Der nasse Glanz der Scherben
Nach einer Vorauswahl und einer Vorschau hier nun der erste Berlinale-Bericht unserer Korrespondentin Katrin Doerksen. Wir berichten weiter. Schauen Sie wieder herein zu uns.
Das gab es lange nicht mehr: einen Eröffnungsfilm der Berlinale, der Diskussionen auslöst. In den letzten Jahren waren die Filme meist langweilig, die Frage war höchstens: wie sehr? Nicht so bei Wes Andersons Isle of Dogs. Es bewahrheitet sich nur Minuten nach der Pressevorführung, was schon während des Films zu erahnen ist: die Negativreaktionen reichen auf der Bewertungsskala von exotistisch bis rassistisch, von unsensibel bis sexistisch. Dabei zeugen diese Urteile in den allermeisten Fällen eher von einer Beschäftigung mit dem Film, die auf der Skala zwischen oberflächlich und engstirnig oszilliert. Aber von vorn:
Isle of Dogs spielt in einem fiktiven Japan der Zukunft, in dem der karrieristische Bürgermeister Kobayashi alle Hunde Megasakis auf eine Müllinsel außerhalb der Stadt deportieren lässt. Den Anfang macht er mit Spots (im Original gesprochen von Liev Schreiber), dem Hund, den er seinem Neffen Atari einst als Bodyguard zur Seite gestellt hatte. Natürlich geht Atari auf die Suche nach seinem besten Freund. Isle of Dogs ist ein Stop-Motion-Animationsprojekt, leiht seinen Stil bei japanischen Traditionen wie dem Holzschnitt oder gelegentlich der Mangazeichenkunst. Er hat alles, was man von einem Wes-Anderson-Film erwartet – und mehr. Immer wenn man sich in der Symmetrie, der Detailversessenheit, der Things-organized-neatly-Ästhetik zu vergessen droht, weist er einen zurecht: die Hunde sprechen dann scheinbar zu ihren Artgenossen oder drehen sich zu ihnen um – aber eigentlich suchen sie den direkten Kontakt zum Publikum, sind zugleich die Protagonisten und die Kommentatoren dieser fabelhaften Allegorie.

Isle of Dogs | Isle of Dogs – Ataris Reise; GBR/DEU 2018; Regie: Wes Anderson; Sektion: Wettbewerb © 2017 Twentieth Century Fox
Eine Allegorie auf… nun, die Liste ist lang: Verschwörungstheorien und gezielte Desinformationskampagnen, korrupte Beamte, Ausgrenzung und Diskriminierung oder kurz: den Faschismus. Verfehlungen der Menschheit, die in die Vergangenheit zu gehören scheinen, aber in der Gegenwart so präsent sind, dass nicht einmal eine fiktionale Zukunft sich ohne sie denken lässt. Wie schon lange kein Berlinale-Eröffnungsfilm mehr schreit Isle of Dogs nach einer Zweitsichtung, nach einer detaillierteren Auseinandersetzung, denn er ist unglaublich reichhaltig. In zwei kurzen Szenen suggeriert Anderson zum Beispiel eine homoerotische Anziehung – zwischen Mensch und Hund. Aber die Art ist zweitrangig, der Film bleibt ohnehin nicht bei der Repräsentationsebene stehen, stellt all seine erzählerischen und gestalterischen Elemente in den Dienst der Fabel. Am Ende bleibt der Eindruck, man müsse die Handlung wie eine Legende vor einem kunstvollen Schlachtengemälde nacherzählen – es ist nicht alles logisch nachvollziehbar, aber es wirkt nach.

