Geschrieben am 3. Februar 2019 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2019

Berlinale-Vorschau von Katrin Doerksen


Auf Gedeih und Verderb dem Kino ausgeliefert

Ein erster Blick auf die Berlinale 2019 (7. – 17.2.) von Katrin Doerksen


„Ich bin betrunken vom Kitsch und bitter vor Neid. Frag‘ ich den Regisseur, sagt er: „Es tut mir leid,
Das alles ist doch nur zur Unterhaltung gedacht.
Was kann ich dafür, wenn ihr daraus ein Drama macht?!“

(Keimzeit in „Kintopp“ )

Auf keinem anderen Filmfestival ist man gelegentlich betrunkener vor Kitsch und bitterer vor Neid als auf der Berlinale. Das ganz große Glück und der ganz große Stahl liegen hier oftmals nur so weit voneinander entfernt wie der Abstand zwischen den Flügeltüren zweier nebeneinander liegender Kinosäle. Um dem ausufernden Programm der Berlinale 2019 beizukommen hier ein paar Empfehlungen für sehenswerte Filme in den Nebensektionen.

„Variety“ – © Kino Lorber

„Variety“ von Bette Gordon (Forum)

„Wenn alles normal ist, wird es langweilig,“ sagt ihre Freundin, deshalb nimmt Christine (Sandy McLeod), eine darbende Jungautorin, einen Job als Kartenverkäuferin in einem Pornokino am Times Square an. In Bette Gordons 1983er auf 16mm-Material in fluoreszierenden Farben gedrehtem Independentfilm Variety gehen einem die Augen über. Aber nicht so sehr wegen der Pornos in dem Kino, die bekommt man nur sehr kurz ausschnittweise zu sehen. Zunächst hört man sie eigentlich nur. In ihrer Pause läuft Christine rauchend im Foyer des Kinos umher, laszives Gestöhne dringt aus dem Saal. Das rote Schild des Coca-Cola-Automaten leuchtet ebenso verheißungsvoll wie draußen die Neonschriftzüge über dem Kino, den Sexshops und Peepshows. Und Christine, die steht mitten drin im Konsumtempel und kann sich die zweite Cola nicht leisten, nachdem sie die erste verschüttet hat. Und kann mit den Pornos nichts anfangen, weil sie nicht in ihr bisheriges Leben passen – als Tochter von, Freundin von, Geliebte von. Bis ein geheimnisvoller Mann auftaucht, dem sie folgt, weil sie eine Verbindung zur Mafia vermutet. Plötzlich drehen sich die Blickrichtungen und sie wird zur Voyeurin, zur Agentin im eigentlichen Wortsinn.

„The Shadow Play“ © DREAM FACTORY

„The Shadow Play“ von Ye Lou (Panorama)

Zielstrebig steuert die Drohne zwischen den festungsgleichen Wolkenkratzern im Zentrum von Guangzhou hindurch und nimmt Kurs auf die angrenzende Nachbarschaft. Gebäude in ruinösem Zustand, Trümmerfelder, und dann sieht man die Bewaffneten, die sich ihren Weg zu einer riesigen Versammlung bahnen. Die Gegend soll zugunsten schicker neuer Gebäude platt gemacht werden und obwohl extra der Chef des Baukomitees als Mediator anreist, kippt die Stimmung und eskaliert die Situation zwischen Polizei und Aufständischen schnell. Immer wenn es wie in dieser Szene brenzlig wird in The Shadow Play, kommt eine so schnelle Handkamera zum Einsatz, dass die Bewegungen zu Farbschlieren verwischen, beinahe wie in einem Experimentalfilm. Bald darauf ist der Baukomiteechef tot und ein junger Polizist beginnt mit der Untersuchung des Falls. Ye Lous Filme werden in China oft verboten und auch sein Neuster dürfte dem Regime unbequem sein, denn der schnelle Aufstieg zu obszönem Reichtum, der Verfall jeglicher Moral und die Korruption, die der Film in knappen, präzise getimten Rückblenden aufblitzen lässt, reicht bis in die obersten Schichten, die scheinbar respektabelsten Familien und Institutionen. Beinahe dokumentarisch anmutende Einschübe und Ausschnitte, die aussehen als seien sie den Imagefilmen real existierender Firmen entnommen, sorgen dafür, dass der Neo-Noir mehr als einmal den Eindruck erweckt ausgesprochen nah an der Realität zu sein. The Shadow Playist ein perfekt inszeniertes Ausreizen formaler Möglichkeiten, ein Blick in den Abgrund.

