zu treten, stilisiert Zahner seine Prosa.

Deutlich hört man die Echos von Adornos eigenwilliger Satzstellung, die Szenen sind minimalistisch, „Maximen und Reflexionen“ allüberall, aber garantiert ins Schräge gedreht, Minima Moralia aus dem Stadtalltag, das Banale wird überhöht, das Wichtige wird peripher. Und ziemlich komisch ist dieser wunderbare schmale Text auch noch.

Gerd Zahner: Goster. Roman. Transit Verlag, Schwarzenbach und Berlin 2018. Hardcover, 144 Seiten, 16 Euro.

Das-grosse-Buch-des-kleinen-Horrors-6e99aa31Vorsicht: Spaßfaktor hoch

(AM) Den meisten Leuten – von Kritikern gar nicht zu sprechen – wären die 5-Sterne-Filme seines Buches maximal zwei Sterne wert, bekennt Peter Vogl, im Vorwortabschnitt „Freaks wie wir“ von Das große Buch des kleinen Horrors. „Für meine Mutter, auch wenn’s ihr nicht gefallen wird“, lautet die Widmung. Vogl, der auch für das Vigilanten-Buch „Hollywood Justice“ verantwortlich zeichnete, schaltete dafür die Qualitätshürde aus. Die Filme mussten a) dem Horrorfilmgenre zuzuordnen sein, b) mussten ein oder mehrere kleine Wesen prominent auftreten, es durfte c) kein Kurzfilm und er musste d) auf einem Trägermedium veröffentlicht sein. Nicht jeder Film mit „tiny terrors“ schaffte es, so etwa die beliebten „Facehugger“ aus „Alien“, weil nur Gastauftritte. Ausgeklammert wurde auch Tierhorror, also keine Killerratten, Mörderfrösche, Piranhas, Ameisen, Spinnen. Wurmähnliche Aliens zählen jedoch doch, nicht aber Kinder-als-Monster, weil ein eigenes Subgenre. Aber da bleibt noch genug: Gremlins, Critters, Ghoulies, Gnome, Babies, Elfen, Lebkuchen, herrenlose Hände, Alien-besessene Karnickel. Das alles in A- bis D-Filmen, B und C dicke vertreten.  181 Filme. Und 555 Bilder. 

Alles erfreulich lesbar geschrieben und aufbereitet, auch die Gestaltung ist luftig. Dies ist ein Buch von Filmfreunden – für Filmfreude. Verleger Harald Mühlbeyer ist einer der letzten seiner Art, eine Tagebuchnotiz zum Projekt hier. Das übersichtliche Inhaltsverzeichnis zeigt auch schon gleich die Mehrteiler und Serien an: die „Chucky“-Filme etwa, die „Critters“, die „Ghoulies“, die „Gremlins“, die „Hobgoblins“, „Puppetmaster“, „Robert“ oder „Leprechaun“ eins bis vier und „In the Hood“, „Back 2Tha’ Hood“ sowie „Origins“. Auch mexikanische Horrorfilme wie etwa „Muñecos Infernales“ (1961) fehlen nicht oder „Der Nachtmahr“ von Akiz, Deutschland 2016. Unter Besonderheiten wird hier verzeichnet: „Der Film warnt eingangs vor Lichteffekten und der Musik, empfiehlt dann aber trotzdem, den Ton laut aufzudrehen. So als ob das Ganze als Herz-Kreislauf-Test gedacht sei.“

Peter Vogl: Das große Buch des kleinen Horrors. Eine Film-Enzyklopädie. Mühlbeyer Filmverlag, Frankenthal 2018.  454 Seiten, 550 Abb., 27 Euro.

