Geschrieben am 26. Juli 2014 von für Carlos, Crimemag

Der Kriminalfall Moosbrugger. Ein Essay von Peter Münder (Teil 1)

der-mann-ohne-eigenschaften-robert-musilDer „Lustmörder“ Moosbrugger: unser Bruder?

– Im „Mann ohne Eigenschaften“ liefert Robert Musil eindrucksvolle Impressionen der dekadenten „kakanischen“ K.u.k.- Monarchie vor dem Beginn des 1.Weltkriegs. Der Roman kreist aber auch um den Kriminalfall Moosbrugger: Der inhaftierte Prostituiertenmörder übt auf die gutbürgerliche Wiener Gesellschaft eine eigenartige Faszination aus – warum ? Ein Essay in zwei Teilen von Peter Münder.

„Am Rückweg glaubte sie zu bemerken, daß alles in der Welt heimlich auf Schlagen eingerichtet sei. Es fuhr ihr nur so durch den Kopf. Die Eltern das Kind. Der Staat die Sträflinge. Das Militär die Soldaten. Der Reiche die Armen. Der Kutscher die Pferde. Die Leute gingen mit großen Hunden an der Leine spazieren. Jeder schüchtert den anderen lieber ein, als sich mit ihm zu verständigen.“ Rachel, nachdem sie vom „befreiten“ Mörder Moosbrugger verprügelt wurde. (MoE S. 1488/ Kapitel 108, Teil drei. Nachwort/ Notiz aus Musils Nachlass: „Es sind zu viele auf der Welt, die genau sagen, was getan und gedacht werden müsse, als daß mich nicht das Gegenteil verführen sollte“…)

Die Folterkammer als KZ-Vorstufe

Über „Nachtseiten voll Abseitigkeit“, die einen „völlig packten“, sprach der Berliner Großkritiker Alfred Kerr begeistert in einer Rezension des 1906 veröffentlichten Musil-Romans „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“. Er meinte damit die düsteren, brutalen Folterszenen in der Dachkammer der K.u.k.-Kadettenanstalt, den von den Zöglingen Reiting und Beineberg praktizierten Psychoterror gegenüber dem beim Kameradendiebstahl ertappten und als Sexsklaven abhängig gehaltenen Basini sowie die daraus resultierenden traumatischen Verwirrungen und Identitätsstörungen. Schon spätere KZ-Torturen antizipierend, beschreibt Musil (1880-1942) wie Basini gezwungen wird, auf allen Vieren vor den Kameraden herumzukriechen und zu schreien: „Ich bin ein Tier, ein diebisches Tier, euer diebisches, schweinisches Tier!“ Törleß wird zum Zeugen dieser erniedrigenden Folter-Mechanismen und stellt daraufhin völlig entsetzt das bisher von ihm akzeptierte Wertsystem in Frage: „Wenn diese Kammer möglich war, dann war auch alles andere möglich, aus den Menschen, die sie dort waren, schienen sie plötzlich etwas anderes, Düsteres, Blutgieriges, Personen in einem ganz anderen Leben geworden zu sein“. Wer den „Törleß“-Film von Volker Schlöndorff (mit Matthieu Carriere in der Hauptrolle) gesehen hat, wird diese verstörenden, aufwühlenden Szenen so leicht nicht vergessen.

Moosbrugger.a. Aber unter welchen Bedingungen kann sich dieses Düstere und Blutgierige entfalten und wer ist dagegen immun? Schützt uns nicht ein solides moralisches Korsett gegen den Übergang in diesen „blutgierigen“ Zustand, in eine andere Wirklichkeit? Hier leuchtet schon das Leitmotiv im Werk Musils auf: Die Suche nach der „anderen“ Wirklichkeit – mag sie auch noch so irrational, erleuchtet, irrsinnig oder von einer vermeintlichen Wahrheit durchtränkt sein.

Diese Musil’sche Grundkategorie, meint der Germanist Hartmut Böhme, umschreibe „das Verdrängte und Ausgegrenzte, das Zensierte und Imaginäre, das Verborgene mystischer Erfahrung wie das im Gang der Rationalitätsgeschichte Verworfene, das von Herrschaft und Moral Unterdrückte wie das von Vernunft Disziplinierte: der Wahnsinn also und die Liebe, das Weibliche und Kindliche, die Natur in uns und außer uns, das Ästhetische und das Religiöse, der Trieb und der Wunsch“.

