Das Verbrechen, ordnungspolitisch betrachtet
„Das einzige gute Verbrechen ist das organisierte Verbrechen. So beginnt die Epoche des Polars à l’américaine“, notierte Jean-Patrick Manchette in seinen „Chroniques“. Das ist lange her, aber vielleicht beginnt gerade wieder eine kleine Epoche aus diesem Geist: die des „neuen“ britischen Gangsterromans. Gangsterromane hatten und haben es gegen die braven Polizeiromane des Mainstreams immer schwer. „Gangland“ von Howard Linskey gibt zu schönsten Hoffnungen Anlass. Thomas Wörtche freut sich …
Das Schicksal literarischer und überhaupt fiktionaler Gangster ist das Scheitern, so sah das der amerikanische Theoretiker Robert Warshow 1948. Denn die Aufgabe der Massenkultur, deren Produkt der „Gangster“ ist, besteht darin „die allgemeine Moral aufrechtzuerhalten“.
Scheitern muss der Gangster, weil er zum Erfolg verdammt ist und nach Erfolg streben im modernen Bewusstsein, so sah es Warshow, ein Akt der Aggression ist, für den man „bestraft“ wird. „Der Erfolg ist böse und gefährlich“, das Scheitern „eine Art von Tod“ – und weil dieses Dilemma unlösbar ist, muss der Gangster am Ende sterben. Das ist sehr amerikanisch-protestantisch gedacht, und seltsam subtil daneben. Ein letzter Aufschein von Moral, das in dem ur-amerikanischen Streben nach Erfolg noch ein dialektisches moralisches Moment sieht. Bemerkenswert an Warshows Argumentation ist: Der Gangster als Figur des Scheiterns findet explizit nicht bei Dashiell Hammett und später, nach Warshows Lebzeiten, auch nicht bei Jerome Charyn statt, der Hammetts Grundannahme weiter gedacht hat, dass das organisierte Verbrechen ein Modus des Profitmachens ist wie jeder andere Wirtschaftszweig auch. Sowohl Hammetts Erzählungen um den Continental Op als auch die Isaac-Sidel-Saga von Charyn gehören zwar dem äußeren Anschein nach zur „Massenkultur“, benutzen deren Codes und sind dennoch sowohl formal als inhaltlich etwas anderes. Warshow hat zwar instinktiv den grundsätzlich affirmativen Charakter von „Massenkultur“ verstanden und selbst das subversive Potential in seiner ganzen verwickelten Dialektik darin gesehen, konnte sich jedoch eine Funktionsdifferenz im Falle der vorhandenen Strukturanalogie nicht vorstellen. Hammett und Charyn sind keine Massenkultur, sondern führen einen ganzen anderen Diskurs sui generis.
Verbrechens-Chronik
Womit wir, finally, bei Howard Linskey wären, einem direkten Nachfahr von Dashiell Hammett und Jerome Charyn. „Gangland“ (im Original viel plausibler: „The Damage“, über die deutsche Titelfindung spekulieren wir lieber nicht) ist nach „Crime Machine“ (im Original „The Drop“, wie gesagt …) der zweite Roman um ein nettes lokales Gangstersyndikat in Newcastle-upon-Tyne. Im ersten Roman haben wir erfahren, wie der consigliere David Blake den Laden nebst Tochter des von ihm betrüblicherweise eigenhändig hingerichteten Vorbesitzers übernehmen und sich, obwohl er eher für unblutiges Brainwork zuständig ist, auch mit der Machete betätigen musste, um einen unerfreulichen und entschieden unfreundlichen Übernahmeversuch von Kollegen aus Glasgow abzuwehren.
In „Gangland“ geht die Firmenchronik weiter. Blakes Laden ist gut aufgestellt, die Geschäfte florieren, zumal man in der Türkei einen neuen verlässlichen Großimporteur für Drogen gefunden hat. Nur ein kleiner, lokaler Subunternehmer macht ein paar Probleme, aber nichts, mit dem Blake und seine leitenden Mitarbeiter nicht fertig werden könnten. Bis plötzlich Mordanschläge auf Blake und seine Leute beginnen, erfolgreiche und weniger erfolgreiche. Dennoch wird Danny, Blakes Bruder, der gerade einen Top-Job in dem Gastronomiezweig des Betriebs angefangen hat, verkrüppelt. Woher kommen diese Attacken?