Das Jahr der Katze von Christoph Peters

Mit dem Schwert

(rum) Das alte und das neue Japan treffen in Christoph Peters‘ zweitem Thriller Das Jahr der Katze gewaltsam aufeinander. Fumio Onishi ist bei der Yakuza-Organisation Nekodoshi-gumi der Mann fürs Grobe,  hat in Berlin aber etwas über die Stränge geschlagen, als er dort die vietnamesische Mafia aufmischte („Der Arm des Kraken“). Mit seiner deutschen Freundin Nicola zurück in Tokio gerät er selbst in die Schusslinie, hat er der Yakuza, die lange auch eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielte, mit seinem eigenmächtigen Handeln doch Unruhe und Aufmerksamkeit gebracht. Beides schätzen die kriminellen Geschäftemacher nicht besonders, zumal die Branche im Umbruch ist. Die Jungen wollen ihr Geld mit lange verpönten harten Drogen und Internetkriminalität machen, die alten „Werte“ zählen nichts mehr. Das bekommt auch der Kampfkunst-Meister Harara zu spüren, der über Jahrzehnte Yakuza-Mitglieder ausbildete und noch an den Kodex der Samurai und eine alte Gesellschaftsordnung glaubt. Er deckt seinen Schüler Onishi und bringt so die Nekodoshi-gumi-Führung gegen sich auf. Mitten drin ist die Deutsche Nicola, die da in zahlreiche gesellschaftliche Fettnäpfchen tritt, aber auch keineswegs bereit ist, einfach zu akzeptieren, was da um sie herum geschieht.

Peters fängt das gekonnt aus zwei Perspektiven ein, bleibt bei Onishi und Nicola außen, während er Meister Harara offenbar mit Lust selbst zu Wort kommen lässt, tief eintaucht in die reaktionären, von strenger Ordnung und eiserner Disziplin geprägten Denkmuster des alten Kämpfers, der sich freilich auch intensiv mit Zen-Buddhismus und dessen Einfluss auf Leben und Kampf auseinandergesetzt hat. Harara ist noch Teil einer alten Welt und setzt folgerichtig bei entscheidenden Kämpfen, die es bei schwerwiegenden Störungen innerhalb krimineller Organisationen ja gerne mal gibt, noch ganz auf das Schwert als Waffe – mit dem er stets auch seine Werte verteidigt. Peters japanische Landschaften, durch die sich seine Protagonisten bewegen, bleiben bisweilen etwas blass. Sehr schön zeigt er dagegen mit einem übersichtlichen Setting die Bruchlinien auf, an denen neues und altes Denken kollidieren, an denen sich vermeintlich festgefügte Ordnungen aufzulösen oder zu verändern beginnen.

Christoph Peters: Das Jahr der Katze. Roman. Luchterhand-Verlag, München 2018. 352 Seiten, 22 Euro.

bastard9783956401688Roadmovie mit irrem Tempogefühl

(AM) Der feine Graphic-Novel-Verlag Reprodukt wurde eben mit dem Förderpreis des Berliner Verlagspreises ausgezeichnet – hochverdient. Reprodukt, so die Jury, „ist ein Trendsetter, der mit aufwendig gestalteten Büchern konsequent die große Tradition des Comics pflegt und außerdem die Graphic Novel für ein größeres Publikum etabliert hat. Sein Verlagsprogramm ist innovativ und überzeugend – auch für junge Menschen.“

Nicht nur für die, möchte ich einwerfen. Auch für einen wie mich, der schon einiges gesehen hat, ist zum Beispiel Bastard von Max de Radiguès ziemlich umwerfend. Das Ding kommt schlicht und unscheinbar daher, einfacher geht es kaum, auch das Raster mit (meist) sechs Feldern ist schnell verstanden. Völlig irre, wie viel Tempo, wie viel Ruhe und Nachdenklichkeit, Tiefe und Härte, Poesie und Wahrheit, Farbe und Freude der Belgier de Radiguès auf die ziemlich weißen Seiten bekommt.
Die Figurenzahl ist überschaubar, die Geschichte echtes Hardboiled. Bonnie und Clyde und tausend Räuberpistolen lassen grüßen. So macht Genre Spaß. Und ja: “Bastard” wurde 2018 auf dem renommierten Comicfestival in Angoulême mit dem Prix de Lyceéns prämiert. Das bleibt sicher nicht der einzige Preis.

Max de Radiguès: Bastard (Bâtard, 2017). Aus dem Französischen von Andreas Förster. Handlettering von Dirk Rehm. Reprodukt, Berlin 2018192 Seiten, 14 Euro.

