Geschrieben am 1. April 2023 von für Crimemag, CrimeMag April 2023, News

Alf Mayer: „Fünf Winter“ von James Kestrel

Ein Buch, größer als das Leben

Wir, die Lebenden. Dieses Buch zeichnet, als wäre es japanische Kalligraphie, menschliches Schicksal mit starkem, entschlossenem Strich, sagt wichtige und schöne Dinge mit wenigen Worten, schweigt und blendet ab in den richtigen Momenten, weiß um die Kraft dessen, was zwischen den Worten ungesagt bleibt. Seinen 499 Seiten zum Trotz hat es nichts von sich träge hin wälzendem Schmöker, die Erzählbögen sind elegant, entfalten sich wie ein kakemono, ein japanisches Rollbild. Manchmal kehrt man an den Anfang eines Kapitels zurück, um den Bogen noch einmal zu genießen.

„Mehr als ein Kriminalroman“, um die Floskel zu verwenden (Thomas Wörtche dazu hier), spiegeln sich in diesem Buch neben hardboiled-Traditionen und Film Noir-Elementen auch Kriegsromane, Lagerromane, Heimkehrromane, der Pazifismus, die Trauer und die Avantgarde von Alain Resnais’ „Hiroshima Mon Amour“ (1959; im Japanischen „Eine eintägige Liebe“ benannt), die herzzerreissende Odyssee im 579-minütigen Monumentalepos „Barfuß durch die Hölle“ (Ningen no jōken) von Masaki Kobayashi (1959-61), im Englischen „The Human Condition“ betitelt. In diesem Buch von James Kestrel, herausgegeben von Thomas Wörtche und bei Suhrkamp erschienen, geht es um nichts weniger als das Menschsein, kinoleinwandbreit, episch; so weit die Füße tragen, wie uns das Cover assoziiert. Und das als Thriller.

Es beginnt wie ein hardboiled-Kriminalroman, allerdings im tropischen Honolulu, der Hauptstadt Hawaiis an der Südküste der Insel Oahu. Die „Lexington“ und die „Enterprise“ liegen in der Bucht. Police Detective Joe McGrady, bei seinem neuen Chef ungelitten, wird zu einem Tatort geschickt, unterwegs zählt er sechs U-Boote im Hafen. Im hintersten Winkel eines Dschungeltals liegt ein grässlich zugerichteter Leichnam in einer Hütte. Schnell ist es ein Toter mehr; ein Angreifer, der wohl Spuren beseitigen wollte. Und dann findet sich noch eine weitere Leiche, ebenfalls verstümmelt; eine junge Japanerin. Die Tatwaffe ist ein Mark-I-Grabendolch der U.S. Army, für den Nahkampf entwickelt. Ein Schlagring. Eine gestachelte Keule. Ein Dolch. Ein Aufschlitz-Werkzeug. „Rasieren kann man sich damit auch“, scherzen die Cops. Die Obduktionsszenen im Leichenschauhaus sind harte Kost. Es ist, als würden hier die Schatten all der Kriegsgräuel über das Buch fallen.

Der übel zugerichtete Tote ist der Neffe des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte, der Sohn seiner Lieblingsschwester, 21 Jahre alt. (Auch die junge Japanerin, so wird sich noch herausstellen, hat hochrangige Verbindungen.) McGrady, von seinem Vorgesetzten an einer ganz kurzen Leine gehalten, weiß, wie es laufen wird: „Es würde Schuldzuweisungen regnen. Als würde man einen Eimer Farbe den Hang hinuntergießen. Das meiste würde ganz unten landen, aber niemand, der unterwegs etwas abbekam, würde die Flecken wieder loswerden.“ Der andere Tote hat eine alte, nie herausoperierte Kugel der U.S. Army im Leib. Ein Kraut, im Ersten Weltkrieg gewesen. Die Spur führt nach Hongkong. (Vorsicht, hier im Folgenden nun viele Spoiler.)