Las herederas | The Heiresses; PRY/URY/DEU/BRA/NOR/FRA 2018; Regie: Marcelo Martinessi; Sektion: Wettbewerb © lababosacine
Alles hat seinen genauen Platz
Der zweite Tag der Berlinale beginnt ganz still: mit Marcelo Martinessis Las herederas, den Erbinnen. Ein ruhiges, kleines Drama über ein älteres lesbisches Paar in Paraguay, das wegen finanzieller Schwierigkeiten gezwungen ist Teile seines wertvollen Mobiliars zu verkaufen. Als die resolute Chiquita (Margarita Irún) wegen ihrer Schulden für einige Zeit ins Gefängnis geht, bleibt die zurückhaltende Chela (Ana Brun) zurück. Filmisch ist Las herederas nicht übermäßig aufregend, auch auf der Handlungsebene passiert nicht viel. Aber dafür umso mehr in Chelas Innerem – und wie der Film in vielen kleinen Momenten ihre zaghaften Suchbewegungen in Bilder fasst, lässt einen am Ende voller Wärme auf die Figuren zurückblicken. Vor allem die Detailaufnahmen eines Silbertabletts bleiben in Erinnerung: die indigene, analphabetische Haushälterin soll es Chela jeden Nachmittag bringen. Darauf hat alles seinen genauen Platz: die Kaffeetasse, das Wasser, die Tabletten, das Glas eisgekühlter Cola – Light, auf keinen Fall Zero. Im staubigen Licht hinter halb zugezogenen Vorhängen wird dieses matt glänzende Tablett zum Symbol einer merkwürdigen bourgeoisen Weltfremde, einem Festhalten an Objekten und leeren Ritualen, Erinnerungsstücken an eine längst vergangene Zeit, dahingegangenen Reichtum. Natürlich muss dieses Tablett früher oder später herunterfallen, die kostbaren Kristallgläser und Karaffen zerspringen. Zurück bleibt der nasse Glanz der Scherben.
Ein weiteres weibliches Zweiergespann: Wer einmal den 1975er Dokumentarfilm Grey Gardens gesehen hat, wird Edith Ewing Bouvier Beale und Edith Bouvier Beale, besser bekannt als Big und Little Edie, nie mehr vergessen. Die beiden Frauen brennen sich auf ewig ins Gedächtnis, die Kopftücher und die vielen Katzen, das ständige Gesinge und wenn sie in stolzer Lautstärke aneinander vorbei reden. Die Aufnahmen aus That Summer entstanden sogar noch drei Jahre vor den Ereignissen aus Grey Gardens. Jacqueline Kennedy Onassis’ jüngere Schwester Lee Radziwill plante damals einen Film über ihre Kindheit auf Long Island und holte Albert und David Maysles in ihr Team, die wenige Jahre später Grey Gardens realisierten. Die Aufnahmen von 1972 blieben hingegen unveröffentlicht und gar verschollen.
Zusammengesetzt hat sie nun Göran Hugo Olsson (The Black Power Mixtape 1967-1975). Alles beginnt bei dem ursprünglichen Plan – am Strand von Montauk. Andy Warhol ist dort, Jonas Mekas, Leute aus dem Factory-Umfeld. Diese ursprünglich für den Long-Island-Dokumentarfilm gedachten Aufnahmen bilden eine Klammer um den eigentlichen Kern: vier Filmrollen drehte das Team spontan auf dem Anwesen von Big und Little Edie, damals drohte den beiden gerade die Zwangsräumung des zunehmend verwahrlosten Anwesens durch die Behörden.

Edith Bouvier Beale, Caroline Lee Radziwill in „That Summer“, SWE/USA/DNK 2018; Regie: Göran Hugo Olsson; Sektion: Panorama © Peter Beard
Ich mag Filme, die ihre Zuschauer nicht an die Hand nehmen und wie unter Zwang alles bis ins Detail erklären. Aber in That Summer steht man ein wenig verloren da, wenn man nicht von selbst weiß, womit man es zu tun hat. Denn Olsson erwähnt Grey Gardens nicht, erklärt nicht, wer die Frauen sind und im Grunde erfahren wir auch nichts Neues über sie, beobachten nur die Auseinandersetzungen, die ständige Suche nach dem Kajalstift, den Singsang. That Summer wirkt wie Bonusmaterial auf einer Grey-Gardens-DVD. Ein Geschenk für echte Fans und für Materialfetischisten sowieso, denn Olsson betont den fragmentarischen Charakter der Aufnahmen, lässt die nummerierten Reels einzeln durchlaufen, Anfang und Ende des Filmstreifens sichtbar werden.