Das ist der suspense-Faden, den Linskey sehr geschickt aufspannt und an dem entlang der Roman erzählt ist. Lakonisch, knapp, mit einer gewissen leisen Süffisanz, ziemlich action-haltig und mit vielen bemerkenswerten kleinen, klugen und hellsichtigen Ex- und Diskursen über Sinn und Wesen des Gangstertums, besser: des organisierten Verbrechens. Warshow war noch der Meinung, der „Gangster“ sei eine Kunstfigur, die es im wirklichen Leben nicht gebe, dort gebe es nur „Kriminelle“. Damit folgte er – sicher unbewusst – der Doktrin von J. Edgar Hoover und dem FBI seiner Zeit, die nur Staatsfeinde N° 1 akzeptierten (die dann leichter zu jagen und erlegen waren, wie Bonnie & Clyde etc), aber keine systemtheoretisch zu betrachtenden Strukturen organsierten Verbrechens – die Existenz von „Mafia“ wurde lange offiziell geleugnet. Dagegen ist Linskeys Analyse und Weltsicht eine andere, reflektiertere, weniger naive.
Wie Hammett und Charyn hat er die ordnungspolitischen Implikationen von Organized Crime verstanden. Ein schöner Plot-Strang von „Gangland“ geht so: Im benachbarten Edinburgh ist durch den Tod des lokalen Firmenchefs Chaos und Anarchie ausgebrochen. Ein Machtvakuum. Diadochenkämpfe, schwachköpfige Brutalos mit Knarren ballern durch die Gegend und prügeln sich ohne Sinn und Verstand, schlechter Stoff wird vertickt, die Mädels auf dem Strich und in den Puffs werden mies behandelt, und zu guter Letzt kommen noch Touristen in Gefahr, zu Kollateralschäden zu werden. Die Polizei blickt nicht mehr durch und wird zu blindem Aktionismus getrieben. Das ist nicht gut. Also beschließen Polizeiführung und politische Kreise in London, unter Einbeziehung der benachbarten Gangs aus Glasgow und eben Newcastle den Unternehmensbezirk Edinburgh konfliktfrei aufzuteilen und zu regulieren, nach dem die De-Regulierung furchtbar gescheitert war. Linskey erzählt maliziös, ironisch, aber keinesfalls satirisch, wie notwendig das organisierte Verbrechen bei der Versorgung der Bevölkerung mit „Laster“ alles Art ist, für die sich „der Staat“ aus politisch-ideologischen Gründen nicht interessiert oder gar prohibitiv agiert (was natürlich für besonders hohe Profitraten sorgt). Er zeigt, wie die ordnungspolitischen Schnittmengen von Polizei und OK immer größer und für die „Zivilisten“ attraktiver werden: Ruhe und Ordnung auf den Straßen, guter Stoff, motivierte SexarbeiterInnen und andere schöne Laster. Die Kundenzufriedenheit des braven Bürgers ist das höchste Ziel der Gangster, weil dann auch Profite am höchsten sind. Das Arnold-Rothstein/Meyer-Lansky-Modell als Gesellschaftstheorie.

Jerome Charyn, Foto: Unionsverlag
Unternehmens-Chronik
Der Gangster-Roman als Unternehmensgeschichte. Alle gesellschaftlichen Gruppen haben ihre partiellen Interessen am reibungslosen Ablauf der Geschäfte. Ohne Organisiertes Verbrechen geht gar nichts – Jerome Charyn hat das an seinem Beispiel New York City oft gezeigt: Keine Müllabfuhr, keine Lebensmittellogistik, nichts geht im Big Apple, wenn sich Rathaus und die führenden Mobster nicht einig sind. Außerdem gilt Charyns Maxime: Where is crime, there is money, where is money, there is culture … Howard Linskey hat all diese Erkenntnisse jetzt ein paar Nummern kleiner für England und Schottland formuliert und damit den Rahmen für seine kleine, miesen Geschichten um Verrat, Rache, Loyalität und Betrug zu erzählen, die den human factor des Romans ausmachen. Wobei der human factor eben nicht unabhängig von den erzählten Verhältnissen ist, sondern direkt von ihnen begründet wird. Es gibt nichts außerhalb der Kontexte. Dieses Prinzip macht die Bücher von Linskey so intelligent.
„Gangland“ ist konsequent, manchmal ein bisschen ruppig, ungefühlig (man kann an manchen Stellen sicher auch sagen: ein wenig herzlos) und sehr unterhaltsam. Vielleicht sogar ein Hinweis auf eine kleine Renaissance des Gangsterromans, Ableitungen wie die Killer-Romane von Malcolm Mackay legen das nahe. Das wär doch was!
Thomas Wörtche
Howard Linskey: Gangland (The Damage, 2012). Roman. Deutsch von Conny Lösch. München: Knaur TB 2014. 412 Seiten. 9,90 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autor.