Geschrieben am 3. Mai 2016 von für Bücher, Litmag

Miniaturen: Ingrid Mylo, Peter Olpe: Kleine böse Absichten

Mylo_cover Böse Absichten_4938Merkwürdigkeiten des Alltags

Ein seltsam schönes Buch, das Zeichnungen und Texte zu etwas Größerem und Neuem zusammenbringt, ist Alf Mayer begegnet. Es kommt aus einem der ältesten Druckhäuser Europas, 1488 in Basel von Johannes Petri gegründet, der das Druckerhandwerk in Mainz zur Zeit Gutenbergs erlernte.

Anstatt „Kleine böse Absichten“ könnte dieses Buch auch „Straßenlaternen am falschen Ort“, „Geröll im Rutschen“ oder „Mandarinen neben Kellerfenstern“ heißen, schreibt Rolf Soiron in seinem Vorwort – und er hat Recht. Und nicht. Absicht jedenfalls war es und ein Experiment, zwei Künstler des Ausdrucks in diesem Band zusammenzubringen: den Basler Zeichner Peter Olpe und die Schriftstellerin Ingrid Mylo aus Kassel. Für die Fusion verantwortlich ist der vor allem in Frankreich arbeitende Schweizer Fotograf, Bildhauer und Maler Peter Knapp, vielfach für seine Arbeiten ausgezeichnet, ein Revolutionär des Layouts von Modezeitschriften und seit 1984 Leiter derPariser „Ecole Supérieure d’Art Graphique ESAG“, auch als Académie Julian bekannt.

In einem schönen Nachwort erzählt und begründet Peter Knapp, wie er auf die in den Ergebnissen verblüffende Idee kam. Mylo und Olpe haben für dieses Buch unabhängig voneinander gearbeitet, beide sind sie Miniaturisten. Ingrid Mylo kann mit nur wenigen Worten Menschen zeichnen, ihre im Frankfurter „strandgut“ über zwölf Jahre erschienenen „Kaffeeblüten“ sind legendär. Sie ist eine Diamantenschleiferin der Worte, nichts ist bei ihr beliebig. Jeder Stück hat einen ganz eigenen Schliff, entfaltet sein eigenes Feuer. Jeder winzig falsche Schliff könnte alles ruinieren. Ihre Beobachtungen auf der Straße, beim Obsthändler, am Zeitungskiosk, im Café, im Alltagsleben und – gerna auch – auf Reisen sind so plastisch modelliert, dass wir sie wiedererkennen. Zuletzt erschien von ihr – zusammen mit Felix Hofmann „Das 100-Tagebuch – Documenta (13)“, ein Kunstbuch der wirklich anderen Art. 100 Tage lang waren sie jeden Tag durch die  letzte Documenta gestreift, eine solche Vielfalt und Genauigkeit von Auseinandersetzung mit Kunst findet sich in keinem Feuilletonbericht, findest sich so schnell nirgends. „Ihre literarische Vignetten sind trotz ihrer Kürze voller Einzelheiten, Farben und Hintergründe, sie bleiben in der Erinnerung wie Polaroidfotos“, sagt Peter Knapp über Ingrid Mylos Arbeit.

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Wie mit der Lochkamera gebannt

Peter Olpe, einst Vizedirektor der Schule für Gestaltung Basel, ist Grafiker, Zeichner, Entwerfer und Konstrukteur von Lochkameras für Rollfilm 120. Ein wenig wie von einer Lochkamera gebannt wirken denn auch seine neuen, in diesem Buch versammelten Arbeiten. Es sind expressive, fast rigoros vereinfachte Pinselskizzen, gezeichnete Schnappschüsse menschlicher Haltung und Ausdrucks. Alle sind sie auf einer gelben Fläche gezeichnet, die zuerst entsteht, bevor die Figur Gestalt annimmt. Olpe sagt, dass er am Anfang oft nicht wisse, „ob sie als Frau oder Mann, halb oder ganz angezogen, dunkel oder hell, sprechend, staunend, nachdenklich oder stumm enden wird“.

Ingrid Mylo also schrieb Miniaturen, Peter Olpe zeichnete die seinen. Erst als Text und Zeichnungen fertig waren, wurde ausgewählt, einander gegenüber gestellt, in Bezug gesetzt, hin und her geschoben, geordnet, verworfen, zugeordnet, wurden die jetzigen Paare gebildet: Doppelseiten mit je einer Zeichnung auf gelbem Grund, auf der anderen Buchseite eine schwarzgepinselte Fläche, auf der in weißer, sachlicher und serifenloser Negativschrift der Text steht. Eigentlich bin ich kein Freund von Negativschrift, aber hier funktioniert es wunderbar und wirkt sehr ästhetisch, weil Schriftart, Zeilenabstand, Laufweite und Satzspiegel klug gewählt sind. Es gibt keine Bildunter- und keine Textüberschriften. Nur die Reibung, die aus Bild und Text entsteht. Ungewöhnlich. Seltsam. Kostbar. Der Vierfarbendruck nuanciert die Qualität der Pinselzeichnungen und den unterschiedlich kräftigen Hintergrund, macht das edel gestaltete, buchbinderisch solide Buch lebendig. Man wird und kann es man es noch oft zur Hand nehmen und beliebig aufschlagen. Verantwortlich für Layout und Satz ist Peter Olpe. Als Tüpfelchen auf dem I hätte ich mir nur noch ein Lesebändchen gewünscht, wobei man gewiss zu mehr als nur zu einer Stelle in diesem Buch zurückkehren will. Es gibt einfach zu viele gute „Stellen“.

