Geschrieben am 2. Dezember 2016 von für Bücher, Litmag

Daniel Kothenschulte (Hg.): Das Walt Disney Filmarchiv

disney_archives_movies_1_xl_gb_as001_01150_1609081030_id_1076764Das Filmbuch des Jahres

– „Ich kann niemals stillstehen. Ich muss mich weiterentwickeln und experimentieren. Ich bin nie zufrieden mit meiner eigenen Arbeit. Ich ärgere mich über die Grenzen meiner eigenen Vorstellungskraft.“ (Walt Disney)

Alf Mayer hatte 6,2 Kilogramm auf den Knien, aber längst nicht nur deshalb hält er „Das Walt Disney Filmarchiv. Die Animationsfilme 1921–1968“ für ein äußerst schwergewichtiges Werk. Hier seine Begründung.

Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt, das wird klar mit diesem Buch. Wer bisher geglaubt hatte, Walt Disney sei abgehakt, längst genügend dargestellt und eingeordnet in Dutzenden von Büchern und einer Handvoll ausführlicher Dokumentationen, der wird hier etwas Besseren belehrt.
Dieses traumschöne, mehr als sechs Kilogramm schwere Buch ist eine Offenbarung – Disney und seine Filme, wie man ihn und sie noch nie erleben konnte. Für mich ist es das Filmbuch des Jahres 2016. (Und ein prachtvolles Geschenk obendrein, unter dem der weihnachtliche Gabentisch sich biegt.) Es ist ein Paukenschlag sondergleichen, eine verlegerische wie auch autorenschaftliche Großtat. Ein Wunder. Ein Geschenk. Eine Offenbarung. Und ein Versprechen auf mehr. (Siehe auch den Buchauszug „Comic-Opern aus der Wildnis“ hier nebenan.)

Millionen ungehobener Schätze

Auf 800 bis 900 Seiten angelegt hatte Daniel Kothenschulte ursprünglich sein Disney-Projekt für den Verlag Taschen. Seit seiner Kindheit ist er von Animationsfilmen begeistert; als Journalist, der er ist – er zeichnet als ein Nachfolger von Wolfram Schütte für den Filmteil der „Frankfurter Rundschau“ verantwortlich -, recherchierte er vor Ort, bekam Zugang zu bisher nie gezeigten Schätzen, stellte die wohl richtigen Fragen, erhielt viele Antworten und Einblicke. Noch nie zuvor zu sehen waren viele der Illustrationen im Buch, darunter ganze Szenenentwürfe, etwa zu „Fantasia“ oder dem „Dschungelbuch“. Allein in den Klimakammern der Disney’s Animation Research Library ruhen geschätzt mehr als sechs Millionen heute wohl als Kunstwerke einzustufender Artefakte aus der Produktionsgeschichte des Hauses Disney. Die Liste der für das Buch konsultierten Archive und Sammlungen ist beachtenswert, die Beiträge hochgeachteter Autoren zeigen, welchen Stellenwert das Unterfangen auch in der Fachwelt hat.

„Das Walt Disney Filmarchiv. Die Animationsfilme 1921–1968“ hat 650 großformatige Seiten und über 1500 Illustrationen. Behandelt werden darin in 31 üppigst illustrierten Kapiteln all die zu Lebzeiten von Disney selbst mitbetreuten Filme. Es ist (erst) Band 1 einer wohl auf vier oder fünf Bände angelegten ultimativen Disney-Edition. Das Vorhaben darf man ein wenig mit dem Pyramidenbau vergleichen. In der heutigen Verlagslandschaft und angesichts der kümmerlich-ängstlichen Lage auf dem Filmbuchmarkt ist solch ein Projekt mehr als ein Leuchtturm, es ist eher eine Marsexpedition. Ein Unternehmen, bei dem für viele Verlage die Luft schnell zu dünn und unwirtlich wäre. Benedikt Taschen dagegen und seinem international bestens aufgestellten Verlag ist es zuzutrauen.

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Türklinke bei Taschen in Köln (Foto: Alina Gordienko)

Jedenfalls haben sich da zwei gefunden. Leider fehlt im 116 Seiten starken deutschsprachigen Booklet des in Englisch gedruckten Monumentalwerks die kleine Referenz von Daniel Kothenschulte auf einen bestimmten Türknauf im Verlagshaus von Taschen in Köln. Niemand, der dort hineingeht, kann es vermeiden, nicht mit einem bestimmten Entenschnabel aus Bronze in Kontakt zu kommen. Als hätte der Hausherr immer schon eine Ahnung gehabt. „Ich weiß nicht, wem ich dankbarer sein soll“, schreibt Autor Kothenschulte, „Benedikt Taschen oder Donald Duck.“

