Geschrieben am 4. November 2018 von für News, Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special UNO

Hazel Rosenstrauch: Verlustanzeige einer Haltung

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Hazel Rosenstrauch über einen arg vermissten Menschenschlag: die Weltverbesserer der alten Art

Den Verlust von Schlüsseln, Geldbörsen, Liebhabern und Freundinnen könnte ich mit Sternchen à la Hotelqualität ordnen, dabei bekämen letztere 5 *****. Sobald es um den Tod lieber Menschen geht, versagt diese Ordnung. Es gibt Verluste, für die ich, angelehnt an Stiftung Warentest, Noten erfinden könnte – 1 – 5,5. Aber bevor ich darüber nachdenke, was mir alles gestohlen bleiben kann, erinnere ich mich an eine Weltsicht, die es nicht mehr gibt und deren Verlust mir gelegentlich Phantomschmerz verursacht.

Das Thema hätte auch in das Culturmag-Special zum Thema TABU gepasst: Es geht nämlich um all jene Weltverbesserer, die an die Freiheit und Gleichheit, das Ende von Ausbeutung und Hunger geglaubt haben – bevor ihre Ideale zu Staatsdoktrinen wurden. Wobei ich sentimental nur werde, wenn ich an die Haltung denke, die ich mir heute nur noch aus Büchern pflücken kann. Sie dachten international, waren immun gegen die Sucht nach Konsum und Geldhaufen, ihre Hilfsbereitschaft hieß Solidarität, zu ihren moralischen Leitlinien gehörten Bescheidenheit und irgendetwas, das ich mangels eines geeigneten Ausdrucks als das Gegenteil von Egomanie bezeichnen würde. Nicht immer, aber allzu oft, war dieser Verzicht auf die eigenen Interessen auch schuld an ihrer Blindheit, sie waren bescheiden – und konnten leicht übertönt werden. Zu ihrer liebsten Freizeitbeschäftigung gehörten hitzige Diskussionen, meist in der Küche. Ihre Ideale sind für die nächsten 200 Jahre diskreditiert, und als Unterkunft möchte ich nicht einmal einen Stern dafür vergeben. Aber … tja, aber.

51SUgjqT0iL._SX313_BO1,204,203,200_Wer weiß noch, was Bundisten waren?

Es fällt mir schwer, diese Haltung zu beschreiben, ohne gleich an hässliche alte (weiße) Männer zu denken, die diese Ideen benutzt und verhunzt haben. Zum Glück gibt es Leute, die können das. Zuletzt fand ich so eine Figur in Mark Mazowers „Was Du nicht erzählt hast“. Sein Großvater Max war Bundist, er hat sich rechtzeitig in London niedergelassen, das ging in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch. Wer weiß heute noch, was die Bundisten waren? Eine in Osteuropa sehr verbreitete jüdische Arbeiterbewegung, nicht nationalistisch und deshalb auch bei Zionisten nicht gelitten. Natürlich waren sie Sozialisten. Sein Enkel ist Historiker, er hat das Handwerkzeug, um gründlich zu recherchieren und hat aus der Erzählung über seine Familie ein politisch-soziologisch-mentaltitätshistorisches Panorama der Ideale, Erosionen, Verbrechen und Arrangements des 20. Jahrhunderts gemacht. In einer herrlichen Mischung aus Sachkenntnis, Recherche, Erinnerung, Spekulation und Intimität zieht er Fäden von seiner Familie in die komplexe, komplizierte russische, englische und französische, die sozialistische, die bolschewistische, menschewistische, jüdische, assimilierte, agnostische Geschichte.

9783861530107Als Korrektiv habe ich danach Georg Hermann Hodos‘ „Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-54“ aus meinem Regal gezogen. Welch ein Verlust an klugen, weitsichtigen, von der Idee des Bolschewismus oder eben nicht mehr Bolschewismus, sondern einem anderen Sozialismus besessenen Menschen! Es sind Geschichten, die uns, oder mir zumindest, den Glauben an die großen Ideale ausgetrieben haben. Bei genauerem Hinsehen waren die meisten Opfer der „Säuberungen“ nicht zufällig irgendwie jüdisch, nicht religiös, sondern (wenn man von rassistischen Zuordnungen absieht) das was man bis heute „kosmopolitisch“ nennt und mit Heimatlosigkeit assoziiert, man könnte auch sagen, sie waren zu beweglich, mit einem zu breiten, nicht am Boden klebenden Horizont.

Vielleicht ist es doch nicht oder nicht primär das sozialistische, sondern das emigrantische Milieu, das diesen Zauber ausstrahlt, der mich dazu verführt, den Verlust solcher Menschen mit der Note 1,1 zu bewerten? Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft, die Kenntnis mehrerer Welten und selbstverständlich auch Sprachen samt der Fähigkeit, sich neu zu orientieren war – seinerzeit – Teil der Erfahrung von Flucht und Neuanfang anderswo. Mark Mazowers Großvater hieß Max, mein Großvater hieß auch Max, auch er war Bundist, aber nicht so gut vernetzt, er konnte nicht rechtzeitig auswandern, ich habe ihn nicht kennengelernt. Was wäre, wenn diese nicht zionistischen jüdischen Linken nicht umgebracht worden wären? Schon wieder ein Thema, das besser zum Culturmag-Special TABU gepasst hätte.

Es sind also nicht Juden, nicht Kommunisten, nicht Weltbürger, denen ich nachweine, sondern … ein Menschenschlag, der noch Lust gemacht hatte, zu dieser Species zu gehören. Ist untergegangen, weg, wird warentestmäßig mit 5,5 = mangelhaft, bewertet. Aber ich denke an Turgenevs Satz: „… wenn solche Menschen aussterben, so möge sich das Buch der Geschichte für immer schließen! In ihm wäre dann nichts mehr zu lesen.“ [Ivan Turgenjev, Hamlet und Don Quijote, Friedenauer Presse 1991]

 

Hazel Rosenstrauch: 1945 in London geboren, schon lange in Berlin lebend, könnte die österreichische Kulturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Journalistin auf ein bewegtes publizistisches Leben oder einen Wikipedia-Eintrag zurückschauen, Faulenzen und Eitelkeiten aber sind ihre Sache nicht. CulturMag schätzt sich glücklich, ihr als Autorin gelegentlich Herberge geben zu dürfen. Ihre Texte bei uns hier. Zu ihrem Blog. Einer der letzten Beiträge dort, der alle zehn Jahre wiederkehrende Nostalgieblick auf 68. Eine Besprechung ihres Buches Karl Huß, der empfindsame Henker von Alf Mayer hier.

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