Robert Musil fühlte sich später durch Hitler, Stalin und Mussolini an die ritualisierten Unterwerfungspraktiken, Einschüchterungsmechanismen und Abhängigkeits-Szenarien erinnert, die er selbst 1902/03 während seiner Schulzeit an der Akademie in Mährisch-Weißkirchen erlebte und im „Törleß“ verarbeitet hatte. „Reiting, Beineberg: Die heutigen Diktatoren in nucleo“, notierte er in seinem Tagebuch.

Zwischen Kakanien und Preußen: Musils Private Parallelaktion

Biographische Eckdaten: Sie suggerieren, dass Musil vielleicht ein Mann mit zu vielen Eigenschaften und Interessen war und sich trotz seiner rund 30-jährigen monomanischen Fixierung auf den MoE in allzu vielen Projekten und Vorhaben verzettelte. Als kleiner Junge hatte er sich übrigens laut eigenen späteren Tagebucheintragungen oft gewünscht, ein Mädchen zu sein, was wohl auch daran lag, dass die vor ihm geborene Schwester schon als Baby verstarb und nicht mal ein Jahr alt wurde. Die im MoE angedeutete inzestuöse Geschwisterliebe zwischen Ulrich und Agathe ist vielleicht auch das Resultat dieser Sehnsucht nach der früh verstorbenen Schwester.

Robert Musil

Robert Musil

1880 ist Musil in Klagenfurt geboren, ab 1891 in Brünn lebend, wo der Vater, ein Ingenieur, zum Professor an der TH ernannt worden war. Der renitente 13-jährige Robert war von den entnervten Eltern – besonders mit der Mutter hatte er große Probleme – in die Militär-Oberrealschule nach Mährisch-Weisskirchen abgeschoben worden, wo er sein Interesse für die Technik entdeckte und eine anvisierte militärische Laufbahn nicht weiter verfolgte. Studiert Ingenieurwesen an der TH Brünn (wo sein Vater Professor war), dann Militärdienst, 1902/03 Volontär an der TH Stuttgart. Erste Skizzen aus der Zeit sind Vorarbeiten für den MoE; er beginnt um 1903 den „Törleß“. 1904 zum Leutnant ernannt, studiert in Berlin Philosophie, Psychologie und Logik, Promotion über die Lehren des positivistischen Physikers Ernst Mach, der eine erkenntnistheoretische Klärung seines eigenen Technikverständnisses suchte – genau wie Musil.

Gleichzeitig entwickelt Musil den Variationskreisel: Einen Apparat für psychologische Experimente, mit dem man Mischfarben fürs Auge erzeugen kann. Dann diverse wissenschaftliche und literarische Aktivitäten in Berlin, er heiratet die verwitwete Malerin Martha Marcovaldi. Er wird noch als 30-Jähriger (wie Ulrich im MoE) vom Vater unterstützt, der dies aber nicht länger fortführen will und dem Sohn eine Bibliothekarsstelle an der TH in Wien verschafft. Musil pendelt also nicht nur zwischen der verträumten kakanischen Welt mit ihrer „zu früh herabgesunkenen Ruhe, in der man sich geborgen und begraben fühlte und den Menschen zugleich alles Lust und Unlust war“ (MoE, S. 1446) und dem quirligen Berlin mit all seinen literarischen und akademischen Zirkeln, Koryphäen und Aktivitäten.