Mia Wasikowska, Robert Pattinson in „Damsel“, USA 2017; Regie: David & Nathan Zellner; Sektion: Wettbewerb © Strophic Productions Limited
Eine pädagogische Screwballkomödie in goldgelber Westernkulisse ist Damsel, der Wettbewerbsbeitrag der Zellner Brothers, die mit ihrer Fargo-Hommage Kumiko, The Treasure Hunter zuvor im Forum vertreten waren. Diesmal standen mehr Mittel zur Verfügung, die Hauptrollen spielen Mia Wasikowska, Robert Pattinson und die Regisseure selbst. Pattinson gehört die erste Hälfte des Films: da heuert er einen falschen Priester an, um zu seiner zukünftigen Braut zu reisen und sogleich die Trauung zu vollziehen. Aber es ist alles nicht so einfach: Penelope wurde entführt, rückt er erst auf der Hälfte des zurückgelegten Wegs mit der Sprache heraus, und nun sei praktische Hilfe vonnöten. Dieser erste Pattinson-Akt des Films ist seine große Stärke, vielleicht gerade weil er noch so überdeutlich selbstironisch mit seiner alten Glitzervampirpersona abrechnet. Da ist sein Gitarrengurt so eng, dass er sich nicht ohne lächerliche Hampelei von dem Instrument befreien kann, auf dem er später eine selbstgedichtete Ballade für Penelope spielen will. Neben seinem Minipferd Butterscotch, dessen Ohren ihm gerade bis zu den Hüften reichen, sieht er geradezu spargelig aus und der saubere Mittelscheitel macht das Ganze nicht besser. Mit jeder Minute zersetzen sich die Vorstellungen von stereotyper Männlichkeit in diesem Meta-Western weiter – und dann taucht Mia Wasikowska auf.
Was eigentlich ein Grund zur Freude ist, denn sie bricht als wütende Furie mit Gewehr im Anschlag über uns herein. Aber ab diesem Punkt wird Damsel geradezu didaktisch. Schon der Titel des Films lässt zumindest von fern eine Auseinandersetzung des Films mit Gender- und Genrestereotypen vermuten, Pattinsons Figur entpuppt sich dann, zählt man eins und eins zusammen, relativ schnell als potentiell psychopathisch. Aber wenn Wasikowskas Figur zum dritten Mal ausspricht, dass niemand sie retten müsse, sie habe alles unter Kontrolle, dann hat es wirklich auch der Letzte verstanden.
Ein hübsches Detail des Films soll aber nicht unerwähnt bleiben: die Werner-Herzog-Referenzen. Das beginnt schon mit Robert Forster als lebensmüdem Priester, der sich in einer Art Ouvertüre des Films bis auf seine orangerote Unterwäsche auszieht und zum Sterben in die Wüste geht wie der depressive Pinguin in Encounters At The End Of The World. Später wird ein Huhn hypnotisiert. Gebannt starrt es auf den Boden vor sich, als sich von der Seite eine Axt ins Bild schiebt – Schnitt – Pattinson reißt das weiße Fleisch vom Knochen.

Milan Mariċ in „Dovlatov“, RUS/POL/SRB 2018; Regie: Alexey German Jr. ; Sektion: Wettbewerb © SAGa Films
Eine Sehnsucht, die zum Fortleiden verurteilt ist
Russische Festivaldramen beginnen für gewöhnlich nicht mit jazziger Musik wie aus einem Woody-Allen-Film. Aber Dovlatov schon; Jazz und Blues kehren immer wieder und dazu unterhalten sich Künstler und Intellektuelle über ihr Scheitern, ihren Broterwerb, die Aussichtslosigkeit. Der Film von Alexey German Jr. spielt in Leningrad 1971, ein Portrait des russisch-jüdischen Schriftstellers Sergei Dovlatov. Wieder und wieder werden die ironischen Texte des jungen Schriftstellers abgelehnt, er solle endlich einmal etwas „Positives“ schreiben, hält seine Redakteurin ihn an. Dovlatov fühlt sich selbst an wie ein langes Stück Prosa aus seiner Feder: Dialoge, die eher als parallel geführte Monologe zweier Figuren durchgehen, ein literarischer Tonfall, elegische Kamerafahrten, gelegentliche ironische Spitzen, ausgiebiges Leiden. Die Sowjetunion ist wie paralysiert, in ökonomischem, politischem, kulturellem Stillstand gefangen und wir wissen von Anfang an, dass Dovlatovs Geschichte nur auf die Emigration hinauslaufen kann. Aber er emigriert einfach nicht, dazu ist seine Sehnsucht zu sehr wie Heimweh im eigenen Land. Eine Sehnsucht, nicht wirklich nach Amerika, eher nach einer Idee von Amerika, die sich in dieser Sowjetunion niemals realisieren lässt und den Sehnsüchtigen so zu ewigem Fortleiden verurteilt. Dovlatov starb mit nur 48 Jahren im Exil in New York. Dass er in seiner Heimat nach 1989 zu einem der beliebtesten Schriftsteller werden sollte, erfuhr er nicht mehr.