Auf Seite 98 fährt McGrady zu Molly, die der bisher vier Mal geküsst hat, er ist bei ihr zum Thanksgiving-Dinner eingeladen. Sie flüstert ihm ins Ohr, „Ich will noch mehr“. Dann kommt der erste Tuschestoß auf der Erzählleinwand. Ein Cliffhängersatz, unvermittelt. Auf Seite 105. – „Es war eine der letzten privaten Unterhaltungen, die sie je führen sollten.“

Nachdem die Gäste weg sind, zieht sie ihn ins Haus, führt ihn nach oben, ins Bad. Sie hat schon heimlich warmes Wasser eingelassen, es duftet nach Jasmin. „Schsch“, bedeutet sie ihm. Sie möchte, dass sie an diesem Abend nicht mehr reden. Das tun sie auch nicht. Aber alles andere.

McGrady hätte Fragen gehabt, aber das hätte den Zauber gebrochen. „Das Schweigen war nicht weniger wertvoll“, weiß das Buch. Vielleicht war ja tatsächlich schon alles gesagt. Zwei Tage später fliegt er nach Hongkong, folgt einem „John Smith“, der eine Woche Vorsprung hat. Findet eine Zeugin, die neben ihm im Pan-Am-Clipper gesessen war. Dann wird Hongkong von den Japanern eingenommen. McGrady wird als Gefangener nach Japan verschleppt, als potenzieller Spion droht ihm der Tod. 

Was immer in unseren Köpfen jetzt an Film zu laufen beginnt, der Roman unterläuft es. Komplett. Es gibt keinen Aufguss von „Die Brücke am Kwai“ (David Lean, 1957), keine George-Seagal-Gestalt wie „King Rat“ (Sie nannten ihn King, 1965, Romanvorlage von James Clavell), keine David Bowie-Reminiszenz aus „Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence“, 1983 von Nagisha Ōshima, nach einer Vorlage von Laurens van der Post, mit einer der ersten Filmrollen für Takeshi Kitano als brutaler Lager-Feldwebel.

McGrady wird von dem Diplomaten Takahashi Kansei abgefangen, der heimlich gegen die offizielle japanische Kriegspolitik arbeitet. Er und seine Tochter Sachi verstecken den Gajin in ihrem Haus in Tōkyō. Er braucht ein Programm, eine Routine. Die Verabredung ist: Er soll der Tochter Englisch, sie soll ihm Japanisch beibringen.
Schnitt. 

Seit 1053 Tagen ist er jetzt in Takahashis Haus. Jede Nacht schreibt er Molly einen Brief, mal kürzer, mal länger. Es ist ein buchdickes Manuskript. Das seiner Sehnsucht.
Dann wird ihm durch eine Bemerkung klar. Die zu seinem Schutz ausgedachte Legende – die eine Tür, durch die er im Hafen von Tōkyō ging – bedeutet, dass er in den Akten eine Leiche ist, dass das Rote Kreuz ihn für tot hält. Und Molly auch. Sie wartet nicht mehr auf ihn. Er verbrennt die Briefe. Der nächste Absatz beginnt mit: „Am Morgen kamen die Amerikaner.“ Das übernächste Kapitel mit: „Später sollte er sich an jedes kleinste Detail dieses Tages erinnern.“

Während dreihundertvierunddreißig Flugzeugbesatzungen mit anderthalb Millionen Kilo Napalm beladen nach Tōkyō unterwegs sind, sitzen sich die Japanerin Sachi und der Amerikaner McGrady gegenüber.
„Wie lange bist du jetzt hier?“
„Eintausendeinhundertneunundfünfzig Tage.“
„Zählt man die Tage?“
„Man zählt die Stunden.“

Sie schauen sich an. Sie hat ihm zehntausend Stunden gegeben, sie will, dass sie sich in die Augen schauen. Sie will, dass sie es sich sagen.
Sag es mir.
Sag es. Du solltest die Wörter kennen.
Watashi wa…

Er hält inne. Auf keinen Fall will er es falsch machen. Er atmet tief durch und versucht es noch einmal. Er sieht ihr in die Augen und spricht es aus.

