Sitzen bleiben für den Abspann
Es gibt so viele Filme über das Filmemachen und so viele Filme über das Heranwachsen, über den dringenden Wunsch in der Welt Spuren zu hinterlassen, aber noch keinen wie Joanna Hoggs The Souvenir. „In a film we don’t want life as it is but as it is experienced,“ sagt Tom Burkes Figur darin zu Julie (Honor Swinton Byrne), einer englischen Filmstudentin der 1980er Jahre. Sie kommt aus der Upper Class, will aber unbedingt einen Spielfilm über die Hafenarbeiter machen, über die Ausgebeuteten der Thatcher-Ära. Später wird sie der Filmschule fernbleiben, ihr Ansatz wird sich verändern und auch sie selbst. Tilda Swintons Tochter sieht aus wie Keira Knightleys Zwillingsschwester; manchmal hat sie auch eine ähnliche Rehscheue in den Augen wie Prinzessin Diana und wenn ihre Julie von Tilda Swinton, die im Film ebenfalls ihre Mutter spielt, ins Bett gebracht wird – „Ich bin stolz auf dich“ – dann scheint sich der Film in die Realität hineinzustrecken.
Über das Filmemachen, über feine Unterschiede wie jenen zwischen „life“ und „experience“, zwischen „authentic“ und „truthful“, den vielen verschiedenen Entscheidungen, die man als Filmemacher treffen kann, denkt Joanna Hogg in ihrem Film unentwegt mal mehr, mal weniger deutlich nach. Wenn Richard Ayoade als exaltierter Künstler am Dinnertisch sitzt und Filmschulen als günstigsten Kameraverleih bezeichnet. Wenn Hogg Julie und ihren Freund, einen Hochstapler vor dem Herren, in einem edlen venezianischen Palazzo inszeniert und dabei Assoziationen an englische Regisseure aufruft, die erst nach Venedig fahren mussten um zu sich zu finden: Summertime, Wings Of The Dove, Don’t Look Now. Auf diese Weise bildet The Souvenir ein unerwartetes double feature mit Angela Schanelecs Wettbewerbsbeitrag Ich war zuhause, aber, in dem die Hauptfigur, offensichtlich eine Filmkritikerin, aus der Haut fährt, als sie einem Regisseur erklärt, dass sich ihrer Ansicht nach in seinem Film Wahrheit und Lüge vermischen. Schauspieler, deren Tätigkeit immer eine Lüge sei, treffen da auf Sterbenskranke, auf Leute also, die mit der endgültigen Wahrheit konfrontiert sind. Das gehe so nicht, auch wenn die Kritikerin die Gründe für ihre Überzeugungen nicht ausformuliert. Aber Angela Schanelec gibt ja (zum Glück) auch keine Erklärungen ab. Als sie in der Pressekonferenz wiederholt nach der Bedeutung des Esels gefragt wird, mit dem Ich war zuhause, aber beginnt und endet, antwortete sie: „Ich werde das jetzt bestimmt nicht interpretieren.“
Verändert der Ort, an dem sie steht, die Kunst? Oder dominiert die Kunst den Raum viel stärker als anders herum? Heinz Emigholz’ neuer Essayfilm Years Of Construction scheint beide Fragen zu bejahen. Über mehrere Jahre hinweg dokumentiert er darin den Abriss der alten und den Bau der neuen Mannheimer Kunsthalle und am Ende bestätigt sich, dass selbst ein ganz und gar minimalistischer Raum – weiße Wände, viel Licht, gerade Linien – von barocker Entrücktheit sein kann, wenn darin ein merkwürdiges Uhrenpendel seine Kreise zieht und in einer Ecke eine Statue von der Gestalt einer kleingewachsenen Person aggressiv den Kopf gegen eine Säule donnert. Years Of Construction beginnt so schnörkellos wie nur irgend möglich, mit einer zentrierten Titelsequenz in einer dieser Word-Dokument-Standardschriftarten, Aquamarin auf Schwarz. Dann geht es direkt mit Aufnahmen der zunächst noch alten Kunsthalle in die Vollen: Kein Off-Kommentar, keine Texttafeln oder sonstige Inserts, nur Gegenstände in Räumen, Gegenstände, die Räume niederreißen, wieder errichten, schließlich Leute, die auf Gegenstände in Räumen blicken. In seiner ganzen emigholzigen Sperrigkeit scheint sich der Film selbst vor unseren Augen zu einem skulpturalen Gebilde aufzutürmen.
