Geschrieben am 4. November 2018 von für News, Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special UNO

Georg Seeßlen – Theorie des Verlustes

Stilleben.steenwick.

Harmen Steenwijck Vanitasstillleben, ca. 1640, Öl auf Holz, 39,2 × 50,7 cm, National Gallery London (Wiki-Commons)

Verlust des Verlustes

Eine hauntologische Grille – von Georg Seeßlen

 

                                                               I

Unser Denken entsteht aus Unterscheidungen (Tag/Nacht, Lebendig/Tot, Rau/Glatt, Flüssig/Fest usw.) und unser Leben entsteht aus Trennungen (Mutter/Kind, Ich/Welt, Lust/Pflicht, Realität/Magie usw.). Jede Unterscheidung und jede Trennung ist zugleich Gewinn und Verlust. Etwas muss da immer abhanden kommen, aber wo geht es hin? Verlust ist nur spürbar, weil etwas nicht einfach weg ist. Der Kopf und die Kultur sind voll vom Verlorenen. Der Segen und das Verhängnis des Menschen: Dass er aus dem Verlust eine Produktivkraft gemacht hat. 

Kultur ist der teils verbindliche, teils dynamische Umgang mit dem Verlust. Wer unkultiviert auf Verlust reagiert, den nennen wir barbarisch, und barbarisch nennen wir es auch, wenn eigener Verlust betrauert, der Verlust anderer aber gleichgültig in Kauf genommen wird. Menschlich nennen wir Trauer und ein empathisches Verhalten: Trost gewähren. Ein Mit-Teilen der Verlusterfahrungen, eben die Verwandlung des Verlustes in Kultur. Was indes geschieht da vor unseren Augen? Eine neuerliche fundamentale Unterscheidung, die zwischen „Gewinnern“ und „Verlierern“, eine Kultur, die auf die vollständige Verdrängung der Verlusterfahrung ausgerichtet ist,  so weit, dass Verlust als Krankheit oder gar Verbrechen angesehen wird, jedenfalls etwas kontaminiertes, mit dem man keinen Kontakt haben will. Nur als Wut und Gewalt darf zurückkehren, was wir als Verlust empfanden, ansonsten ist der Verlust all das, was man versuchen muss, anderen und anderem aufzubürden. Der große Verlust der Non-Gesellschaft unserer Tage ist der Verlust selber. Man darf ihn nicht denken, man darf ihn nicht empfinden, man darf ihn nicht zeigen, man darf ihn nicht teilen. Verlust ist Tabu. 

Aber was ist das eigentlich, Verlust? 

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Foto © Alexander Paul Englert 

                                                                    II

Der merkwürdige Doppelsinn des Begriffs „Verlieren“ mag uns auf die Fährte führen: Man kann etwas verlieren, ein Objekt und einen Wert (und darüber in Wut ausbrechen wie über den verlorenen Groschen, der sogleich ein sublimierendes Musikstück gewidmet ist), man kann aber auch an sich verlieren, ein Rennen, einen Wettbewerb, einen Kampf mit wem oder was auch immer. Verlieren heißt also entweder gegen seinen Willen aber irgendwie durch eigene Schuld von einem Objekt getrennt werden (die Psychoanalyse wird raunen: Was du verlierst, wolltest du in Wahrheit vielleicht gar loswerden) oder aber von einem anderen Subjekt, im Zweifelsfall von Natur und Schicksal, bezwungen werden, und damit von einem Teil seiner selbst (seinen Ambitionen, seinen Hoffnungen, seinem Selbstbildnis) getrennt werden. Die Trennungsvorgänge bezüglich dem Objekt und bezüglich dem Subjekt sind verwandt und verbunden aber nicht identisch. Wieder so ein Grund, warum es die Götter hat geben müssen, und warum ihr Verschwinden so ein Problem ist. Nur durch Götter konnte dem Verlieren ein Sinn, eine Ordnung, eine Richtung gegeben werden, nun aber ist das Verlieren das Chaotisierende schlechthin, eine sinnlose Verkettung der Erfahrung von Ohnmacht. Lohnt es sich überhaupt in einer Welt des Verlierens zu leben?