NanosSie bestimmen was du denkst von Timo Leibig

Mad Scientist, im Trend

(TW) „Realismus“ ist nun nicht gerade das Geschäft von Dystopien und Dystopien sind gerade angesagt. Und wenn ein Trend erkannt zu sein scheint (ob´s ihn wirklich gibt, ist eine andere Frage), dann kann man die Uhr danach stellen, dass jetzt halt Bücher „im Trend“ hergestellt werden. So auch Nanos. Sie bestimmen, was du denkst von Timo Leibig. Irgendwann, bald, demnächst, hat es mal wieder ein Mad Scientist geschafft, Deutschland zu beherrschen. Mit Nano-Messages, die durch Biofood (gesunde Ernährung sollte schon misstrauisch beäugt werden) miese, böse Botschaften in die Hirne der Menschen transportieren, die dann das machen, was der „Führer“ will. Nur ein paar Leute sind immun dagegen (irgendwelche sich wissenschaftlich gerierende Gründe dafür sind schnell gestrickt), und die sind der Widerstand, und dann knallt´s und scheppert´s nonstop. Ach ja, und so wird auch alles, was nicht schnell genug auf die Bäume kommt, verwurschtet – von „The Handmaid´s Tale“ bis Max Annas´ “Finsterwalde“ und a weng an Orwell, a weng an Darth Vader auch. KLi

Und natürlich Action, Action, Action, die aber eher schlichter Gewaltporn ist. Am Ende kommt dann aber doch wieder nur eine Bruder-gegen-Bruder-Story raus und der ganze futuristische Fidelwipp ist so überflüssig wie nur was, Erkenntniswert null. Implikation: Ohne dass deutschen Menschen was Fremdbestimmtes in die Hirne geschraubt wird, würden die doch nie einem totalitären System begeistert aufsitzen. Never ever, das weiß man doch.

Timo Leibig: Nanos. Sie bestimmen, was du denkst. Penhaligon, München 2018. Klappenbroschur, 512 Seiten, 16 Euro.

E_Dahlmann_Rücken.inddFüllungen inklusive

(JF) Am Ende dieses Textes  lesen Sie eine Passage aus dem Wirtschaftskrimi Fillingers Erbe, mit dem der Hamburger Anwalt Olaf R. Dahlmann seine Reihe um die Hamburger Anwältin Katharina Tänzer fortsetzt. Allerdings ist das Zitat unvollständig, denn es wurden folgende Wörter bzw. Satzteile entfernt: „sprichwörtlichen“, „momentan“, „nicht, dass die Kanzlei schlecht laufen würde“, „aber“, „waren“ „wirtschaftlich in die Knie gegangen“ und „demzufolge“. Wer möchte, kann sie gerne wieder einsetzen.

Sollte Ihnen das Ergebnis zusagen, empfehle ich den Kauf des Buches.

Doch dann müssen Sie sich auch auf Sätze dieses Kalibers gefasst machen: „Sie musste noch nach Hamburg-Rotherbaum, wo sie eine schnuckelige Zweizimmerwohnung bewohnte“. Aber hier der Auszug: „Einen […] ‚warmen Regen‘ konnten sie […] gut gebrauchen. […] Im letzten Monat hatten zwei Mandanten Insolvenz angemeldet. Die Außenstände von fünfunddreißigtausend Euro  konnten s[…] sie in den Wind schreiben.“

Olaf R. Dahlmann: Fillingers Erbe. Grafit Verlag, Dortmund 2018. 315 Seiten, 12 Euro.

cover_Justiz_1.inddTiefenscharf

(AM) „Justizgeschichte ist Kulturgeschichte. Ein Blick in die Gerichtssäle zeichnet oft ein schärferes Bild der Gesellschaft als es ein ganzer Zirkel angesehenster Soziologen zustande bringen kann. Obwohl diese journalistische Gattung verkümmert ist, gilt nach wie vor: Zeige mir deine Staatsanwälte, Richter und Anwälte und die verhandelten Delikte und ich sage dir, in welchem Staat du lebst.“

Hartmut Wächtler ist ein Mann der klaren Worte. Sein Buch Widerspruch mit 21 schnörkellos knappen Kapiteln ist ebenso Selbstauskunft, Positionsklärung, Widerstandsermunterung wie Kulturgeschichte. Klein und groß sind die Fälle, politisch ist es eh alles für diesen klar Links verorteten Autor. In seinem Buch schreibt er über Menschen, die seit dem Ende der 60er Jahre bis heute mit der Justiz aneinandergerieten und zu „Fällen“ wurden, die er vor Gericht ausgefochten hat. Die Auseinandersettung mit der Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf etwa, oder der staatliche und mediale Umgang mit dem Terroristen Rolf Pohle, immer wieder die Obrigkeit und „staatsfromme Justiz“, so eines der Kapitel. Das Buch ist eine überaus lesbare Lehrstunde in Demokratie und Zeitgeschichte. Eine kluge Reflexion von 1968 und den Folgen.

