Geschrieben am 10. Februar 2019 von für Allgemein, Crimemag, CrimeMag Februar 2019

Berlinale-Tagebuch # 1 – von Katrin Doerksen

Weiter Himmel, tiefer Morast

Berlinale 2019 © Internationale Filmfestspiele Berlin / Velvet Creative Office

Die Augenbrauen sind fast nicht sichtbar, was ihr nicht nur einen Ausdruck ständigen Staunens verleiht, sondern ihr Gesicht unter den wasserstoffblonden Locken auch seltsam konturlos erscheinen lässt. Nur die kobaltblauen Augen stechen deutlich daraus hervor. Benni (Helena Zengel) ist neundreiviertel Jahre alt und es ist kein Wunder, dass fast alle im Film vor ihr Angst haben, die anderen Kinder und auch die Erwachsenen. Denn Benni (eigentlich Bernadette, aber den Namen hasst sie) schreit und schmeißt mit Spielzeugautos um sich bis Sicherheitsglas zu Bruch geht. Sie rammt Kinderköpfe auf Schreibtische und fuchtelt mit dem Messer herum, wenn sie sich nicht mehr anders zu helfen weiß. Mit Benni hat Langspielfilmdebütantin Nora Fingscheidt dem Wettbewerb der 69. Berlinale eine furiose Hauptfigur beschert. Einen kleinen Körper, der sich noch einnässt und sich, wenn er Angst hat, wie ein winziges Nagetier einrollt. Der aber auch jedem Blick trotzig standhält und zuschlägt wie ein Sechzehnjähriger. Systemsprenger ist eigentlich ein Sozialdrama über ein Kind, das durch jedes von Familien, Jugendamt und Pflegeeinrichtungen mühsam aufgebaute Raster fällt, ein Film, der anhand eines sehr speziellen Einzelfalls eine komplette Systemkritik aufzieht. Aber mit den Verfolgungsjagden, die sich Benni und die Handkamera liefern, den schnellen jump cuts, den Perspektivverschiebungen und seinen farbigen Akzenten in lila, rosa, knallpink erinnert er zuweilen eher an die Mädchenbanden-Popfilme der Neunziger und frühen Nuller Jahre: Mädchen, MädchenBandits, Seventeen, so in dem Dreh. Als hätte eine der damaligen Protagonistinnen ein Kind bekommen, mit dem sie nun völlig überfordert ist. 

Systemsprenger, Regie: Nora Fingscheidt, DEU 2019 © Peter Hartwig / kineo / Weydemann Bros. / Yunus Roy Imer  

Ein Film, der einen in der morgendlichen 9-Uhr-Pressevorführung im stickigen Berlinale-Palast wach hält und sogar weit mehr als das. Ein Film, an dem man sich reiben kann, in dem jede einzelne Szene ein Gefühl hervorruft: Trauer und Erschöpfung gelegentlich, dann wieder unbändige Freude, Frust, Wut und alles wieder von vorn. Schade, dass man das bei einem A-Festival, das sich als so wahnsinnig politisch versteht, nicht auch vom Eröffnungsfilm sagen kann. Lone Scherfigs Großstadtmärchen The Kindness of Strangers über die episodenhaft erzählten, sich überkreuzenden Schicksale verschiedener Menschen in New York hat einen einzigen Vorteil namens Zoe Kazan und ist sonst vergleichbar mit einer blumig ausgeschmückten, etwas zu repetitiven Sonntagspredigt.  Weil er nun einmal die Berlinale eröffnet, werden genug Texte über ihn veröffentlicht, als dass es sich lohnen würde hier noch einmal alle Schwächen des Drehbuchs aufzuzählen. Nur eines: Bei aller Freude über die Frauenquote im diesjährigen Festivalwettbewerb zeigt sich anhand eines halbgaren Arthausfließbandwerks wie The Kindness of Strangers einmal mehr die Problematik reiner Symbolpolitik (looking at you, Retrospektive!). 

