Geschrieben am 15. April 2016 von für Bücher, Crimemag, News

Roman: Urban Waite: Keine Zeit für Gnade

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Von Peter Münder

Urban Waite hatte schon in „Schreckensbleich“ und „Wüste der Toten“ kriminelle Aktivitäten an der amerikanisch-kanadischen Grenze beschrieben, die verheerende emotionale Auswirkungen auf familiäre Beziehungen hatten. Im neuesten Band „Keine Zeit für Gnade“ steht ein Vater-Sohn Konflikt im Mittelpunkt, den die beiden Protagonisten einfach nicht in den Griff bekommen.

„The Terror of Living“ lautete der Originaltitel des 2011 als „Schreckensbleich“ in deutscher Übersetzung veröffentlichten Thrillers von Urban Waite (Vgl. Culturmag hier), in dem die Brutalität des  Konflikts von Wunschdenken und erbarmungsloser Alltagsrealität thematisiert wurde. Hier im einsamen bergigen Grenzgebiet an der kanadischen Grenze phantasiert sich mancher in ein sorgloses Luxus-Dasein hinein, nach der Devise: Nur noch einen letzten, lukrativen Coup durchziehen und dann ein Leben in Saus und Braus genießen. Doch die Keulenschläge, die dann auf diese Traumtänzer einprasseln, zeigen nur, dass jeder Dealer an seinem Drogenpäckchen schwer zu tragen hat, wenn er nach den erlittenen Tiefschlägen dazu überhaupt noch in der Lage ist und nicht längst umgebracht wurde.

Urban Waite, 36, lebt in Seattle, wo er auch studierte. Die Einsamkeit der Wälder in der naheliegenden kanadischen Grenzregion hat ihn stark fasziniert und geprägt, was sich in seinen Büchern  auch wiederspiegelt.

„Sometimes the wolf“ heißt der Originaltitel des neuen Bandes. Im Nest Silverlake wurde seit Jahren kein Wolf mehr gesichtet; wenn jetzt also Schafe gerissen werden, beunruhigt das nicht nur die Farmer. Was die Einwohner  außerdem irritiert, ist die zur selben Zeit erfolgte Entlassung des Ex-Sheriffs Patrick Drake, der 12 Jahre im Knast wegen Drogenhandels abgesessen hat. Drake war hoch verschuldet; er wollte mit dem üppigen Dealer-Geld die teure Krebstherapie seiner Frau bezahlen. Aber die Gerüchte drehen sich auch um zwei Morde, die er begangen haben soll und um 200 000 Dollar, die er für die Zeit nach seiner Entlassung offenbar irgendwo versteckt hat.

Jetzt kehrt er zu seinem Sohn Bobby zurück, der in Silver Lake auch Sheriff geworden ist und ihn zusammen mit seiner Frau Sheri bei sich aufnimmt – aber wie soll das funktionieren? Das Misstrauen des Sohnes gegenüber seinem verschlossenen, unberechenbaren Vater ist extrem und in jeder Minute spürbar, doch Bobby versucht verkrampft, seine guten Absichten zu verdeutlichen und eine Art einlullenden Familien-Kokon zu spinnen. Die Double-Bind Situationen sind aber einfach nicht auflösbar, immer schwebt die Frage nach den vom Vater begangenen Morden, nach dem versteckten Geld und nach seinen weiteren Plänen im Raum.

Dann sind plötzlich zwei  ausgebrochene Knastbrüder hinter Drake her, um herauszufinden, wo die 200 000 Dollar  abgeblieben sind. Drake Junior sieht sich dann mit einer weiteren heiklen Situation konfrontiert, als der FBI-Agent Driscoll auftaucht, der damals den Drogen-Deal von Drake Senior aufdeckte und den Sheriff hinter Gitter brachte. Driscoll will ihn sofort wieder einbuchten, weil er ihn auch für einen Mörder hält – wem soll der junge Sheriff noch glauben, wie soll er sich verhalten, als sein Vater plötzlich auf der Flucht ist?

Waite  hat den spannenden Plot um den verfolgten kriminellen Sheriff und seine viel brutaleren und kriminelleren  Jäger auf eine Dimension ausgeweitet, die um Fragen von Schuld und Sühne kreist, um familiäre Bande und um ethisch-moralische Grauzonen, die für die Protagonisten kaum noch zu durchschauen oder zu lösen sind. In „Schreckensbleich“ hatte Waite noch ein  dichtes Ambiente evoziert, das mit knallharten Dialogen und düsteren Landschafts-Impressionen eindrucksvoll unterfüttert war.

Dieser mitreißende Gesamteindruck wird hier jedoch trotz der überraschenden Auflösung und faszinierender „Bösewicht“- Psychogramme phasenweise in eine Art gesprächstherapeutisches Kolloquium verwässert, weil nun die Streitgespräche zwischen Vater und Sohn sowie die Zänkereien zwischen Bobby und seiner Frau Sheri überflüssigerweise vor uns ausgebreitet werden. „Terror of Living“ kann eben auch „Terror of Talking too much“ bedeuten, aber „Pleasure of Reading“ ist beim hochklassigen Autor Waite natürlich trotzdem über weite Strecken garantiert.

Urban Waite: Keine Zeit für Gnade. („Sometimes the wolf“ 2015). Roman. Aus dem Amerikanischen von Marie-Luise Bezzenberger. München: Knaur 2016, 352 Seiten. 9,99 Euro.

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