Geschrieben am 4. November 2018 von für News, Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special UNO

Ingrid Mylo: Zwei Gedichte aus „Ein dunklerer Grund“

L1080452_2

Elf Dörfer entfernt

Leg die weißen Gladiolen
nieder in jener Mulde der Zeit,
in der sich im kühlen Zimmer
die Nachbarn drängten
wie dunkle Boote am Abend des Sturms.
Sein Körper lag noch im Bett: doch er war
schon seit Stunden nicht mehr der Mann,
der Bretter zu Fässern bog,
der seinen Sohn verlor
im Krieg und seine Tochter
an einen Heimatlosen. Nicht mehr
der Mann, zu dem die Katze zurückfand,
die er ausgesetzt hatte,
elf Dörfer entfernt.

Einst hielt er dich auf dem Arm:
dachtest du. Aber er stand,
auf der alten Fotografie, nur daneben,
sah zu dir hin: keineswegs streng
wie in deinem Gedächtnis: er lächelte
still, und ein Staunen verwarf
die Fundamente seines Gesichts.

Was wußtest du schon von ihm:
daß er wortkarg war, bar jeder Berührung,
als stünde auf seinem Grund
ein Schwarm ernster Bedenken.
Warum hast du, als es noch
Antworten gab, niemals gefragt:
jetzt wiegt seine Geschichte
kaum mehr als Kirschkerne
und Spinnen, kaum mehr als der Geruch
nach gestampfter Erde im Keller.

 © ingrid mylo

 

 

L1070875_2Briefe von Toten

Erstes Aufästeln von Herbst
in der Luft, morgens,
wenn der September die Tage enger nimmt,
und abends die Stunden getönt
in den Farben von dunklem Holz und Orangen.

Jetzt ist die Zeit,
in der die Palmen
von den Balkonen hereingeholt werden ins Warme,
die Zeit,
in der die Geräusche Bedeutung ansetzen,
und die Zeit, in der man befürchtet,
Briefe von Toten
unter dem Kopfkissen zu finden.
Wachsflecken im Teppich,
zerlesene Träume. Milchglastage,
hinter denen sich, verschwommen,
Sorgen bewegen und Sehnsucht,
ununterscheidbar.
Nordwind und Reste kühler Vernunft.
»Mit Enthüllungen ist zu rechnen«,
sagt einer,
bevor das Garagentor hinter ihm niedergeht:
und Laub
häuft sich unter den kahleren Bäumen.

Gedichte       © by Ingrid Mylo
Zeichnungen © by Peter Knapp
Buchtitel „Ein dunklerer Grund“, noch unveröffentlicht

 

 
mylo blau 71s6RLXRDiLIngrid Mylo lebt in Kassel. Ihre Bücher:
Kaffeeblüten. Prosa, Verlag Jenior & Pressler, Kassel 1994.
Apropos Katherine Mansfield. Essay, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1998.
Das Treppenhaus. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2004.
Männer in Wintermänteln. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2009.
Masken und Mandarinen. Fotos von Frank Horvat. Prosa, Gedichte, Edition Off, Paris 2009.
Zerlesene Träume. Gedichte mit Druckgrafik, AQUINartepresse, Kassel 2009.
Krähenspäne. 41 Gedichte, AQUINartepresse, Kassel 2011.
Das 100-Tagebuch. Documenta (13). Zusammen mit Felix Hofmann. Verlag getidan, Berlin 2015.
Kleine böse Absichten. Zusammen mit Peter Olpe (Illustr.). Verlag Johannes Petri/ Schwabe, Basel 2015
Zufälliges Blau / Verdichtungen. Prosa, Essays, Feuilletons. Verlag Das Arsenal, Berlin 2018 – Besprechung von Georg Seeßlen hier.
Ihre Internetseite und eine vollständige Bibliografie hier.

Tags : ,