Flatland, Regie: Jenna Bass, ZAF/LUX/DEU 2019 © Flatland Productions

Werfen wir lieber einen Blick hinüber ins Panorama, das ebenfalls das Werk einer Frau eröffnet: Die Großaufnahmen in Flatland sind so weich, dass es aussieht, als hätte Jenna Bass sie durch einen Schleier hindurch gefilmt. Tatsächlich beginnt der Film mit einer Hochzeit. Aber der Braut Natalie (Nicole Fortuin) wird ihr Schleier ziemlich schnell mit Gewalt herunter gerissen. Ihr frisch angetrauter Ehemann hat den Blick eines ständig eingeschnappten Fünfjährigen und schon in der Hochzeitsnacht zeigt sich, dass er ein „Nein“ leider wirklich nicht akzeptieren kann. Was folgt, ist ein Roadmovie quer durch Südafrika, der mit der Ikonographie des Western spielt, nur diesmal eben weiblich besetzt. Bemerkenswert ist, wie Jenna Bass all diese Symbole der Mädchenhaftigkeit – das Brautkleid, ein Pferd, ein Paar bester Freundinnen seit der Kindheit – nimmt und um sie herum einen Film von enormer emotionaler, körperlicher und gesellschaftlicher Kälte und Härte strickt. Die Apartheid scheint im Südafrika von Flatland höchstens pro forma abgeschafft. Dass sie aus ihren Rollen und vorgesehenen Bahnen ausbrechen, ist für die Figuren nicht vorgesehen.

Öndög, Regie Wang Quan’an, Mongolei 2019 © Wang Quan’an

Der Hauptdarsteller in Wang Quan’ans Wettbewerbsbeitrag Öndög ist der Himmel. Im Osten schon pechschwarz und im Westen noch glühend rot oder die Sonne auf der einen und der Mond schon auf der anderen Seite. Der Film spielt in der mongolischen Steppe, da hat das Auge außer dem Himmel nicht sonderlich viel, woran es sich festhalten kann. Zu Beginn dreht sich die Kamera gelegentlich langsam, bis sie zwischen Himmel und Gras endlich irgendeine Unregelmäßigkeit findet, eine Kuh, den Schlot einer Fabrik am Horizont oder eben eine nackte Frauenleiche, die hier eine Handvoll Ereignisse auslöst ohne je so richtig im Mittelpunkt zu stehen. Die Wahrnehmung passt sich im Laufe von Öndög unweigerlich der Umgebung an. Um die Autopsie der Leiche vorzubereiten desinfiziert eine Krankenschwester den Untersuchungstisch und die geschärfte Sensibilität lässt einen die winzige trockene Ecke des Tischs bemerken, an der sie immer und immer wieder knapp vorbei wischt. Dennoch ist es faszinierend wie in einer solch reizarmen Umgebung ein derart wenig karger Film entstehen kann. Das Gras in Öndög schimmert golden, der Himmel oszilliert zwischen sämtlichen Farben seines Spektrums und mitten drin eine hier allein mit ihren Tieren lebende Hirtin (Dulamjav Enkhtaivan), der die Männer, die die Steppe betreten, allesamt verfallen. Wang Quan’an interessiert sich für zwischenmenschliche Beziehungen und da ist es gerade passend, dass er immer wieder den Tieren seine Aufmerksamkeit schenkt. In einer wunderschönen Einstellung sehen wir die Hirtin während eines Sonnenuntergangs ihre Schafherde in den Stall treiben. Das Gatter bleibt kurz offen und drinnen gerät die Herde in Wallung, rennt aufgescheucht im Kreis und einzelne Tiere werden hinaus gedrängt. Aber sie nutzen die sich plötzlich bietende Freiheit nicht, sondern bleiben stehen, die Köpfe zu den Anderen gewandt, um sich möglichst schnell wieder einzugliedern. Sie sind selten, solche Solitäre wie die Hirtin, selbst im abgelegensten Winkel der Steppe.