Er pendelt auch zwischen der Welt der Technik und Psychologie und seinen literarischen Projekten und schreibt nebenher noch Artikel mit praktischem Nutzwert wie etwa über „Die Beheizung der Wohnräume“ (Zeitschrift „Natur und Kultur“, Dez. 1904). Für Franz Bleis Magazin „Hyperion“ schreibt er kurzentschlossen die Erzählung „Das verzauberte Haus“, aber eine weitere Erzählung, die er ebenso schnell fabrizieren möchte, ruiniert ihn beinah: Über zwei Jahre laboriert er verzweifelt und von Schreibblockaden gelähmt, an den 1911 veröffentlichten „Vereinigungen“ herum, die als misslungen-versponnene und verschwurbelt erotisch aufgeblasene krypto-mystische Traktate über Seitensprung, Beziehungsunfähigkeit mit eingestreuten sodomitischen Facetten von der Kritik verrissen werden. In dieser Phase der großen Verunsicherung dann der Wechsel nach Wien, wo er es als Bibliothekar nicht lange aushält und 1914 wieder nach Berlin wechselt, wo man ihm eine Stelle als Redakteur der „Neuen Rundschau“ anbietet. Seine finanziellen, vom Vater so heftig monierten Probleme, bekommt Musil nie in den Griff. Auch als sich der Verleger Ernst Rowohlt (hier erzählt er aus seinem Verlegerleben) dann für den MoE einsetzt und den Autor mit Vorschüssen unterstützt, sind das nur vorübergehende Phasen der Erleichterung seiner materiellen Not.

Musil_VerwirrungenAls lockeren, umgänglichen Menschen kann man Musil kaum bezeichnen: Er problematisierte selbst banale Situationen; mit dem umgänglichen Rowohlt, der seine Autoren gern zum Treffen mit hochprozentigen Getränken einlud, wurde er nie so richtig warm, weil er aus gesundheitlichen Gründen (Nierenleiden) weder Schnaps noch Bier trank. Und für Rowohlts Späße hatte er kein Sensorium: Der Verleger zerbiss gern Biergläser und schluckte die Scherben einfach hinunter. Oder er ließ sich, wie Corino berichtet, im Vollrausch vom Balkongeländer seiner Berliner Wohnung im zweiten Stock hängen, was zu lebensgefährlichen Situationen führte – das Feeling kurz vor dem drohenden Absturz vermittelte diesem beeindruckenden Berserker eben einen besonderen Kick. Doch der eher griesgrämig temperierte Musil absentierte sich in solchen prickelnden Situationen meistens sehr schnell.

Paradox muten diverse Verhaltensmuster des Autors an: Der hypersensible, lärmempfindliche Musil reagierte zwar äußerst aversiv auf Kinderlärm, doch als Offizier im Ersten Weltkrieg, im Kanonendonner des von Österreichern und Italienern schwer umkämpften Frontabschnitts an der Isonzo-Linie in 3000 Meter Höhe schien ihm das lebensgefährliche Treiben kaum etwas auszumachen. Den Einschlag von tödlich wirkenden Fliegerpfeilen direkt neben ihm registrierte er ziemlich unbeteiligt – Angst empfand er eigentlich nie. Außerdem stellten diese „Stahlgewitter“ auch für ihn eine willkommene Flucht aus dem tristen Alltag und seinem damaligen Bibliothekarsdasein dar. Aber die Glorifizierung der gesamten Militär-Maschinerie samt ihrer rigiden Hierarchie konnte Musil nur mit Indifferenz oder Ablehnung zur Kenntnis nehmen, obwohl er ein beinharter Bellizist war. Schließlich sah er im Krieg auch eine anthropologische, fast schon „natürliche“ Konstante und eine Art „Erweckung“. Dass er sich als Freiwilliger gemeldet hatte, war für ihn als ehemaligen Kadetten selbstverständlich. Die Ehefrau Martha machte sich jedenfalls weniger Sorgen um seinen möglichen Heldentod an der Front als um die Folgen seines exzessiven, selbstzerstörerischen Nikotinkonsums.

Paradoxe Gegensätze: Bezeichnend für den sensiblen Schöngeist Musil ist seine extrem aufgebrachte und verstörte Reaktion auf den Besuch des befreundeten Alfred Döblin. Döblin hatte laut Corino in Musils Arbeitszimmer in dessen Manuskripten geblättert und mitten in einen neu geschriebenen Musil-Text aus Jux seinen eigenen Namen hineingesetzt – das brachte Musil so aus der Fassung, dass er die laufende Arbeit für mehrere Wochen wegen einer massiven Schreibblockade unterbrechen musste. Die von Döblin mit einem Autogramm verzierte Stelle hatte für ihn den gesamten Text verunreinigt und zu Makulatur werden lassen.

