Geschrieben am 15. Februar 2018 von für Allgemein, Crimemag, CrimeMag Februar 2018

Berlinale 2018 (1): Katrin Doerksen wählt aus

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(c) Internationale Filmfestspiele Berlin/ Velvet Creative Office

Hundertundein Fenster zur Welt

Ein erster Blick auf die 68. Internationalen Filmfestspiele Berlin (15. bis 25. Februar).

Wir freuen uns, wie schon im letzten Jahr die kundige Katrin Doerksen als Korrespondentin für unsere Berlinale-Berichterstattung gewonnen zu haben. Unterstützt wird sie von Dominique Ott (seinen Vorbericht finden Sie nebenan) und auch Simon Hauck hat sich angesagt. Hier Katrin Doerksens erste Empfehlungen. In den kommenden Festivaltagen werden wir Sie weiter auf dem Laufenden halten. Schauen Sie wieder bei uns herein. Es lohnt sich.

In Hong Sang-soos neuem Film Grass sitzt eine junge Frau (gespielt von seiner Lieblingsdarstellerin Kim Min-hee) in einem Café hinter ihrem Laptop, beobachtet die übrigen Besucher und schreibt mit. Sie hat sich einen Fensterplatz ausgesucht, mit einem guten Überblick über alles, was sich im und vor dem Gebäude abspielt: Paare streiten und vertragen sich, es wird gemeinsam geweint und natürlich fließt der Soju wieder in rauen Mengen. Manchmal wird die junge Frau gefragt, ob sie sich dazusetzen will, aber eigentlich überfordert sie das nur. Ihre selbstgestellte Aufgabe besteht darin, stille Beobachterin zu sein, ihre Eindrücke festzuhalten. Damit ist sie nicht weit entfernt von der Wahrnehmungswelt eines Festivalbesuchers. Wie durch Fenster eröffnen sich anderthalb Wochen lang Blicke in unzählige verschiedene Lebenswelten, Realitäten, Fantasien, man versucht mitzuschreiben, aber manchmal ist es schlichtweg überfordernd.

Das fängt schon bei der Vorauswahl an. Ein guter erster Schritt: streichen wir alle großen Filme, die schon über einen deutschen Kinostart verfügen oder dessen Chancen darauf gut stehen und gehen in den Nebensektionen perlenfischen. Hong Sang-soos Filme sollten, wenn man mich fragt, immer unter den Empfehlungen sein, aber im Grunde muss das jeder selber wissen. Man liebt seine Filme oder man sitzt verrätselt und gelangweilt vor ihnen. In Grass wird sich das nicht schlagartig ändern.

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Kim Minhee in „Grass“, KOR 2018, von Hong Sangsoo © JEONWONSA Film Co.

 Für die Sundance-Jünger: Yardie und Madeline’s Madeline

 Auf jeder Berlinale gibt es einen kleinen Schwung Filme, die vom Sundance Film Festival herüber schwappen. In diesem Jahr ist das zum Beispiel Yardie, das Regiedebüt von Iris Elba (The Mountain Between Us). Er erzählt die Geschichte eines jamaikanischen Drogendealers im London der 1970er Jahre, der als Kind den Mord an seinem Bruder mit ansehen musste und seither auf Rache sinnt. Da sind wir auch schon beim Punkt: er erzählt. Die Stimme des Protagonisten erinnert sich aus dem Off an seine Vergangenheit – selten die spannendste Perspektive. Yardie ist trotzdem gelungener als die meisten Regiedebüts von Schauspielern. Weil er auch den anderen Figuren Handlungsspielraum gibt und vor allem: seine hardboiled-story mit jamaikanischen Dancehall-Klängen vermischt. Das ist die wohl letzte Musik, die man mit dem grauen London der 70er verbinden würde. Eine überraschend vibrierende Mischung.

 

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Aml Ameen in Idris Elbas „Yardie“, GBR 2018 © STUDIOCANAL

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Helena Howard in „Madeline’s Madeline“, USA 2018, Regie: Josephine Decker © Ashley Connor

Noch ein Sundance-Film: Josephine Deckers Madeline’s Madeline. Nach Butter On The Latch und Thou Wast Mild And Lovely ihr dritter Film im Berlinale-Forum, wieder mit einer jungen Frau im Mittelpunkt. Madeline geht in ihrem Theaterworkshop komplett aus sich heraus – aber auch im Alltag scheint sie lieber zu spielen als sie selbst zu sein. Ihre Mutter (Achtung: Miranda July!) sieht in ihr deshalb ständig nur die psychische Störung, will sie beschützen, aber nicht ernst nehmen. Wer die Filme Josephine Deckers kennt, weiß, dass sich bei ihr die Grenzen des Coming-of-Age-Genres dehnen, die Grenzen zwischen filmischer Konvention und Experiment, die Grenzen zwischen Identität und Performance.