Auch ein Altmeister wie Leonard Maltin, der es gewiss nicht nötig hat, verneigt sich vor dem Gespann Kothenschulte & Taschen. Für das Buch hat er einen Text über eines der schwierigsten Themen geschrieben, nämlich über den seit langem nicht mehr zugänglichen Film Song of the South (Onkel Remus‘ Wunderland) von 1946, der auf einer Südstaaten-Plantage spielt und dem Rassissmus-Verdacht unterliegt. Der britische Kunst- & Disney-Historiker – ja, das geht unbedingt zusammen, auch das macht dieses Buch immer wieder klar – Robin Allan erlebte die Fertigstellung des Buches leider nicht mehr, er hatte mehr als ein Jahrzehnt über Disney & Europa geforscht. Mit drei Essays ist er vertreten: zu Schneewittchen und die Sieben Zwerge, zu Make Mine Music und zu Melody Time.

duncan_ChaplinOb Stanley Kubrick, Ingmar Bergman, Pedro Almodóvar oder die Bond-Filme, die von Paul Duncan herausgegebenen bisherigen „Archiv“-Bände waren gewaltig schöne und monumentale Filmbücher, zuletzt das „Chaplin-Archiv“ (CulturMag-Besprechung hier). Nun wird dieses Niveau noch übertroffen. So detailliert und fundiert recherchiert, dazu bestens illustriert, hat es – sage ich – noch kein monografisches Filmbuch gegeben. Fast muss man von einer neuen Spezies sprechen. Anna-Tina Kessler in Los Angeles hat über ein Jahr an dem Design für das Buch gearbeitet, das Ergebnis vermag einem den Atem zu verschlagen, wie es einem sonst nur vor der Leinwand im Kino geschieht. Ein Buch als Erlebnis, als monumentale, immer wieder überraschende und verzaubernde Bilderreise.

Im Herzen der Kreativität: „Hear the Pictures! See the Music!“

Auch die Textebene hat es in sich. Daniel Kothenschulte hat Koryphäen versammelt. Größen wie Dave Smith, Charles Solomon, J. B. Kaufman, Russell Merritt, Robin Allan (der Disneys Verbindungen mit Europa erforschte), Mindy Johnson, Brian Sibley oder die Berliner Filmjournalistin Katja Lüthge beleuchten die Entstehungsgeschichte jedes einzelnen Films und würdigen die kreativen Köpfe, die Animatoren und Designer hinter den Kulissen. Der ausgewiesene Donaldist Andreas Platthaus (Von Mann und Maus. Die Welt des Walt Disney; 2001) ist ebenfalls mit von der Partie.

Über die schiere Illustrations- und Detailfülle hinaus macht vor allem eine Sache dieses Buch so lebendig und aufregend, Autor wie Verlag gelingt nämlich das Kunststück, den Kreativprozess (quasi unmittelbar) selbst erleben zu lassen. Dies an vielen, herausragend illustrierten Beispielen. „Hear the Pictures! See the Music!“, wie es als Überschrift für „Fantasia“ heißt. Großzügige Bildstrecken – alleine etwa das Fantasia-Kapitel umfasst 55 Breitand-Seiten – mit viel „Production Art“, also für die Filme angefertigte Zeichnungen und Gemälde, verdeutlichen die Momente, in denen visuelle Ideen auf Papier und Zelluloid zu strahlen beginnen. Anders als bei vielen Filmbüchern üblich sehen wir nicht „nur“ Standbilder aus den Filmen, sondern erleben das Werden der Filme mit. Wir sehen Szenen, die verworfen wurden, sehen Entwürfe, die nicht weiterverfolgt wurden, sehen Varianten und interessante Nebengleise. Concept Paintings und Storyboards lassen die Entstehung von Ideen nacherleben, sogenannte Cel-Setups (von Zelluloid hergeleitet) zeigen berühmte Filmszenen in größter Detailtreue. Werkfotos der Disney-Fotografen und Mitschriften der Storykonferenzen zwischen Walt und seinem Team gestatten detaillierte Einblicke in die kreative Arbeit der Walt Disney Studios. Alleine diese Mitschriften aus dem Kreativprozess sind quasi ein eigenes Buch wert.

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Abbildungen: (c) 2016 Disney Enterprise, Inc. Das Walt Disney Filmarchiv. Die Animationsfilme 1921–1968.