Rainer Maria Rilke

Rainer Maria Rilke

Rilke und die Ur-Qualle

Musil wollte immer „über den Rand“ der Gesellschaft hinaussehen, ihm war nie daran gelegen, aktuelle Ereignisse nur möglichst naturalistisch abzubilden und zu erklären. Das Verschmelzen von Gegensätzen, die Entwicklung neuer Möglichkeiten und das Erkennen von Prozessen, die sich erst vage andeuten – darauf war er fokussiert. Die von Kerr angesprochenen Nachtseiten, zu denen man wohl auch das Phänomen Serienmord, Spionage, sexuelle Abnormitäten zählen kann, haben Musil immer stark fasziniert. Schon 1910 beschäftigt er sich in der Novelle „Die Vollendung der Liebe“ mit einem Pädophilen und Sexualverbecher: Über diesen G. unterhalten sich Claudine und ihr Mann und plaudern dabei „über das bißchen Erotik, das irgendwo wie ein schwacher Schein in ihm wetterleuchtet“ und rätseln darüber, ob er so etwas wie ein Schuldbewusstsein entwickeln könnte. Und dann geht die Erörterung der vom G. verursachten Qualen und demoralisierenden Leiden über in eine verharmlosende und verständnisvolle Passage:

G. wirke nämlich, „als ob man ihn dabei lächeln sähe … ganz weich und bleich im Gesicht, ganz wehmütig und doch entschlossen, voll Zärtlichkeit … mit einem Lächeln, das voll Zärtlichkeit über ihm und seinem Opfer schwebt … wie ein Regentag über dem Land, der Himmel schickt ihn, es ist nicht zu fassen, in seiner Wehmut liegt alle Entschuldigung, in dem Fühlen, mit dem er die Zerstörung begleitet“.

Corino kommentiert diese in „wolkige Metaphorik gehüllten, gewagten, ja skandalöse Thesen“ mit dem Hinweis, Musil „kultivierte ein merkwürdig romantisches und amoralisches Verhältnis zu Sexualverbrechern“. Der Biograph sieht diese Delinquenten-Figur im Kontext und als Präludium zu den Moosbrugger-Episoden; was aber hinter dem Interesse Musils an diesen gefährlichen Nachtschattengewächsen steht, dürfte die Beschäftigung mit dem Schuldbewusstsein gesellschaftlicher Außenseiter sein und vor allem die Auseinandersetzung mit kausalen Zusammenhängen, mit gesellschaftlichen Faktoren, die zur Identität von Delinquenten wie G. und Moosbrugger beitragen.

Moosbrugger.bMoosbrugger.c.Wenn Musil seinen Ulrich ohne besondere Eigenschaften ausstaffiert, weil er in seiner zentralen These über den Verlust des anthropozentrischen Weltbildes davon ausgeht, „(h)eute hat die Verantwortung ihren Schwerpunkt nicht im Menschen, sondern in den Sachzusammenhängen … Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie lebt“, dann konterkariert er damit zugleich Typen wie den Pädophilen und Sexualverbrecher G. und eben auch den Lustmörder Moosbrugger – die scheinen nämlich über eine spezielle Aura zu verfügen und mit ihrem Charisma irgendwo zwischen einer irren, abgeklärt-kriminellen Dostojewski-Figur und einem brutalen Lustmörder angesiedelt zu sein. Musil geht es offenbar, wenn er sich Figuren wie Moosbrugger oder G. annähert, um das Ausloten einer Psyche, deren moralische Grenzen fließend sind. Da er eindeutige Kausalzusammenhänge nicht erkennen und akzeptieren kann, ergeben sich in seinen Äußerungen zu diesen Aspekten der „Übergänge von der Gesundheit zum Kranksein“ oder von der „moralischen Regel zum Verbrechen“ diffuse, ins Irrationale driftende Pointen, die darauf hinauslaufen, wie er es im MoE formuliert, dass wir uns verabschieden sollten von der veralteten „Fiktion des konstanten seelischen Habitus“.