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Natalie Dormer in „Picnic at Hanging Rock“, AUS 2017, Regie: Larysa Kondracki © FremantleMedia Australia

Für die Referenzen-Sucher: Picnic At Hanging Rock und The Green Fog

Wenn ich an dieser Stelle die Serie Picnic At Hanging Rock von Larysa Kondracki empfehle, deren ersten zwei Episoden im Berlinale Special laufen, dann nutze ich im Grunde nur schamlos die Gelegenheit aus auf eine großartige frühere Verfilmung des zugrundeliegenden Romans hinzuweisen: Peter Weirs (Die Truman Show) Film über das mysteriöse Verschwinden einer Handvoll Schülerinnen aus einer Mädchenschule mitten im australischen Nirgendwo trägt in Deutschland den fürchterlichen Titel Picknick am Valentinstag, aber davon sollte man sich keinesfalls abschrecken lassen. Es ist ein wunderbar fiebriges, traumhaft hypnotisches Werk voller engelshaariger Mädchen in weißen viktorianischen Kleidern.

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Guy Maddins „The Green Fog“, USA/CAN 2017

Im Forum vertreten ist hingegen Guy Maddin, dessen neuer Film The Green Fog formal gewissermaßen die Antithese zu seinem letzten Berlinalefilm The Forbidden Room bildet. Dieser bestand aus neu gedrehten Szenen, die aussahen wie uraltes verschollenes Material aus der Übergangszeit zwischen Stumm- und Tonfilm. The Green Fog setzt sich hingegen wirklich aus den verschiedensten Fundstücken zusammen, die über die Jahre in San Francisco gedreht wurden. So entsteht eine bruchstückhafte Hommage an Alfred Hitchcocks Klassiker Vertigo.

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„Hotel Jugoslavija“, von Nicolas Wagnières, CHE 2017 © C-Side Productions

Für die Lernwilligen: Hotel Jugoslavija, Teatro de Guerra & Yours In Sisterhood

Eine Reise in die Vergangenheit ermöglicht uns Hotel Jugoslavija, der Essayfilm des Schweizers Nicolas Wagnières. Er portraitiert das gleichnamige Hotel in Belgrad, ein ehemaliges Prestigeprojekt des Ostblocks, in dem er Teile seiner Kindheit verbrachte. Interviews mit der Mutter und ehemaligen Angestellten des Hotels vermischen sich mit Filmszenen, die über die Jahre in dem Gebäude gedreht wurden oder einem alten Clip aus der DDR der 1970er Jahre, in dem sich Werbung und Propaganda aufs Skurrilste vermischen. Das Hotel Jugoslavija, so stellt sich bald heraus, bedeutete für die Leute eine Art gelebte Essenz der Sozialismus-Utopie. In ihm spiegelt sich eindrucksvoll die Geschichte, Aufstieg und Fall des Projekts Jugoslawien.

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„Yours in Sisterhood“, USA 2018, Regie: Irene Lusztig

In anderen Filmen der Berlinale 2018 spielen Worte die Hauptrolle. Beispielsweise in Teatro de Guerra von Lola Arias, die in einer kahlen Halle vor weißen Studiohintergründen ehemalige britische und argentinische Soldaten des Kriegs um die Falklandinseln aufeinander treffen lässt. Zugegeben: das Ehepaar Gregor geht nach der ersten Hälfte der Pressevorführung, das ist sicher nicht das beste Omen für einen Forumsfilm. Aber dass die Geschichten dieser Männer einen trotz des künstlichen, ja theatralen Settings nicht mehr loslassen, spricht für ihn. Ähnlich ist es in Irene Lusztigs Yours In Sisterhood. Für dieses Projekt ist die Filmemacherin zwei Jahre lang quer durch die USA gefahren und ließ Frauen auf der Straße aus Leserbriefen vorlesen, die in den 1970er Jahren an das feministische Magazin Ms geschrieben wurden. So spannt sich ein breites Panorama weiblicher Lebenswirklichkeiten und feministischer Anschauungen auf.