Das Seufzen des Akkordeons beim finnischen Walzer

Bilder wie Texte setzen Widerhäkchen, die Texte sind ebenso wenig Bildlegenden wie die Zeichnungen Illustrationen für die Worte sind. Sie passen zu einander, sind wie füreinander geschaffen, aber nicht im herkömmlich harmonischen Sinne. Da ist ein verhalten witziger, störrischer, fein dissonanter Spalt zwischen ihnen. Ganz im Sinne von Leonard Cohen schöner Stelle aus seinem „Anthem“, wo es heißt: „There is a crack, a crack in everything. That’s how the light gets in.“

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Da gibt es den Geruch von Gurkensalat, den Augenblick vor dem Einschlafen als Kind, den Moment, wenn der alte Kühlschrankmotor den Geist aufgibt oder wenn der Blick auf schmutzige Fingernägel beim Gegenüber fällt, die Zeit, wann man sich Parfum schenkt, den Gleichmut gelber Pflanzen, die nächtlichen Häuser trunken voller Licht, die lüsterne Rücksichtslosigkeit sehr junger Liebhaber, den Geruch von warmem Toastbrot, geblümte Morgenmäntel, Tee an Winternachmittagen, einen Mann am Rande eines Feldwegs, der so reglos und still steht, dass man nicht weiß, ob er völlig versunken ist in den Anblick der Landschaft oder pinkelt. Da gibt es das Seufzen des Akkordeons beim finnischen Walzer, als ächze jedes Stück Holz im Land, da sind die flachen Striche der Flugzeuge durch den Horizont wie „die Linie, die den Tod des Patienten signalisiert“. Da ist der Augenblick, in dem man das Kino verlässt, da ist die immer gleiche Stelle zum Straßen Überqueren, da sagt Jack Nicholson zu Shirley MacLaine: „Wind in den Haaren und Stahl in der Hose.“ Da ist der Moment, dass man so genau in eine Landschaft passt wie das letzte Teil eines Puzzles, da ist ein Satz aus Kafkas Tagebuch vom Sommer 1912, da legt sich der Geruch nach gekochtem Blumenkohl wie ein feuchter Putzlumpen um den Kopf. Da stehen plötzlich Sätze wie: „Nur Traurige und Leute mit Hund gehen bei Regen im Park spazieren“, oder: „Am Spiegel endet die Zukunft.“

Oft schaut man die Bilder und die Texte an, mag nicht glauben, was sich hier tut und ergibt. Wer hier nicht lächelt, hat zu viel Botox in Gesicht und Hirn. Paare aus Text und Bild führen weit zurück in die Geschichte des Buchdrucks, eines dieser Beispiele ist das „Narrenschiff“ von Sebastian Brant aus dem Jahr 1494, „ein Panoptikum von Schwächen, Widersprüchen und Merkwürdigkeiten des Alltags, eine Typologie des Komischen und der Komischen des späten Mittelalters“ (Peter Sirion). Das „Narrenschiff“ erfuhr viele Auflagen, eine kam in ebendem Verlag heraus, in dem nun „Kleine böse Absichten“ erschienen ist. Wenn das mal keine kleine böse Absicht ist…

Alf Mayer

Ingrid Mylo, Peter Olpe (Illustr.): Kleine böse Absichten. Mit Begleittexten von Rolf Soiron und Peter Knapp. Verlag Johannes Petri/ Druck- und Verlagshauses Schwabe, Basel 2015. 213 Seiten, zahlreichen Abb., leinengebunden. 29 sFr/ 25 Euro.
Verlagsinformationen zum Buch.

Die Bücher von Ingrid Mylo:
Kaffeeblüten. Prosa, Verlag Jenior & Pressler, Kassel 1994.
Apropos Katherine Mansfield. Essay, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1998.
Das Treppenhaus. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2004.
Männer in Wintermänteln. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2009.
Masken und Mandarinen. Fotos von Frank Horvat. Prosa, Gedichte, Edition Off, Paris 2009.
Zerlesene Träume. Gedichte mit Druckgrafik, AQUINartepresse, Kassel 2009.
Krähenspäne. 41 Gedichte, AQUINartepresse, Kassel 2011.
Das 100-Tagebuch. Documenta (13). Zusammen mit Felix Hofmann. Verlag getidan, Berlin 2015.

Interview über Lochkameras mit Peter Olpe. Seine Website.
Sein Buch über Lochkameras: Peter Olpe: Out of Focus. Niggli Verlag, Zürich 2012.

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