Erhellend ist vielleicht noch eine Passage zu dieser Frage aus Musils Rede zur Rilke-Feier 1927 in Berlin. Dass Musil sich nun ausgerechnet im Rilke-Kontext zu diesen Fragen äußerte, mag Freunde der kakanischen Lebensart irritieren – aber Rilke war als moralische Instanz für ihn als Rilke-Preisträger offenbar genauso akzeptabel wie Kant oder Nietzsche. Hier also, im O-Ton, Musil: „Daß die Übergänge von der moralischen Regel zum Verbrechen, von der Gesundheit zum Kranksein, von unserer Bewunderung zur Verachtung der gleichen Sache gleitende, ohne feste Grenzen sind, das ist durch die Literatur der letzten Jahrzehnte und andere Einflüsse vielen Menschen zu einer Selbstverständlichkeit geworden … Wenn wir die Geschichte der Menschheit, also die Geschichte der Normalität par excellence, betrachten, so kann es keine Zweifel geben! Die Moden, Stile, Zeitgefühle, Zeitalter, Moralen lösen einander derart ab oder bestehen gleichzeitig in solcher Verschiedenheit, daß die Vorstellung kaum abzuweisen ist, sich die Menschheit wie eine gallertartige Masse zu denken, welche jede Form annimmt, die aus den Umständen entsteht“.

Die Menschheit – aus einer gallertartigen Ur-Qualle gerutscht? Diese Idee hätte selbst Rilke wohl ziemlich degoutant gefunden …

Alfred Döblin

Alfred Döblin (Quelle)

Rotlicht-Milieu, Mord und Spionage

Einer der ersten Arbeitstitel des MoE war „Der Spion“. Schon 1912 sammelte Musil Berichte über den für Russland arbeitenden österreichischen Spion Alexander Murmann, über den er einen Spionageroman schreiben wollte. Als Musil bei einem Treffen mit dem Reporter Egon Erwin Kisch vom Fall des österreichischen Generalstabschefs Oberst Alfred Redl erfuhr, den Kisch als Spion entlarvt hatte, war er in seinem Interesse für das Spionage-Thema noch bestärkt worden. Inspirieren ließ er sich auch vom Rotlicht-Milieu: Er kannte sich im Milieu vieler Städte aus, war den süßen Mädeln mindestens so zugetan wie Arthur Schnitzler, infizierte sich wohl beim Verkehr mit ihnen mit Syphilis und musste eine lästige Ganzkörper- Salbenkur, wie Corino berichtet, eineinhalb Jahre lang über sich ergehen lassen, ohne sie jedoch endgültig auskurieren zu können.

Ein Killer in Kakanien

„Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht“ lautet die Überschrift des ersten MoE-Kapitels, die auch schon das Leitmotiv des gesamten Romans andeutet. Wien, an einem schönen Augusttag 1913: Mitten im Zentrum beobachtet ein Paar einen Verkehrsunfall, bei dem ein Lkw einen Fußgänger überfährt. Es könnte sich um Frau Tuzzi und Paul Arnheim handeln, erklärt der Erzähler des MoE. Andererseits sei dies aber unwahrscheinlich, da Frau Tuzzi ja zu dieser Zeit mit ihrem Gatten in Bad Aussee weilte und Arnheim in Konstantinopel.

Im locker gewebten narrativen Netz, dem irgendeine Form kausaler Zusammenhänge völlig fremd ist, stellt Musil dann Ulrich, den Mann ohne Eigenschaften vor, der mit dem Wagnerianer Walter und der blauäugigen Genie-Schwärmerin Clarisse befreundet ist. Ulrichs genervter Vater unterstützt den zu Höherem berufenen Schwärmer-Sohn mit künstlerisch-philosophischen Ambitionen nur widerwillig. Denn Ulrichs Phase der Umorientierung hält schon länger an und wohin die Karriere-Reise des Sprösslings gehen soll, ist völlig unklar. Erstmal will der aus dem Ausland zurück gekehrte Ulrich für ein Jahr „Urlaub vom Leben“ nehmen, ein anmutiges Schlösschen aufwendig restaurieren lassen und in Wien wieder heimisch werden.