Wie prägend der Anfang eines Films für dessen Grundton ist, stellt übrigens auch Agnès Varda in ihrem Dokumentarfilm Varda par Agnès unter Beweis. Er beginnt mit dem Abspann und erinnert damit nicht nur an längst der Vergangenheit angehörende Kinokonventionen. Er unterstreicht auch den Vermächtnischarakter des Films: Wenigstens einmal noch soll das Publikum sitzen bleiben und mit seinen Blicken all die Namen derer streifen, die für das Kino Blut und Wasser geschwitzt haben. Agnès Varda ist mittlerweile 90 Jahre alt und noch immer von bewundernswerter Lebhaftigkeit und Geistesgegenwart. Aber sie sieht kaum noch etwas. Gut möglich, dass Varda par Agnès ihr letzter Film bleibt. Formal bietet er nichts wirklich Neues, besteht zum Großteil aus dem Material alter Filme und so lässt sich darüber streiten, ob der Wettbewerb (Außer Konkurrenz) eines A-Festivals der richtige Ort für ihn ist. Als Werk wertet ihn das trotzdem nicht ab, denn Agnès Vardas Lektionen lauscht man nicht nur wegen des Charmes der Filmemacherin allzu gern, sondern auch, weil sie einem viel darüber beibringen kann die eigenen Arbeiten jenseits von marktwirtschaftlichen Kategorien zu bewerten.
Zu Beginn von So Long, My Son erklingt immer wieder eine chinesische Version von „Auld Lang Syne“ aber bei einem über drei Stunden langen Film liegt der Anfang irgendwann ziemlich weit zurück und die Stille lastet eindeutig schwerer. An sie erinnert man sich auch noch Tage später. An auffällig viele Szenen, in denen nichts weiter zu hören ist als nicht ausgesprochene oder nach viel zu vielen Jahren endlich ausgesprochene Worte und eben die drückende Stille drum herum. Wang Xiaoshuais epische Familiengeschichte erstreckt sich über drei Jahrzehnte seit der Zeit der Wirtschaftsreformen im China der 1980er Jahre und die Stille, ab und an auch das schrille Pfeifen eines Teekessels, sorgen dafür, dass man alles Essentielle versteht, selbst wenn man nicht sämtliche Verwandtschaftsverhältnisse sofort zuordnen kann. Schreckliche Dinge passieren und alles, was den Leuten einfällt ist, nicht mehr drüber zu reden. Vielleicht, weil einem sonst die eigene Machtlosigkeit umso bewusster wird. Die deutliche Art wie Wang Xiaoshuai die individuellen Lebensläufe zweier Familien anhand der kollektiven, der regierungsverordneten Traumata Chinas aufzieht, lässt die Frage aufkommen, wo die chinesischen Zensoren die Linie ziehen. Wieso sie Zhang Yimous One Second in letzter Minute aus dem Wettbewerb zurückziehen und So Long, My Son durchgehen lassen. Der Film wird auf verschiedenen Zeitebenen erzählt, doch ein roter Faden erstreckt sich von der Umbruchszeit der 1980er Jahre zur den heutigen Umwälzungen. Die Ein-Kind-Politik, die Konsequenzen der freien Marktwirtschaft wie massenhafte Stellenkürzungen, die den Arbeitern krude mit sozialistisch begründetem Nationalismus verkauft werden. „Unser Land ist in Gefahr, leistet euren Beitrag!“ Wenige Anzugträger sitzen einer riesigen Menge gegenüber. Leise Absurdität vermitteln diese streng einander gegenübergestellten Tableaus und erinnern darin an Feng Xiaogangs I Am Not Madame Bovary bevor kurz darauf das Chaos in Form protestierender Arbeiter hereinbricht. Jahrzehnte später kehren die Figuren nach Peking zurück, von wo sie einst weggegangen waren um finsteren Erinnerungen zu entkommen. Vor Ort müssen sie feststellen: Auch die guten Erinnerungen sind getilgt. Fast sämtliche alte Gebäude abgerissen, die Straßen und Plätze nicht wiederzuerkennen. „Unsere Spuren sind ausgelöscht. Aber jetzt sollen doch alle Chipkarten bekommen.“