Paula Beer, Franz Rogowski in „Transit“, DEU/FRA 2018; Regie: Christian Petzold ; Sektion: Wettbewerb © Schramm Film / Marco Krüger
Mit Transit haben wir einen neuen Höhepunkt auf der Berlinale 2018. Christian Petzold verfilmt den gleichnamigen, im Exil verfassten Roman von Anna Seghers über den jungen Deutschen Georg (großartig: Franz Rogowski), der zur Zeit des Zweiten Weltkriegs die Identität eines verstorbenen Schriftstellers annimmt, um über Marseille nach Mexiko auszureisen. Die Zeit drängt, die deutschen Truppen rücken immer näher und die Stimmung in der von illegalen Deutschen gefluteten Stadt erinnert an Zbyněk Brynychs Verfilmung des Nachtzug nach Lissabon. Der Twist dabei: in Transit sehen wir das Frankreich von heute. Elektroautos, arabische Schriftzeichen über den Läden dominieren die Straßen und die Dampfer, die die Hoffnung auf Exil in einem möglichst weit entfernten Land aufrecht erhalten, sind moderne Kreuzfahrtschiffe. Petzold verabschiedet sich von einer genau zuordenbaren Zeit, konzentriert sich ganz auf die Erzählung und natürlich schwingt dabei stets der aktuelle Diskurs um Flüchtlinge mit.
Mit Barbara und Phoenix eine lose Trilogie
Eine klare politische Botschaft steht trotzdem nicht im Mittelpunkt des Films, ganz im Gegenteil: er stiftet absichtlich Irritation, erhebt die Zeit selbst zum Transitraum. Die Kleidung der Figuren, die Architekturen in Marseille lassen sich sowohl in den 1940er Jahren als auch im Jetzt verorten. In einer besonders sensiblen (manche würden vielleicht sagen: sentimentalen) Szene repariert Georg ausgerechnet das Radio eines kleinen Jungen, nicht etwa sein Smartphone. Von Zeit zu Zeit schaltet sich Matthias Brandts Stimme aus dem Off ein, liest einige Zeilen aus Seghers’ Roman mit Details, die auf der Bildebene keine oder nur zeitversetzte Entsprechung finden. Es dürfte spannend sein, kurz nach Transit noch einmal Barbara und Phoenix zu schauen. Die Filme bilden zusammen eine lose Trilogie der Flucht, des Spiels mit verschiedenen Identitäten, des deutschen Totalitarismus, der Nina-Hoss-Rollenvariationen (hier in Person von Paula Beer), der Popsongs im Abspann.
Obscuro Barroco ist eine Hommage an die brasilianische Transgender-Ikone Luana Muniz, die tragischerweise im Mai 2017 verstarb. Im Panorama-Dokumente-Film von Evangelia Kranioti steht sie auf einem Balkon in Rio de Janeiro, überblickt die erleuchtete, tobende Stadt. Der Karneval ist über sie hereingebrochen. Im Sambódromo und auf den Straßen wird getanzt, monströse Umzugswagen, Menschen in schillernden Kostümen, Kinder. Immer wieder nimmt die Kamera irritierend schräge Perspektiven ein, flackerndes Licht, Glitzer und unscharfe Objekte durchschneiden die Bilder, verdecken die Gesichter der Tanzenden. In diesen Momenten erreicht Obscuro Barroco eine eigentümlich ekstatische Transzendenz, in der der Ausnahmezustand, die Maskierung zum verbindenden Element einer ganzen Stadt zu werden scheint. Wäre nur der pseudophilosophische Off-Kommentar nicht, oder die Szenen eines alten Mannes im Clownskostüm, der verloren durch die Straßen läuft. So viel Kitsch liegt schwer im Magen.

Gaspard Ulliel, Isabelle Huppert in „Eva“; FRA/BEL 2017; Regie: Benoit Jacquot © 2017 MACASSAR PRODUCTIONS – EUROPACORP – ARTE France CINEMA – NJJ ENTERTAINMENT – SCOPE PICTURES / Guy Ferrandis
In den letzten Jahren hat Isabelle Huppert immer und immer wieder eine Variation der gleichen Rolle gespielt und wurde dafür jedes Mal gefeiert. Natürlich zu Recht, aber dennoch: der Part als Eva steckt ihrem Rollenstereotyp beherzt die Zunge heraus. Wo sie anfangs wie ein bourgeoises Mysterium scheint, entpuppt sie sich bald als langweilig und ordinär. Eigentlich beginnt der Wettbewerbsbeitrag von Benoît Jacquot aber mit einem sterbenden Schriftsteller. Bertrand (Gaspard Ulliel) wird zufällig Zeuge seines Todes. Schnitt, einige Jahre später: Bertrand hat mit dem Manuskript vom Schreibtisch des Verstorbenen eine Karriere als gefeierter Bühnenautor hingelegt und steht nun unter Druck. Von ihm wird ein zweites Stück erwartet. Da trifft er die Edelprostituierte Eva und hält sie für so faszinierend, dass er nach jedem Treffen ihre Unterhaltung in Dialoge umwandelt.
Eigentlich eine grandiose Grundidee des Regisseurs, die Selbstzufriedenheit bei gleichzeitiger Ideenlosigkeit der mehr oder weniger eigenen Zunft aufs Korn zu nehmen. Nur schlafen einem bei Eva leider trotzdem die Füße ein. Er ist filmisch uninspiriert, erzählerisch redundant und dass die Figuren letztlich allesamt Unsympathen sind, trägt ebenfalls nicht zum Sehvergnügen bei. Schade drum.