Und dann heißt es am Beginn des 18. Kapitels lapidar: „Zu dieser Zeit beschäftigte der Fall Moosbrugger die Öffentlichkeit“. Es geht um den Zimmermann Christian Moosbrugger, der nach der Ermordung – es war eher ein Abschlachten – der „Gelegenheitsprostituierten“ Josefine Peer verhaftet und zum Tode verurteilt wurde. Die Frau hatte er beim nächtlichen Durchqueren des Praters getroffen – sie war obdachlos, hatte ihn angesprochen und suchte nicht nur eine Begleitung, sondern auch ein Dach über dem Kopf, was der selbst obdachlose Moosbrugger lästig fand – sie war auf eine penetrante Art allzu anhänglich. Schließlich hatte er sie in einem Anfall unkontrollierbarer Wut „in grauenerregender Weise“ getötet: Man zählte 35 Stiche im Bauch der Josefine Peer, mehrere Stichwunden in der Brust, die das Herz durchbohrten, eine vom Kehlkopf bis zum Genick reichende Halswunde, ihre abgeschnittenen Brüste konnte man abheben. Dabei deuteten Moosbruggers friedfertiger Gesichtsausdruck und seine „gutmütig starken Pranken“ eher auf einen harmlosen, tapsigen Bärchen-Typ als auf einen Mehrfachmörder. Und sein Lächeln hatte die Berichterstatter im Gerichtssaal am meisten beschäftigt und zu Spekulationen über seine wahre Natur geführt. War er verschlagen und heimtückisch oder eher ein unbeholfen-verlegener Typ? Verbargen sich diese paradoxen Widersprüche hinter dem Faszinosum des Bösen? Prozeßbeobachter und Reporter versuchten jedenfalls, die widersprüchlichen Eindrücke dieser Erscheinung abzuklären; sie suchten in diesem Lächeln verzweifelt etwas, was man offenbar „in der ganzen redlichen Erscheinung nirgends“ fand (MoE).

Egon Erwin Kisch

Egon Erwin Kisch

Ulrich hatte aus den Zeitungen von dem Fall erfahren und sofort registriert, dass dieser Fall auch seine Umwelt stark interessierte. Man konnte nicht genau feststellen, ob Moosbrugger schwachsinnig, paranoid mit einem Hang zum Größenwahn oder nur rhetorisch extrem ungeschickt war. Wie konnte ein zum Tode Verurteilter während der Gerichtsverhandlung seinen eigenen Anwalt als „elenden Hanswurst von Verteidiger“ beschimpfen und sich schließlich zufrieden über das Todesurteil äußern? Außerdem beleuchtete Moosbruggers kriminelle Vorgeschichte diverse Gewaltexzesse, Handgreiflichkeiten und Totschlagsdelikte, die ihm von Gutachtern als Indizien für seine Unzurechnungsfähigkeit ausgelegt wurden. Doch der Täter fühlte sich immer als ungerecht behandeltes, in die Enge getriebenes Opfer, das gar nicht anders reagieren konnte auf eine Umwelt, die ihn offenbar nur verhöhnen wollte. Aber wie gelangt Ulrich beim Reflektieren über das merkwürdige Grusel-Phänomen Moosbrugger zu dem Fazit: „Wenn die Menschheit als Ganzes träumen könnte, müsste Moosbrugger entstehen“? Soll Moosbrugger als Inkarnation einer Symbolfigur gelten – mit all ihren komplexen, widersprüchlichen Befindlichkeiten, einer von Ängsten, Aggressionen, traumatischen Erfahrungen und Verfolgungswahn geprägten Psyche? Und warum wollen die wohlbehüteten kakanischen Establishment-Vertreter um Ulrich und Clarisse sich ausgerechnet als Moosbrugger-Groupies gerieren und diesem mörderischen Außenseiter irgendwie helfen?

Musil hatte sich auf einen realen Fall bezogen, der sich im August 1910 abgespielt hatte und in den Wiener Gazetten auch ausführlich beschrieben wurde: Der als Lustmörder überführte und zum Tode verurteilte Zimmermann Klaus Voigt lieferte das Modell für Moosbrugger.