Aishiteimasu.

„Joe… ich dich auch“, sagt sie. „Und ich tue es schon so lange.“

Sie führt ihn nach oben. Zum ersten Mal. In ihr Zimmer. Er kann zum ersten Mal über die Mauer schauen, die das Haus umgibt. Und noch viel mehr.

Die Tuschestriche sind fein. 

Aber durch diese Nacht geht ein Riss. Nicht nur, dass Tōkyō in dieser Nacht im grausamen Feuersturm untergeht, auch die Leben von Sachi und McGrady werden auseinander gerissen. Tragisch. Furchtbar. Konsequent.

Die Schlucht zwischen ihnen ist auch eine zwischen Männern und Frauen. Zwischen Soldaten und Zivilisten. Die Amerikaner haben gelernt, wie man ganze Städte in Brand setzt. Was wäre gewesen wenn? Wie hätten Pazifisten diesen Krieg und die Zerstörung verhindern können?

Takahashi führt McGrady durch das zu Asche gewordene Tōkyō. Dann bringt er ihn auf die „Missouri“. Am 20. September 1945 ist er wieder in Honolulu. Molly ist inzwischen mit seinem ehemaligen Partner zusammen, sie haben einen Sohn.

McGrady hat Molly verloren. Er hat Sachi verloren. Er hat auch den Fall verloren, darf nicht mehr daran arbeiten. Gleich sind es fünf Dezember, dass er nach Hongkong geflogen war.

„Andere Männer hatten ihre Narben vorzuweisen, sie hatten in Schlachten gekämpft, deren Namen sie nennen konnten. Sie konnten sich in Bars treffen oder im Park und ihre Geschichten austauschen.“ 

McGrady muss es mit sich alleine abmachen. Da hat das Buch noch 160 Seiten. 

Mit jeder Seite hasst man mehr, dass es zu ende gehen wird.

McGrady löst den Fall, auf eigene Faust.

Und dann fliegt er nach Tōkyō, macht sich auf, mitten im Winter, unterwegs aufs Land in Schnee und Eis. Im fünften Winter. Er erfriert fast. Aber das Schicksal hat für ihn erneut warmes Badewasser bereit. Und diesen einen Moment, in dem man nichts mehr sagen braucht …

P.S. James Kestrel, der mit diesem – übrigens von Stefan Lux sehr gelungen übersetzten – Epos internationale Erfolge feiern konnte und kann, ist ein Pseudonym von Jonathan Moore, Anwalt und Romancier, der mit seiner Familie auf Hawaii lebt. Im Suhrkamp Verlag erschien in der von Thomas Wörtche herausgegebenen Reihe bereits Poison Artist (2022), hier bei uns von mir besprochen: Wie einen Blume, die nur in der Nacht blüht.

Auch „Fünf Winter“ ist filmisch, hat eine Nähe zum Film Noir. („Haben Sie schon mal versucht, sich von einer Frau scheiden zu lassen, die Sie nicht finden? – „Ich hab nicht mal versucht, eine zu heiraten.“) Schon auf Seite 18 steht eine Frau auf der obersten Stufe einer Treppe, vor dem hell erleuchteten Haus zeichnet sich ihre Silhouette ab. Einmal fühlt es sich für McGrady an, als säße er in einem Kino und schaue sich einen düsteren Film an. Und zum Showdown schafft der Böse sich ein perfektes Bühnenbild. Dieses Buch hallt nach, hinterlässt Bilder und Emotionen. Ich habe diesen Text an einem Tag geschrieben, an dem ein Freund beerdigt wurde, der noch jung und das Leben war. Auch so etwas hat Platz im Kosmos, der zu diesem Buch gehört.

James Kestrel: Fünf Winter (Five Decembers, 2021). Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. Hardcover, 499 Seiten, 20 Euro.

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