 Nur dumme Religion, dumme Ideologie oder dumme Vernunft können den Verlust als Strafe versinnlichen. Der Skandal des Verlustes aber liegt gerade darin, dass er zum größten Teil willkürlicher Art ist, das Verhältnis von Aktion und Reaktion absurd: die kleine Unaufmerksamkeit (die, nur zum Beispiel, einem Matrosen unserer Träume das Seefahrtsbuch nimmt und ihn daraufhin zu einem schutz- und planlosen Leben zwischen den Häfen verurteilt), die zufällige Begegnung, das Wirken von Hoffnung, manchmal nicht einmal etwas davon, sondern reiner, törichter Zufall. Aber eben das ist das Wirken von der dunklen Seite der Kultur: Gesellschaft, die „funktioniert“, weil sie den Verlust als Strafe interpretiert.

 

                                                                  III

Drei Dinge sind es, die das Verlieren dann doch sinnvoll machen sollen, wenn auch meistens, ohne die Hilfe der Götter, in durchaus anstrengendem Bemühen: Die Arbeit an der Verhinderung des Verlustes. Die Erfahrung des Verlustes wird in die Arbeit an Vorsorge und Sicherheit umgesetzt, zum Beispiel. Die Aufhebung des Verlorenen. Das Verlorene (ja, schon das Verlierbare) wird in eine Produktion von Bild, Erzählung und Begriff umgesetzt. So wird dem Verstorbenen gedacht, bei einiger Bedeutung gar ein „Denkmal“ gesetzt, so oder so. Der Verlust wird in einer Geschichte des Verlierens bewahrt. Segmente von Kultur lagern sich um den heroischen Verlierer ab. Und schließlich: dem Verlieren wird Sinn unterstellt. Die Trennung (in Bezug aufs Objekt wie aufs Subjekt) wird freiwillig vollzogen, man überwindet, sagt man, damit die Fesselung des Besitzes wie die Fesselung der Eitelkeit.

Verlieren also kann man etwas Inneres (einen Teil seiner Seele, einen Teil seiner idealen Biographie) und etwas Äußeres (ein Objekt, eine Beziehung, vielleicht sogar ein Wissen); das Verlorene indes kann (rechtmäßig oder unrechtmäßig) in den Besitz eines anderen übergehen, seinem ursprünglichen Zweck entzogen („kaputt“) sein, aus der Ordnung der Dinge (der „oikonomia“) gefallen (unauffindbar, „verschlampt“), versteckt worden sein, sich gegen den Besitzer wenden (die Tücke des Objekts und die noch viel größere Tücke des Subjekts, das aus der Beziehung oder der Projektion einer Beziehung oder aus einer ideologischen Ordnung verschwindet), „verboten“ werden, sich einer anderen Bestimmung zuwenden (ich gebe dir meinen Glücksteddybären mit auf die Reise, mein Lieblingskaninchen wird geschlachtet, Vater ist auf Dienstreise – oder im Knast), sich fortentwickeln (Ingmar Bergman, der mit 70 Jahren entsetzt feststellt, dass Gott ihn nun aus dem Kinderzimmer vertrieben hat), sich verschmutzen (wie das Eiskrem, das jedem Kind einmal auf den Asphalt gefallen ist), sich der inneren Verarbeitung entziehen (der „Gedächtnisverlust“, den wir in dramatischen wie in alltäglichen Ausmaßen kennen), den Zugang verweigern (Ich hab’ das Scheißpasswort zu meinem Scheißprogramm verloren) oder auf eher mysteriöse Arten verschwunden (Gestern hat es doch noch da gelegen). Was anfangen mit einem Verlust? Ihn rückgängig machen, ihn verarbeiten, ihn aufklären, ihn betrauern, ihn teilen, ihn „runterschlucken“, ihn kompensieren, einen Schuldigen finden, ihn vergessen, über ihn lachen (wie Alexis Sorbas oder die traurigen Helden von „Der Schatz der Sierra Madre“), nach vorne schauen (wo das Leben weitergeht, weh über den gedankenlosen Spruch), seine Umwelt durch „Untröstlichkeit“ belasten oder um Trost bitten, vom Glauben abfallen oder ihn erst finden, sich „das Hirn zermartern“. Verlust ist vieles, nicht zuletzt auch Motor einer Erzählmaschine.