Die umfangreichen Recherchen in den Archiven der Walt Disney Company und in zahlreichen Privatsammlungen finden Niederschlag in vielen bisher unveröffentlichten Informationen und Illustrationen. Alleine zum Beispiel im Kapitel über „Das Dschungelbuch“ finden sich über 50 noch nie gesehene Abbildungen. Ich selbst habe das einmal im British Film Institut mit dem Nachlass zu Stanley Kubricks 2001 erlebt, als ich dort für die Lufthansa recherchierte. Man stellt eine Anfrage und hat, wenn es gut geht, unverschämt viel Glück. Daniel Kothenschulte über seine Fischzüge in der Disyney Animation Research Library, die noch keine 20 Prozent ihrer Bestände katalogisiert oder gescannt hat. „Ich bekam Zugang zu Sachen, die noch kein anderer Forscher gesehen hatte. Vielleicht haben sie auch anders gefragt. Es ist kein Archiv, in dem man einfach herumgehen und Dinge aus einem Regal ziehen kann. Du musst darauf warten, dass sie mit einer Schachtel oder eine Kiste kommen. Oder vielleicht zehn, wenn du großes Glück hast.“ (Bei mir damals im BFI waren es zwei Umzugskartons mit Storyboard-Zeichnungen und Standfotos. Auch ich hatte Glück.)

Frank Lloyd Wright: „Was ihr hier macht, ist taufrisch“

„Die letzte Renaissance-Werkstatt“ betitelt Daniel Kothenschulte seine Einleitung. Er macht darin den reichen Stilpluralismus der Disney-Filme deutlich und – patriarchales Verhalten hin oder her – den Kern des eigentlichen Genies: „Sein Genie ließ ihn das Genie in anderen entdecken.“ Der Titel „Renaissance-Werkstatt“ hat es in sich, je eigenes Kapitel gilt den Hyperion-Studios („Ein Ort des Staunens“) und den Burbank-Studios („Das Studio der Träume“). Junge Künstler hatten dort die Chance, Zeichnen, Komposition, Animation und Handlung zu studieren und in die Studiozusammenhänge zu wachsen. Entworfen wurde die Anlage von Burbank vom Deutschen Karl Emanuel Martin „Kern“ Weber, einem Schüler des Modernisten Bruno Paul. Kern Weber war von Frank Lloyd Wright beeinflusst, der mehrmals selbst auf dem Gelände war und Vorlesungen gab, dabei den Disney-Zeichnern die Modernität ihres Mediums predigte: „Was ihr hier macht, ist taufrisch. Lasst euch nicht durch Sentimentalitäten verführen.“

Daniel Kothenschulte hat Sinn für Hintergründe, Verknüpfungen. Nicht umsonst beginnt seine Einleitung so: „Walt Disney liebte Bücher. Viele seiner großen Animationsfilme beginnen mit dem Öffnen gewaltiger Einbanddeckel. Ebenso war bei der Moderation seiner Fernsehshow der Griff ins Bücherregal geradezu obligatorisch. Die Bände in der Studiokulisse standen stellvertretend für ein unerschöpfliches Erbe an Geschichten und Wissen, das seine Spielfilme anregte und das er in seinen Dokumentarfilmen vermittelte.“ Jedem Menschen, das war Disneys Botschaft, steht dieser gedruckte Wissensschatz zur Verfügung, auch wenn man vielleicht erst einmal auf die Disney-Version des jeweiligen Themas warten muss. „Es liegt ein größerer Reichtum in Büchern als in jedem Piratenversteck auf der Schatzinsel“, war sein Kommentar, natürlich wurde auch dieser literarische Klassiker von ihm verfilmt.

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Abbildungen: (c) 2016 Disney Enterprise, Inc. Das Walt Disney Filmarchiv. Die Animationsfilme 1921–1968.

Die Disney-Biblothek zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. „Zeitgenössische amerikanische Illustratoren und Maler wie Harrison Cady, Grant Wood oder Thomas Hart Benton teilten sich die Bücherregale mit europäischen Positionen des 19. und 20. Jahrhunderts wie Grandville, Ludwig Richter, Gustave Doré, Honoré Daumier, John Tenniel, Arthur Rackham oder Heinrich Kley“, schreibt Kothenschulte. Ihren entscheidenden Zuwachs erhielt die Sammlung durch fast 350 illustrierte Bilderbücher, die Disney während einer Europareise erwarb. Auf Seite 98 etwa sieht man eine Abbildung von Hermann Kaulbachs „Bilderbuch“, dessen später Biedermeier-Stil und Vorliebe für geschnitztes Holz Illustratoren wie Albert Hurter und Gustaf Tenggren inspirierten. Disney hatte das Buch 1935 bei einem Deutschland-Besuch persönlich gekauft, die Abbildung findet sich im Kapitel über den Film „Pinocchio“. Disneys Wertschätzung für die Kunst der Illustratoren findet sich Daniel Kothenschulte zufolge in der stilistischen Bandbreite der „Silly Symphonies“ und in den ersten abendfüllenden Zeichentrickfilmen. „Walt Disney und seine Künstler schufen eine neue Kunstform, doch die Bibliothek im Hause Disney gab ihr eine Geschichte.“