„The Garden“ – © Liam Daniel – Basilisk Communications – EditionSalzgeber

„The Garden“ von Derek Jarman (Forum)

Blutrot sind der Himmel und das Wasser in The Garden– vielleicht der Höhepunkt in Derek Jarmans ohnehin völlig unkonventionellen Schaffen. 1990 unter dem Eindruck seines Kampfes gegen den HI-Virus auf seinem eigenen Grundstück an der Küste von Dungeness in Kent fertiggestellt, ist der Film eine beinahe wortlose, eine anti-narrative Kakophonie religiös aufgeladener Fetischbilder – etwa die junge Tilda Swinton als Madonna mit Kind – und Orgien der Demütigung und Gewalt, die an einem schwulen Paar ausgelebt werden. Die beiden werden ausgepeitscht und hinter ihnen rollen die blutroten Wellen heran. Dass es in The Gardenkeine kausal zusammenhängende filmische Welt gibt, intensiviert diese Ausbrüche noch in ihrer Wirkung. Sie werden ausgepeitscht und es gibt keine Hoffnung darauf, dass in diesem filmischen Universum eine Institution existiert oder einfach nur ein barmherziger Samariter zufällig des Weges kommt, der dem Unrecht ein Ende bereitet, das obligatorische Happy Ending einläutet. Die Figuren sind auf Gedeih und Verderb der Filmform, der Fantasie eines höheren Wesens ausgeliefert, des Regisseurs. Am Ende beklagt Jarmans Dialog aus dem Off: „We die so silently“ und das Blutrot des Himmels kippt ein wenig ins Rotgoldene.

„6Minuten66“ © triebwerk films

„6Minuten66“ von Julius und Katja Feldmeier (Perspektive Deutsches Kino)

„Stirbt der Ort Kino, stirbt das Kino als Kunstform und Sprache?“ Diese Frage haben Julius und Katja Feldmeier 15 deutschen Filmemacher_Innen gestellt und sie damit für genau 6 Minuten und 66 Sekunden in ein Hotelzimmer eingesperrt, ähnlich wie 1982 Wim Wenders in Chambre 666. Man muss nun wirklich nicht erwarten, dass Leute, nur weil sie Filme machen, auch kluge Dinge über den Film sagen können. Manche sind mit der Situation sichtlich überfordert, schweigen oder spielen mit ihrem Hund, manche schwingen auch kluge Reden über das Kino als sozialen Ort, über fehlende Diversität, über das Marketingproblem des deutschen Films und der dazugehörigen Förderung. 6Minuten66löst keine Probleme, das ist auch nicht seine Ambition. Wenn überhaupt, dann stößt er uns mit der Nase auf die Probleme. Etwa das Hotelzimmerfenster mit Blick auf den abweisenden Oranienplatz, vorbeifahrende Autos, dick eingemummelte Passanten. Es könnte kaum deutlicher sein, dass die Diskussion um die Zukunft des Kinos in einer hermetisch abgeriegelten Blase stattfindet. Ein anderes Problem mag bei den Filmemachern selbst liegen. Sie haben zumeist wenig gemein, aber es verbindet sie die auffällig biedere Fixierung auf das Geschichtenerzählen. Das sei doch das wichtigste und das werde es immer geben. Der einzige, der ausbricht, ist Dietrich Brüggemann. „Man kann nicht einen Filmemacher mit so’ner Kamera in einen Raum setzen und erwarten, dass er irgendwelche abstrakten Sachen sagt“, spricht er und macht die Arri Alexa, die ihn filmen soll, zu seinem eigenen Spielzeug. Und stellt die eigentlich wichtigen Fragen: Wer zahlt eigentlich die Rechnung für diese Kamera im fünf- bis sechsstelligen Bereich, für das Hotelzimmer, für die Dekadenz, die uns hier anspringt?

„And Your Bird Can Sing “ © Hakodate Cinema Iris

„And Your Bird Can Sing“ (Kimi no tori wa utaeru) von Shô Miyake (Forum)

Schon lange habe ich nicht mehr so eine Clubszene gesehen. Die keine harten Beats, expressiven Lichter, selbstvergessenes Tanzen benutzt um das Einzelkämpfertum einer Figur zu behaupten, die im Rausch der Nacht aufgestaute Aggressionen und Anspannungen abbaut, ihren Alltag vergisst oder sich selbst zerlegt. Hier tanzen die drei Hauptfiguren ausgelassen zu japanischem Rap, die Kamera geht ganz nah an sie heran, wenn sie im Takt der Musik mit den Oberkörpern wippen. In And Your Bird Can Singwird völlig ideologiefrei getanzt und abgehangen. Shô Miyake erzählt in seinem Film von drei jungen Erwachsenen, die sich in einem besonders heißen Sommer kennenlernen und irgendwie zusammenkommen oder auch nicht oder nur zum Teil. Sieht man And Your Bird Can Sing, will man die Klischees von überarbeiteten Japanern unter ständigem Leistungsdruck kaum glauben. Die Drei arbeiten gelegentlich in einem Buchladen, einem Sammelbecken für unmotivierte Slacker, die schon mal vergessen zur Arbeit eine Hose anzuziehen. Und sonst tun sie nicht wirklich nichts. Leben eben: einkaufen, campen fahren, Pingpong spielen, im Club zu japanischer Rapmusik wippen und ohne es je zu definieren eine Art offene Dreiecksbeziehung führen. Ohne dass sich je jemand beginnt deswegen dezidiert politisch zu äußern oder einflussreiche Autoren zu zitieren. Alles, was Shô Miyake zeigt, zeigt er als Selbstverständlichkeit, wenn es auch noch so sehr von der Norm abweichen mag.

Katrin Doerksen

Bleiben Sie dran. Weitere Texte von unserer Berlinale-Korrespondentin Katrin Doerksen dann zwischen den Vorhängen der Filmfestspiele – und ein Abschlußbericht danach. Wie es bei CrimeMag schon gute Übung ist.

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