Aufgeben? Klein beigeben? Für Wächtler, 1944 in Bayreuth geboren, keine Option. Er hat etwas zu sagen. Aktuell zum Beispiel engagiert er sich beim neuen Polizeiaufgabengesetz in Bayern.

Hartmut Wächtler: Widerspruch. Als Strafverteidiger in politischen Prozessen. Mit einem Vorwort von Christian Ströbele. Transit Verlag, Schwarzenbach und Berlin 2018. Hardcover, 180 Seiten, 20 Euro.

Pressebild_KrokodilwaechterDiogenes-Verlag_300dpiKlischees, gedreht

(TW) Ein schönes Beispiel für „so-richtig-an-den-Haaren-herbeigerissen“ ist die Geschichte, die Katrine Engberg in Krokodilwächter (Diogenes) erzählt. Ein fieser, machtbesessener Westentaschen-Hemingway, der tatsächlich Kingo (!) heißt, manipuliert schwache Möchtegernkünstler zu schlimmen Mordtaten (Gewaltporn), eine emeritierte Professorin im Dauersuff liefert in einem Roman-Manuskript die Durchführungsanleitung (meta), für ganz Blöde hören ihre Möpse auch noch auf die Namen Episteme und Doxa, und wir lernen beklagenswerterweise auch viel mehr als wir wissen wollen über die Erektionsprobleme des ermittelnden Polizisten (doch siehe, Erlösung naht: „Ihre Brüste! Ihre weichen, phantastisch runden Brüste!“ Na also, geht doch), der zudem noch Rücken hat (siehe unten).

Vermutlich wollte Katrine Engberg mal so alle Klischees umdrehen, die sie so am Werk sieht: Der männliche Polizist ist ein winselndes Weichei, seine Partnerin down to the ground, die Unschuld vom Lande ist eine ganz schöne Schlampe und so weiter – und etabliert dadurch die nächsten Klischees: Künstler wahnsinnig, Sex irgendwie deviant, abtreibewillige Frauen böse. Gesellschaftliche Parameter irrelevant. Und ein paar Trivialitäten als Reflexion über den Kriminalroman: „Einen Krimi zu schreiben ist ungefähr ähnlich schwierig wie der Versuch, einen Zopf aus Spinnweben zu flechten“, jo. Aber ganz schick das Ganze, wie ein Lifestyle-Führer durch Kopenhagen. Am Ende noch ein bisschen Bauchaufschlitz und Augenraus, aber dann ist alles wieder gut. Eine Gegenschrift zum politisch motivierten „Nordic Noir“? Oder einfach ein ziemlich überflüssiger Roman?

Katrine Engberg: Krokodilwächter (Krokodillevogteren, 2016). Ein Kopenhagen-Thriller. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Diogenes Verlag, Zürich 2018. Hardcover, 512 Seiten, 22 Euro.

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(TW) Ziemlich ähnlich tickt Der Schmetterling von Gabriella Ullberg Westin (HarperCollins). Der Weihnachtsmann schlachtet die Gattin eines weltberühmten schwedischen Fußballers ab (wer mag damit gemeint sein?), was ziemlich unnötig ist, weil die Gattin sich gerade in suizidaler Absicht mit irgendwelchen Mittelchen vollgepumpt hat. Und daraus entspinnt sich eine verworrene Geschichte über neurotische Menschen, Pferdewetten, Fußballskandale und Kinderschänder. Der Quell allen Übels siedelt in einer „Kommune“, brünstige Frauen geiern hinter strammen Sportlern her, der Ermittler hat (siehe oben) Rücken. Auch hier: alles ganz schick. Mode, Florenz (Dienstreise ins Sternehotel für zwei Fragen, die haben Kohle, die Schweden), Lifestyle-Magazin. Und wer oder was ist an dem ganzen Schlamassel schuld? Das Böse. O sancta simplicitas, und wir lernen, dass auch wirre Plots durchaus sehr schlichten Geistes sein können.nichts außer Glüc

Gabriella Ullberg Westin: Der Schmetterling. Übersetzt von Stefanie Werner. HarperCollins Germany, Hamburg 2018. Klappenbroschur, 416 Seiten, 14,99 Euro.