Keiner der ersten fünf abendfüllenden Disney-Zeichentrickfilme gleicht dem anderen. Walt Disney wollte mit dem Medium Animationsfilm alle Wunder darzustellen, welche die menschliche Fantasie erschaffen kann – und zugleich für jeden verständlich sein. Einer seiner Bewunderer, der russische Filmavantgardist Sergei Eisenstein, nannte Disneys Werk 1941 „das universell ansprechendste, das mir je begegnet ist“.

Dieses Buch gibt davon Zeugnis. Jedem der ganz großen Disney-Klassiker ist ein eigenes Kapitel gewidmet, seien es Pinocchio, Fantasia, Dumbo, Bambi, Cinderella, Peter Pan, Susi und Strolch oder 101 Dalmatiner. Aber auch weniger bekannte Juwelen wie die experimentellen Kurzfilme der Silly Symphonies und die lange vernachlässigten musikalischen Episodenfilme wie Make Mine Music und Melody Time in gleicher Ausführlichkeit behandelt. Beachten Sie auch in dieser LitMag-Ausgabe den Buchauszug „Verlorene Pfade in den Westen“, in dem Daniel Kothenschulte Disneys Comic-Opern aus der Wildnis der Vergessenheit entreißt. Wie gesagt, das Kapitel Disney ist noch nicht beendet.

Am 15. Dezember 2016 übrigens jährt sich sein Todestag zum fünfzigsten Mal.

Alf Mayer

PS. Sollte ich aus diesem Buch ein Bild benennen müssen, das mir den Namen Disney fängt, so gäbe es eine Hundertschaft von poetischen. Ich wähle ein seitengroßes Schwarzweißfoto. Aus Seite 255 sitzen 18 Zeichner, die Skizzenblöcke auf den Knien, rund um einen riesengroßen, mit Streu bedeckten Teppich. Mitten auf ihm steht – ein Reh. Bambis Mutter. Ungeheuerliches Bild.

PPS. Besonders explizit widerspricht Daniel Kothenschulte einem gerne gehegten Vorurteil, das viele Werke Walt Disneys ungesehen und unbeachtet ad acta hat legen lassen. „Es ist oft argumentiert worden, dass Walt Disney nach den kommerziellen Misserfolgen von Fantasia und Bambi, der Zäsur des Streiks von 1941 und den finanziellen Engpässen der Kriegsjahre seine Experimentierlust aufgegeben oder gar eine regelrechte Kunstfeindlichkeit entwickelt habe. Noch die 2015 von PBS produzierte und in Deutschland und Frankreich bei ARTE ausgestrahlte vierstündige Fernsehdokumentation American Experience: Walt Disney (Walt Disney: Der Zauberer) nährt diesen Eindruck, indem sie alle Filme zwischen Song of the South (Onkel Remus’ Wunderland, 1946) und Cinderella (1950) weglässt. Dabei sind gerade diese sogenannten Package Films voller atemberaubender künstlerischer Innovationen. Diese lange verkannten Filme werden in diesem Buch angemessen repräsentiert.“

Daniel Kothenschulte (Hg.): Das Walt Disney Filmarchiv. Die Animationsfilme 1921–1968 (The Walt Disney Film Archives. The Animated Movies 1921 – 1968). Englische Originalausgabe mit deutscher  Übersetzung in einem Beiheft, 112 Seiten. Mit Beiträgen von Daniel Kothenschulte, Katja Lüthge, Andreas Platthaus, John Lasseter, Russell Merritt, Charles Solomon, Robin Allan, Didier Ghez, J. B. Kaufman, Brian Sibley, Leonard Maltin. Verlag Benedikt Taschen, Köln 2016. Hardcover, Halbleinen. Querformat, 41,1 x 30 cm.  Über 1.500 Abbildungen, 620 Seiten, 150,- Euro. Verlagsinformationen hier.

Ebenso: Limitierte Sonderauflage in einer Schlagkassette. Mit einem Portfolio von 5 Cel-setups, 37,6 x 30 cm und 30 x 36,3 cm, sowie einem 64-seitigen Faksimile des „Zauberlehrling“-Storyboards für den Film Fantasia, 30 x 37 cm. Auflage: 2.500 Exemplare, 400,- Euro.

Abbildungen: (c) 2016 Disney Enterprise, Inc. Das Walt Disney Filmarchiv. Die Animationsfilme 1921–1968.

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