Wahrnehmungslücken und -verschiebungen
Von Sonja Hartl
Die Welt in China Miévilles „Dieser Volkszähler“ hat fantastische und postapokalyptische Züge, sie ist gekennzeichnet von einer Dualität, von denen auf dem Berg und denen im Dorf, von den Anderen und den Hiesigen. Es gibt verlassen-verwahrloste Gebäude, Brückenkinder und ein Loch, in dem alles verschwindet.
Der Junge, der im Mittelpunkt des schmalen Buchs steht, lebt außerhalb eines kleinen Brückendorfes auf dem Berg. Seine Mutter kümmert sich um den Garten, sein Vater ist ein Schlüsselmacher, den die Leute aufsuchen, wenn sie sich etwas wünschen – besseres Wetter, gute Erträge oder den Tod eines Menschen. Er macht ihnen dann einen Schlüssel und sie werden nie wiederkommen. Doch gleich zu Beginn des Buchs passiert etwas anderes: Der Junge kommt verstört vom Berg heruntergelaufen und sagt, die Mutter hätte den Vater getötet, oder nein, der Vater hätte die Mutter getötet. Doch es gibt keine Beweise, lediglich einen Abschiedsbrief der Mutter und daher muss der Junge weiter bei seinem Vater leben.
In diesem Buch ist wunderbarerweise nichts eindeutig. Das beginnt schon beim Erzähler. „Ein Junge rannte schreiend einen Berg runter. Der Junge war ich.“ lauten die ersten zwei Sätze dieser Erzählung und damit wird ein Erzähler etabliert, der versucht, sich an Vergangenes zu erinnern, dessen Erinnerungen aber weder vollständig noch zuverlässig sind. Daher ist hier gleichermaßen wichtig, was erzählt und was nicht erzählt wird, zumal sich die Leerstellen verschieden füllen lassen. Außerdem verschieben sich die Erzählperspektiven, mal gibt es „den Jungen“, dann wieder „ich“, mal geht es um die Kindheit, also um Vergangenes, dann um die Gegenwart des Schreibens des Buchs, wobei der Erzähler sein eigenes Alter nicht benennen kann. Das Setting ist gleichermaßen konkret wie diffus: Definitiv ist die Welt in diesem Roman postapokalyptisch, aber dieser Zustand wird nicht erklärt, sondern beschrieben, indem beispielsweise Fledermäuse von Brückenkindern mit Insektenködern aus der Luft geangelt werden.
Das wahrlich Wundervolle an diesem Buch
Die karge Sprache und Erzählung korrespondieren mit der Landschaft, mit dem Zustand dieser Gegend in dieser Zeit. Es gibt bedrohliche Gerüchte über Fremde, zu denen auch der Vater gehören kann, hinzu kommt die mysteriöse Rolle des „Volkszählers“, der wiederum andere beschäftigt – und dieser Welt kafkaeske Züge verleiht. Dabei weiß man aber nicht, ob diese Beschreibungen nicht auch der Fantasie eines Kindes und damit des Erzählers entsprungen sein könnten. Denn er ist ein traumatisiertes Kind, das ein Trauma erlebt in einer traumatisierten Welt. Gelegentlich gibt es Hinweise auf die Verfassung des Erzählers, auf seine Gegenwart, auf seine erworbenen Sprachfähigkeiten. Aber mehr ist nicht zu erfahren, vielmehr scheint man immer nur kurz vor eine Erklärung zu kommen, die dann aber dennoch im Dunkeln bleibt. Ein Beispiel hierfür ist schon der Titel: Es ist „dieser“ Volkszähler, nicht „der“ Volkszähler, aber es ist nicht mit Sicherheit zu sagen, wer „dieser“ Volkszähler ist, es könnte der Junge sein, es könnte der Volkszähler sein, der schließlich erscheint, es könnte aber auch der Leser gemeint sein.
Somit ist „Dieser Volkszähler“ ein Buch, das sich nicht einordnen lässt. Am ehesten ließe es sich wohl als fantastische Science-Fiction-Gothic-Novel beschreiben oder wie sich der Autor selbst einordnet: als weird fiction. Und das ist das wahrlich Wundervolle an diesem Buch: Miéville zeigt nicht bloß, was innerhalb eines Genres möglich ist, sondern was innerhalb einer Auseinandersetzung mit verschiedenen Genrekonventionen stecken kann. Letztlich geht es daher vor allem um Wahrnehmungen in diesem Buch, es geht darum, was noch ist, was gesehen werden kann und was gesehen wird. Und so wird auch das Fantastische in diesem Buch zu einer Frage des Blickwinkels. Es ist da, wenn wir es sehen und entdecken.
Sonja Hartl
China Miéville: Dieser Volkszähler (This Census-Taker, 2016). Übersetzt von Peter Torberg. Liebeskind, München 2017. 176 Seiten, 18,00 Euro.