978-3-426-30611-6_DruckNichts außer Glück

(JF) Mehr als ein Dutzend Jahre ist es her, da vernahm man zum ersten Mal die unverwechselbare Erzählstimme Wilhelm Gossecs, Inhaber eines Trödelladens im Münchner Schlachthofviertel und Amateurermittler. Sein Schöpfer war neu in der Krimiszene – ein mysteriöser Autor namens Max Bronski, dessen bunter Lebenslauf bereits darauf hinwies, dass es sich um ein Pseudonym handeln könnte. Inzwischen ist es kein Geheimnis mehr, dass sich hinter Bronski der 1953 geborene Franz-Maria Sonner verbirgt, Blues-Aficionado und (unter anderem) Verfasser des großartigen 68-er Abgesangs „Der große Kakapo“ (1998).

Mit Gossecs sechstem Fall, Schneekönig, betritt Bronski neues Terrain. Die Geschichte entzieht sich, von der Rahmenhandlung abgesehen, konsequent, der öden Alltagslogik, kommt uns aber doch seltsam bekannt vor. Schuld ist ein Lastwagen, der den leicht angesäuselten Gossec beim unvorschriftsmäßigen Überqueren der Fahrbahn erwischt und ihn auf diese Weise in ein verschneites München katapultiert, das zum Schauplatz einer ziemlich ausgefallenen Variante der Weihnachtserzählung wird, Jungfrauengeburt und Kindermord von Bethlehem inclusive. So kommt auch das Kriminalistische nicht zu kurz. „Schneekönig“ ist ein ebenso kurzweiliger wie anrührender Roman, der die alte Idee von Literatur als Medium der Wunscherfüllung auf das Schönste wiederbelebt. So gelingt es sogar, das Haus, in dem Gossec seinen Laden hat, vor dem Zugriff gieriger Immobilienspekulanten zu bewahren. Und das in München.

Auch Franz-Maria Sonner selbst hat sich einen Wunsch erfüllt. Zusammen mit drei versierten Musikern durfte er seine Songtexte vertonen, herausgekommen ist eine CD mit feinstem bayrischem Blues, eine Art Soundtrack zum Roman. Das hört man gerne. Am Ende des Romans übrigens verspürt Gossec „nichts außer Glück“. Hoffen wir, dass er es überlebt.

Max Bronski: Schneekönig. Droemer Verlag, München 2018. 212 Seiten, 14,99 Euro. – sowie: Max Bronski Band: München Blues. BSC Music.

9783550050640_cover68er-Bashing im Pappmaché

(TW) Ein deutliches Designer-Produkt ist Die Tote im Wannsee von Lutz Wilhelm Kellerhoff. Das Autoren-Trio Martin Lutz, Uwe Wilhelm und Sven Felix Kellerhof hat sich das geschichtsrelevante Jahr 1968 ausgesucht, als (West-)Berlin ein Hotspot der „Studentenbewegung“ war. Eine tote Frau wird aus dem Wannsee gefischt und die Ermittlungen führen prompt ins Milieu der 68er. Die Hauptfigur, Kommissar Heller, ist eine Art Außenseiter bei der Mordkommission, sein Vater ist ein schlimmer Nazi (aber auch Mensch), er wohnt zur Untermiete bei einer alleinerziehenden Mutter, mit der er ein Verhältnis hat und ein paar Kollegen bei der Polizei arbeiten für „die Gegenseite“, in diesem Fall für die Stasi.

Diesen Roman habe ich allerdings schon mal gelesen, da hieß er noch „Der nasse Fisch“ und war von Volker Kutscher, die jeweiligen Ersetzungen sind evident. Lutz Wilhelm Kellerhoff sind schlicht auf die Timeline nach vorne gegangen und haben die Struktur von Kutscher eins zu eins übernommen. Bisschen dicke, diese Chuzpe. Die aber verzeihlich wäre, wenn sie nicht auch die Schwächen von Kutscher mit adaptiert hätten. Zeitgeschichte als Pappmaché-Kulisse, hergestellt durch Erklär-Dialoge, die sich direkt an die Leserschaft richten, name-dropping (Schily, Mahler, Bommi Baumann, Langhans, Benno Ohnesorg), Tourenführer (und da ist die K1), ohne dass das alles irgendeinen tieferen Bezug zur Handlung hätte. Nur Karl-Heinz Kurras hat eine kleine Rolle und die ist bezeichnend: Kurras wurde ja wegen der Tötung Ohnesorgs freigesprochen und war, wie sich später herausstellte, Stasi-Mann, Sven Felix Kellerhoff hat ausführlich über ihn gearbeitet.