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Foto © Alexander Paul Englert

                                                                IV

Kultur, Gemeinschaft und Gesellschaft, behaupten wir frech, sind so gut, wie sie helfen mit dem Verlust fertig zu werden. Aber der auch der Verlust selber ändert sein Wesen durch den Einfluss von Kultur, Gemeinschaft und Gesellschaft. Das betrifft nicht allein die Kultur von Aufklärung, Abschied und Trauer, sondern auch die Repräsentation des Verschwundenen, Gedenken und Gedächtnis einerseits, andererseits die Fähigkeit, den Vorgang des Verlustes abzuschließen. Denn was an den Objekten und Subjekten (Objekt-Subjekten, um genau zu sein) des Verlustes und am Vorgang des Verlierens selber nicht abgeschlossen ist, das ist zur ewigen Wiederkehr, zum Untod, zum Gespensterdasein verurteilt. Nicht was weg ist, ist am Verlorenen so grauenhaft, sondern was immer noch da ist, die Schatten und Spuren, das Sehnen und Verschmelzen. Zur Kultur des Verlustes gehört also nicht allein die „Verarbeitung“ sondern auch die semantische Bannung. In der post-industriellen Gesellschaft allerdings gibt es keinen verlässlichen Unterschied zwischen Zeichen und Materie mehr. Hat das Zeichen, neben vielem anderen, das Ding einst gegen den vollständigen Verlust gesichert (das Zeichen hat eine andere Grammatik des Verschwindens als das Ding), so ist es nun genau umgekehrt: Die Dinghaftigkeit sichert das Zeichen vor dem Verlust. (Wie konkret diese Wandlung aussieht, lässt sich übrigens an der Geschichte der „Marken“ zeigen.)

So entstand im neuen, post-modernen Zeitalter eine doppelte Furcht, nämlich die vor dem an allen Ecken und Enden lauernden Verlust (denn so viel man auch haben kann, so viel kann man auch verlieren) und eine zweite Furcht vor dem Verlust des Verlustes (denn es gibt Anhäufungen, die eine vollständige Trennung unmöglich machen). Die Frage dazwischen ist jene nach dem Wert eines Objekts (oder auch, sagen wir: einer Idee, einem Design). Dass der eine loswerden will was der andere begehrt, widerspricht dem Tauschprinzip des Kapitalismus, war aber schon vorher ein semantischer Störfall. Das antike Rom, so erzählte man sich (und die Archäologie widerspricht zumindest nicht), sammelte seine Scherben auf einem großen Haufen, von dem etwas zu entnehmen allerdings bei Strafe verboten war, denn der Scherbenhaufen sollte weithin sichtbar die Größe und den Reichtum Roms verkünden. Auch auf einem „Wertstoffhof“ des Jahres 2018 darf sich nicht jeder nehmen, was er brauchen könnte, denn das würde Ordnung und Markt gleichermaßen durcheinander bringen. 

Verlieren ist einerseits ein Sonderfall der Trennung, und Trennungen sind, wie wir wissen, notwendig; so wie das Leben mit einer Trennung beginnt, der Geburt, die die Einheit von Mutter und Kind auflöst, so beginnt jeder „klare Gedanke“ mit einer Trennung des Menschen von seiner magischen Einheit mit der Natur. Die Unfähigkeit, eine Trennung zu vollziehen, und sei es die zwischen Traum und Wirklichkeit, ist so „krank“ wie die Unfähigkeit, eine Verbindung einzugehen. Und noch einmal krasser in der „Krankheitsskala“ wird die Unfähigkeit bewertet, auf der einen Seite nicht zwischen innerem und äußerem Verlust unterscheiden zu können (mit dem Verlust des Objekts „stirbt“ ein Teil des Subjekts) und auf der anderen Seite nicht zwischen „Ding“ und „Beziehung“. Das Ding, von dem wir uns nicht trennen können, ist der Fetisch; die Beziehung, von der wir uns nicht trennen können, ist die „Besessenheit“. Die Frage ist, was wir besitzen und was von uns Besitz ergreift.

In dieser Ambivalenz entsteht zu allem, was wir „haben“ können, eine Mixtur aus Begierde und Furcht. Und so haben wir eine dritte, die wohl aktuellste und problematischste Form von Verlust: Den Verlust der Kontrolle.