Zum Ende des Festivals feiern noch einmal alle Amazing Grace. Sydney Pollack hatte die Live-Aufnahmen Aretha Franklins zu ihrem gleichnamigen Gospelalbum 1972 für einen Dokumentarfilm begleitet, doch weil Bild und Tonspur nicht synchron waren, landete das Material in der Schublade und konnte erst Jahrzehnte später digital zusammengefügt werden. Amazing Grace ist nicht nur ein großer Konzertfilm, weil er Zeugenschaft von den regelrecht magischen Fähigkeiten einer Frau ablegt, mit, so scheint es, minimalem Aufwand ihr Publikum in tranceähnliche Zustände zu versetzen. Es überträgt sich so viel mehr. Zunächst einmal dokumentiert Pollack darin auch den eigenen Prozess des Filmemachens. Ständig sind seine Kameramänner und Fotografen zu sehen, die in den beengten Verhältnissen und umgeben von ekstatischen Zuhörern ihre liebe Mühe haben das Geschehen in scharfe, stabile Bilder zu fassen. Selbst in der Postproduktion erweist sich das aufgenommene Material noch als überwältigend, denn alles passiert gleichzeitig und alles ist sehenswert. Dann kommen gelegentlich Splitscreens zum Einsatz: Arethas Schweißperlen im Scheinwerferlicht, Mick Jagger im Publikum, die silbernen Westen des Southern California Community Choir, Tränen bei den Zuhörern. Aber Amazing Grace hat auch irritierende Momente, die einen davon abhalten sich dem Fluss von Arethas Mezzosopran widerstandslos zu übergeben. Aretha spricht nicht. Gospellegende Reverend James Cleveland leitet die Aufnahmen, er kündigt sie an und wenn sie als Letzte im weißen Kleid die Kirche betritt, zur Kanzel schreitet und zu singen beginnt, die Augen geschlossen, hat das zuerst noch etwas engelsgleiches. Aber der Film schreitet voran und Aretha singt und zwischendurch schweigt sie ergeben, wenn Cleveland und später auch ihr Vater auf der Bühne über sie reden, sich in ihrem Licht sonnen. Sie stellen sich während einer Performance an ihre Seite und halten ihr Mikrofon, fassen ihr an die Hüfte und als der Vater ihr einmal mitten im Lied den Schweiß von der Stirn tupfen will, kriegt er die Kurve nicht und drückt ihr sein Taschentuch mitten ins Gesicht. Eine Frau von inzwischen 29 Jahren, mit 11 aufeinander folgenden Nummer-Eins-Singles, Bürger- und Frauenrechtlerin, die hier, wenn sie sich nicht gerade kraft ihrer eigenen Stimme in den Himmel hebt, wirkt wie ein scheues Zirkuspony. Amazing Grace sollte bereits 2011 und 2015 aufgeführt werden, Aretha Franklin verhinderte es beide Male höchstpersönlich.
Katrin Doerksen
Siehe auch Tagebuch # 1 und Tagebuch #2 sowie die Berlinale-Vorschau von Katrin Doerksen.
Hier geht es zu unseren früheren Berlinale-Berichterstattungen.
Und hier zu Katrin Doerksens Texten bei uns.