Der Boden unter den Füßen, Regie: Marie Kreutzer, Österr. 2019 © Juhani Zebra / Novotnyfilm

Der Samstag beginnt mit Marie Kreutzers Wettbewerbsbeitrag Der Boden unter den Füßen und auch hier stehen Solitäre in überlebensfeindlicher Umgebung. Ein Black Swan der erzkapitalistischen Leistungsgesellschaft, im Milieu Nadelstreifen tragender Unternehmensberater ist dieser Film über zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die eine (Valerie Pachner), klein und blond, perfekt organisiert, definiert, optimiert, die andere (Pia Hierzegger) groß und dunkelhaarig, ständig im Krankenhaus, Suizidversuche, paranoide Schizophrenie. Aber kantige Gesichter mit hervorstehenden Knochen, die einander auf unheimliche Weise ähneln. Das Konzept des Films offenbart sich schnell, schon nach der ersten halben Stunde rechnet man jeden Moment mit dem Twist, der offenbart, dass Lola und Conny ein und die selbe Figur sind. Dass Kreutzer aber unentwegt mit dieser unser eigenen Paranoia spielt ohne je irgendein Versprechen einzulösen, lässt Der Boden unter den Füßen dann doch ein merkwürdig flimmerndes Fieber entwickeln, als würde er so lange anspannen bis die Muskeln zu zittern beginnen. Vielleicht zukünftig: Weniger vom Film erwarten, mehr darauf einlassen.

Der Tag der gezwungenen Umarmungen. Eben in Der Boden unter den Füßen umklammerte die Hierzegger-Figur eine kleine rote Katze, die eindeutig woanders sein wollte, und flüsterte in einem fort beruhigend auf das arme Tier ein. Die Beschwörungsformeln galten offensichtlich eher sich selbst. Zwei Stunden später in Hans Petter Molands Pferde stehlen (Ut og stjæle hester) umarmt ein sichtlich aufgewühlter Vater seinen teilnahmslosen Sohn. Es wird das letzte Mal sein, dass sie sich sehen. Zwei Filme über Figuren, die von Menschen umgeben und dabei bemerkenswert einsam sind. Nur, dass Moland unterwegs nicht um die Fettnäpfchen herumtanzt, sondern mitten hinein tritt. Sein Film ist eine verschachtelt erzählte Familiensaga von dickens’schen Ausmaßen, aufgeladen mit bedeutungshuberischer Naturmystik, die sich bei jeder folgenschweren Tat einer Figur in den Donnerschlägen eines Sommergewitters entlädt. Etwa der Geist der gerade verstorbenen Rosamunde Pilcher?

Der Goldene Handschhu, Regie: Fatih Akin, DEU/FRA 2019 © Gordon Timpen / 2018 bombero int./Warner Bros. Ent. 

Vor Der Goldene Handschuh hatte ich Angst. Der erste kommerziellere deutsche Film seit ichweißnichtwievielen Jahren, der keine Jugendfreigabe erhalten hat. Fatih Akin legt bei der Verfilmung der Geschichte des Hamburger Serienmörders Fritz Honka aber glücklicherweise weniger Wert auf Sägen-Action als darauf, tief in den von Schlagermusik und Korn dauerbenebelten Morast der BRD der 1970er Jahre hinabzusteigen. Zu Leuten, die sich so sehr an ihre eigene Verwahrlosung gewöhnt haben, dass kaum der basalste Selbsterhaltungstrieb übrig geblieben ist. Es gibt unzählige deutsche Filme aus den Siebzigern, in denen die Figuren, bevor sie sich näher kommen, selbstverständlich trinken müssen. Dann kommt der Sekt auf den Tisch, später Cognac, bis man beim Selbstgebrannten angekommen ist. Im Goldenen Handschuh enthüllt sich die ganze Zwanghaftigkeit, die zum Vorschein kommt, sobald das feine Drumherum wegfällt. Korn aus dem Bierglas, man trinkt um den Schmerz zu vergessen oder ihn wenigstens zu einer diffusen Wolke werden zu lassen. Das Kunststück dabei ist, dass Akin auf dieses Milieu, obwohl er es uns grotesk finden lässt, obwohl er uns schaudern lässt, keineswegs mit Abscheu schaut. Wärme, Empathie liegt in seinem Blick und auch in dem Gehör, das er den Figuren schenkt. In ihren kurzen Sätzen, in ihrem Hamburger Schnack blitzen ganze verkorkste Leben auf, in denen sich bundesdeutsche Geschichte spiegelt.

Katrin Doerksen

Siehe hierzu auch die Berlinale-Vorschau von Katrin Doerksen. Weitere Berlinale-Berichte von ihr folgen. Schauen Sie wieder herein.
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