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„11 x 14“, USA 1977 – Österreichisches Filmmuseum © James Benning

Für die Hobby-Historiker: Das Gegenprogramm zur Retrospektive

Wie immer im Forum laufen eine Handvoll historischer Raritäten, die im Laufe des vergangenen Jahres neu restauriert wurden – und das ist ein Glück. Denn die Retrospektive zum Weimarer Kino überschlägt sich in diesem Jahr leider nicht gerade vor Originalität. Irgendwie passend: das Forum war schließlich auch mal als eine Art Gegenveranstaltung gedacht. Hier findet sich zum Beispiel der frisch vom Arsenal und dem Österreichischen Filmmuseum restaurierte 11 x 14, der erste Langfilm von James Benning, 1977. Ein eigentümlicher Film ohne klassische Narration, dafür aber mit langen Zugfahrten, weißem Dampf, der aus Schornsteinen aufsteigt und Figuren, die immer wieder auftauchen, ohne dass man so recht versteht, was sie miteinander zu tun haben.

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Edgar Reitz, Ula Stöckl: „Geschichten vom Kübelkind“, DEU 1971 © Edgar Reitz Filmstiftung

Es bleibt episodisch in den Geschichten vom Kübelkind von Ula Stöckl und Edgar Reitz. Die 25 auf 16mm-Material gedrehten Kurzfilme über ein eigenwilliges ‚Kind‘ aus der Krankenhausmülltonne wurden 1971 in einem Münchner Kneipenkino gezeigt, in dem die Gäste sie einzeln aus einer Menükarte wählen konnten. Mit When I Am Dead And Pale von Živojin Pavlović bietet sich die Möglichkeit, einen jugoslawischen Punkfilm zu sehen: er handelt von Jimmy, der unbedingt als Sänger ganz groß rauskommen will, portraitiert gleichzeitig aber auch die Stimmung in den Belgrader Vororten während der 1960er Jahre. In Santo contra Cerebro del Mal von Joselito Rodríguez hingegen ist der große Star ein Wrestler hinter einer silbernen Maske. Rodolfo Guzmán Huerta alias El Santo löste einen Hype um die mexikanischen Luchadores aus – dass wir den Film heute sehen können, ist trotzdem nicht selbstverständlich. Denn bei dem Erdbeben in Mexiko 2017 wurde das Permanencia Voluntaria Archiv, das viele Kopien der Lucha-Filme beherbergte, stark beschädigt. Noch prekärer war die Lage nur bei dem nigerianischen Shaihu Umar von Adamu Halilu, der jahrzehntelang als verschollen galt. Erst 2016 wurden die Kopien des Dramas von 1976 im Archiv der Nigerian Film Corporation wiederentdeckt.

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„Abnormal Family“, JPN 1984 Regie: Masayuki Suo (c) 2018 Kokuei / Rapid Eye Movies

Selbst zum Großmeister Yasujiro Ozu, der in den Berlinale Classics mit dem frisch restaurierten Tokyo Boshoku vertreten ist, gibt es im Forum eine Alternative. Eine kleine Retrospektive zur damals unter dem männlichen Pseudonym Daisuke Asakura agierenden Produzentin Keiko Sato widmet sich den pinku eiga: japanischen Softsexfilmen vornehmlich aus den 1960er und -70er Jahren. Diese hatten ihren westlichen Pendants zumeist einiges voraus, ging es doch nicht nur darum, möglichst viele Sexszenen halbwegs schlüssig aneinanderzureihen. Viele Nachwuchsregisseure nutzten das Genre und die dafür zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel, um darin ihre künstlerischen und avantgardistischen Fantasien auszuleben. Abnormal Family, das Regiedebüt von Masayuki Suo, kommt denn auch gleich als Ozu-Hommage daher und erzählt von den Eskapaden einer gutbürgerlichen Familie. Masao Adachis Gushing Prayer portraitiert hingegen die düstere Stimmung der Jugend nach dem Scheitern der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre und Atsushi Yamatoyas Inflatable Sex Doll of the Wastelands ist ein halluzinatorischer Yakuza-Krimi, angesiedelt in der Tokioter Unterwelt.

Katrin Doerksen

Ihre Texte bei uns. Zu ihrem Blog  l’âge d’or  geht es hier. Auf Twitter hat sie viele Kino-News. Und sie gehört zur Frau- und Mannschaft von kino-zeit.de, die nach 15 Jahren und 25.000 Filmen gerade ein gelungenes Relauch hingelegt hat. Dort besonders zu empfehlen: der Kinowecker, der individuell anzeigt, wann ein bestimmter Film in einem Kino in der Nähe läuft oder wann eine bestimmte DVD erscheint.

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