Und hier setzt das eigentliche Narrativ des Buches an: Die 68er Bewegung wurde von der Stasi gesteuert und finanziert, der Ruf der empörten Bürger „Geht doch rüber“ war völlig richtig. Insofern klinkt sich der Roman in die trübe Tradition des 68er-Bashings ein, so als ob die Bewegung ein lokales (west-)deutsches oder Berliner Phänomen gewesen wäre. Die frühe Frauenbewegung ist dann logischerweise die Sache reicher Bürgertöchterlein, die sexuellen Usancen der Zeit sind krampfig, Sodom und Gomorrha (immer ein Hauptangriffspunkt gegen emanzipatorische Strömungen, dessen normative Basis ziemlich schauderhaft ist) und Drogen, oh weh, ja die auch. Sehr komisch ist dabei, dass unser Berliner Polizist nicht so genau weiß, was ein Joint ist und nach dem Verzehr eines Stückchen Hasch-Kekses gleich mal ins Delir fällt. Was erzählen die denn da?

Lutz Wilhelm Kellerhoff: Die Tote im Wannsee. Ullstein Verlag, Berlin 2018. 383 Seiten, 16 Euro.

u1_978-3-651-02573-8Sogar als Lyriker brillant

(JF) Selten wurden die verhängnisvollen Auswirkungen schulischen Reformeifers drastischer vor Augen geführt als in dem neuen Buch des vieltalentierten bayrischen Schriftstellers Jörg Maurer. Hätte nicht ein hochmotivierter, aber eher einfallsloser Lehrer im Jahre 1980 seine Klasse mit Projektunterricht traktiert, wäre es niemals zu der sorgfältig choreographierten Folge von Stinkbombenattentaten gekommen, die in dem damaligen  Oberstufenschüler Jennerwein jenen Ermittlungstrieb weckten, der ihn Jahre später in den Polizeidienst führte, wo er zu einem erfolgreichen Kriminalisten reifen durfte, ein Umstand, der nicht zuletzt dafür verantwortlich ist, dass ein ebenso gestörter wie genialer Neider plant, ihn mitsamt seinem Team ausgerechnet an Weihnachten in die Luft zu sprengen. Doch genauso kommt es, wie die Verwendung des Konjunktivs II im vorhergehenden Satzgefüge nahelegt. Und das ist gut so, denn Maurers aktuelles Jennerwein-Epos Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt ist großartige Unterhaltung auf sprachlich avanciertem Niveau.

Sogar als Lyriker brilliert der gebürtige Garmisch-Partenkirchener. Nur in einem Punkt möchte ich ihn korrigieren: Es gibt bei uns in Recklinghausen keine Polizeischule. Schon gar keine, wo Austauschkommissarin Nicole Schwattke, als geborene Westfälin im Polizeidienst des Freistaats Bayern geduldet, Siegerin im Wettsaufen geworden sein könnte. Denn solche Sportdisziplinen sind in den Bildungseinrichtungen des Landes NRW nicht vorgesehen. Nicht einmal im Projektunterricht.

Jörg Maurer: Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt. Alpenkrimi. Scherz Verlag, Frankfurt am Main 2018. 425 Seiten, 16,99 Euro.

csm_9783832183530_03da4448ddLösung mit Hindernissen

(TW) Auch Darktown von Thomas Mullen ist ein leicht problematisches Buch, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Zunächst einmal ist es ein sehr guter Roman. Es geht um die Etablierung einer schwarzen Polizeitruppe in Atlanta, im Jahr 1948, also zuzeiten des krassen Rassismus in den Südsaaten. Die schwarzen Polizisten haben nur sehr begrenzte Befugnisse, sie sollen die Verhältnisse in den schwarzen Vierteln der Stadt regeln, aber sobald weiße Menschen ins Spiel kommen, haben sie keinerlei Autorität. Ihre größten Gegner sind die weißen Cops, dies es a priori ablehnen, schwarze Menschen in Uniform zu akzeptieren (drei Jahre nach dem 2. Weltkrieg, deswegen sind auch viele der schwarzen Cops Veteranen), auch weil die ihre eigenen korrupten und rassistischen Agenda stören.