Dem aufgeblasenen, selbstgefälligen, prestigesüchtigen Operettenstaat Kakanien konnte man eigentlich nur, das war jedenfalls Musils Ansicht, mit einer kritisch-ironischen Haltung gerecht werden. Seine im MoE beschriebene fiktive Parallel-Aktion von Gedenkfeiern für den k.u.k.-Kaiser Franz Joseph und den deutschen Kaiser Wilhelm II. stellt daher auch eine staatstragende, geschäftige Aktion dar, an der viele Kulturträger, Beamte, Hofschranzen und selbstgefällige Posteninhaber beteiligt sind, die nur um sich selbst kreisen („Seinesgleichen geschieht“) und außer viel heißer Luft nichts produzieren. Diverse Repräsentanten der hochgebildeten feinen Gesellschaft suchen zwar in stundenlangen Debatten verzweifelt nach irgendeinem relevanten Diskussionsthema oder Motto für die große Aktion, kommen jedoch vor lauter leerlaufendem Aktionismus und Planspielen der hohen Kommission für die Gestaltung eindrucksvoller Feierlichkeiten, bei der auch die europäische Idee bejubelt werden soll, zu keinem Ergebnis. Denn Kakanien ist keine alternativlose Entweder-Oder-Monarchie, sondern ein Reich, in dem alles möglich ist, vieles vorläufig beschlossen und wieder rückgängig gemacht wird und das Streben nach einer alles durchdringenden Harmonie das eigentliche Leitmotiv ist.

MoEEin Monster wie Moosbrugger wirkt in dieser Zuckerguss-Kulisse ebenso bedrohlich wie rätselhaft: Da er schon vor etlichen Jahren ein junges Mädchen umbrachte, seinem Lehrherrn einen Finger abgebissen und drei Arbeitskollegen von einer Baustelle über ein Geländer in die Tiefe gestürzt hatte und mehrmals in Irrenanstalten eingesperrt war, scheint er ein zu Gewaltexzessen neigender Psychopath zu sein. Andererseits deuten die Entlassungen, Gefängnisstrafen und die Behandlung durch Ärzte und Psychiater auf eine totale Ratlosigkeit der Experten hin: Moosbrugger wurde nämlich „ebenso oft für gesund wie für unzurechnungsfähig erklärt“ (MoE). Ist er also eine Art Urahn von Serienmördern wie Jack the Ripper, Charles Manson oder Hannibal Lecter? Ähnelt der voyeuristische Gruseleffekt, den Moosbrugger verbreitet, der Wirkung dieser anderen Killer? Aber wie wäre dann die Bereitschaft angesehener Bürger zu erklären, sich für diesen Außenseiter einzusetzen? „Wir müssen etwas für Moosbrugger tun“, erklärt Clarisse gegenüber Ulrich, „er ist musikalisch.“ Und Ulrich fühlt sich tatsächlich bemüßigt, den Mörder im Gefängnis zu besuchen und sich mit dessen Fall eingehender zu beschäftigen.

In der nächsten Woche geht es weiter mit Teil 2 zum Kriminalfall Moosbrugger.

Peter Münder

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hrsg. von Adolf Frise. Rowohlt, Hamburg 1970, 1632 S. (mit Schluss des dritten Teils und Teil vier aus dem Nachlaß).
Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Robert Musil. Edition Text und Kritik Bd. 21/22 München 1972
Wilfried Berghahn: Robert Musil in Selbstzeugnissen und Dokumenten. Monographie. Rowohlt, Reinbek 1963
Hartmut Böhme: Anomie und Entfremdung. Literatursoziologische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Kronberg 1974
Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Rowohlt 2003, 2026 S., 78,- Euro
Ders.: Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Rowohlt 1988, 500 S. 84,- Euro
Karl Kraus: Die Polizei hierzulande. In: Die Fackel No. 334-335, 31. Okt. 1911
Herbert Kraft: Musil. Zsolnay München 2003, 357 S. 23,50,- Euro
Inka Mülder-Bach: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Hanser München 2013, 544 S., 34,90,- Euro
Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Böhlau Verlag Wien 2011, 1216 S., 98,- Euro

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