Mullen zeichnet ein sehr beklemmendes, gut recherchiertes Bild dieser Zeit und ihrer Verhältnisse anhand eines Kriminalfalles, bei dem ein weißer Mann offensichtlich eine schwarze Frau umgebracht hat – höchstens ein Kavaliersdelikt für die weiße Polizei, eine Herausforderung für die schwarze. Die Problematik des Buches liegt an der deutschen Übersetzung. Ich bin auch überzeugt davon, dass sich der Übersetzer Berni Mayer und das Lektorat die Sache nicht leicht gemacht haben: Um das N-Wort zu vermeiden, steht im deutschen Text immer „der Negro“ oder „die Negro“ – nur in den deskriptiven Teilen natürlich, nicht in den Dialogen und den personalen Passagen. Sie hatten „einen Negro“ festgenommen, „er trat den Negro erneut“ usw. Im Amerikanischen ist „Negro“, zumal in einem historischen Roman, der nicht sprachlich anachronistisch sein will, völlig okay, cf. Martin Luther King. Im Bemühen um sprachliche Korrektheit im Deutschen aber ist diese Lösung eher problematisch, weil sie nicht nur den Lesefluss hindert (zu artifiziell, man stolpert pausenlos), sondern auch direkt auf den Ethnophaulismus hinweist, den der Ausdruck eigentlich umgehen will. Klar, in dieser Lösung steckt natürlich das richtige Bewusstsein für die Tücken von Sprachverwendung, aber sie übererfüllt es mit einer unpraktikablen Variante.

Thomas Mullen: Darktown  (Darktown, 2016). Aus dem Amerikanischen von Bernie Mayer.  DuMont Buchverlag, Köln 2018. 480 Seiten, 24 Euro.

festa9783865526632_2Gleich viermal Lafcadio Hearn

(AM) „Der wahre Test für das wirklich Unheimliche besteht einfach in Folgendem: Wird beim Leser ein tief empfundenes Gefühl der Furcht sowie des Kontaktes mit unbekannten Sphären und Mächten erzeugt, ein subtiles Verhalten ängstlichen Lauschens nach dem Schlag schwarzer Schwingen oder dem Schleichen von Gestalten und Wesen von außerhalb, vom äußeren Rand des bekannten Universums? Je vollständiger und vereinheitlichter eine Geschichte diese Atmosphäre vermittelt, desto besser ist sie selbst als Kunstwerk in dem gegeben Medium zu verstehen.“ (Aus: „H.P. Lovecraft – Die Literatur des Grauens“, Edition Phantastica, 1985, übersetzt von Joachim Körber)

Das ziegelsteinschwere, leicht überformatige Taschenbuch in lederähnlicher Haptik ist der Nachdruck  der beiden gebundenen Ausgaben „Lovecrafts dunkle Idole“ und „Das rote Zimmer – Lovecrafts dunkle Idole II“. Verleger Frank Festa hat dafür 28 Erzählungen ausgewählt, die H.P. Lovecraft in Briefen und Aufsätzen besonders lobte und die ihn beeindruckt und ein wenig geformt hatten. Hauptquelle war der 1926/27 entstandene große Essay „Supernatural Horror in Literature“. Zu jeder der Geschichten gibt es eine biografische und bibliografische Notiz. Wir treffen Ambrose Bierce. H. G. Wells, John Buchan, Théophile Gautier, Jean Marie Villiers de l’Isle-Adam, Robert Louis Stevenson, Arthur Machen oder Edgar Allan Poe, aber auch viele Unbekannte.

Der Band hätte gut in der Phantastischen Bibliothek des Hauses Suhrkamp erscheinen können, die es zwischen 1980 und 1998 auf über 360 Bände gebracht hat. Eine Auswahl, die gleich vier Erzählungen von Lafcadio Hearn versammelt, kann nicht schlecht sein.

Frank Festa (Hrsg.): Lovecrafts Dunkle Idole, Band I & II. Horrorgeschichten. Festa Verlag, Leipzig 2018. 604 Seiten, 13,99 Euro.

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