Das, was nicht verschwunden und von dem wir nicht getrennt sind, ist gleichwohl verloren, weil es sich der Kontrolle enthoben hat. Die Dinge und Beziehungen werden gespenstisch, wo sie stärker sind als die Kraft, sie zu kontrollieren. Die aktuelle Variante: Wir benutzen digitale Gerätschaften, die wir weder im traditionellen Sinn „besitzen“ können noch uns von ihnen trennen, auch gibt es keine Möglichkeit, zwischen dem toten Ding und dem lebendigen System zu unterscheiden. Der Verlust eines Smartphones, zum Beispiel, bedeutet nicht nur den Verlust eines Objekts, sondern auch die Trennung von anderen Menschen.

Wo einst die Götter für Ordnung sorgten, setzt in unseren Tagn endlose Fiktionalisierung ein. Sowohl der Erwerb als auch der Verlust des Objekts sind in narrative Wolken und Bilderstürme gehüllt. Dergestalt, dass es mir am Ende sogar schwerfällt, zwischen Erwerb und Verlust noch eindeutig zu unterscheiden. Ware, Dienstleistung und soziale Beziehung „rauscht“ durch mich. Der Vorgang des Erwerbs einer Ware beinhaltet bereits den wesentlichen Schritt zu seiner Vernichtung (nein: zu seiner Verwandlung ins Gespenst des Überflusses: Abfall).

In einer Welt, in der es so viel mehr Abfall als Dinge und so viel mehr „überflüssige“ als „nützliche“ Menschen, allgemeiner so viel mehr Verlieren als Gewinnen gibt, ist Verlust also ins eigene Gegenteil gekehrt. Er ist Teil von „Entsorgung“, von „kreativer Zerstörung“, von „Zyklen“ der Ware, des Geldes und des Blutes. In allgemeiner Entwertung wächst die Anzahl nicht nur der Dinge und der Beziehungen, sondern auch der Menschen, deren Verschwinden „kein großer Verlust“ wäre. Aber diese allgemeine Abwertung der Verlusterfahrung, mag sie uns in ihrer Schamlosigkeit noch so empören, muss sich zwangsläufig hysterisieren. Denn nichts will mehr „ordentlich“ verschwinden, kein Verlust mehr gelingen, das Gespenstische überschattet alle Prozesse des Verschwindenlassens. Selbst der allfällige und unbestreitbare Verlust der Wirklichkeit, und, was die gesellschaftlichen und politischen Informationssysteme anbelangt, der Verlust der Wahrheit als Referenzsystem, gelingt ohne eine grenzenlose Produktion des Gespenstischen. So wie der Verlust der Wahrheit nur Mengen von „alternativen Wahrheiten“ erzeugt, so erzeugt der Verlust nur Mengen von Gespenstern des Verlorenen.

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Foto © Alexander Paul Englert

                                                           V

 Der Verlust also ist der erzwungene Vorgang einer Trennung. Eine Reaktion ist die Arbeit an einer „Wiederbeschaffung“ des Verlorenen. Hat man Geld verloren, muss man es suchen oder neues verdienen, hat man ein Buch verloren, wird man es sich, so es einem wert ist, neu kaufen, hat man einen Freund verloren, wird man einen neuen suchen, usw. Doch hat das Objekt nur einerseits die Eigenschaft, in Klassen, Kategorien, sogar in Massen aufzutreten, es hat auf der anderen Seite den Impuls, einzigartig zu werden, vermutlich, um sich selbst vor allzu leichter Trennung zu schützen. Es gibt eben Dinge, die nicht nur „kostbar“, sondern auch „unersetzlich“ sind. Aus subjektiven, aber auch aus objektiven Gründen: Ein verlorenes Kunstwerk kann nicht durch ein anderes ersetzt werden, so wenig „mein“ Hund durch irgend einen anderen ersetzt werden kann.

Die Wiederbeschaffung des verlorenen Objekts ist der Beginn des Erzählens. Das magische Objekt, der Schatz, das Zeichen, die Erbschaft, es muss wiedergefunden werden, oder, anders herum: Weil es wiedergefunden werden kann, ist das Objekt magisch. Das freilich weitet sich aus. Als wäre ein Menschenleben ohnehin nicht anders zu verstehen als eine lebenslange Suche nach dem Verlorenen. Dem magischen Ding, der ursprünglichen Beziehung. Unsere derzeitige Retromanie (das Leben ohne Zukunft als Preis für die Abschaffung des Verlustes) ist bezogen auf einen Meta-Verlust (einer guten alten Zeit, einer Größe, einer Ordnung, eines Geschmacks usw.), in dem alle anderen (verlorenen) Verluste aufgelöst sind. Weil der reale Verlust auf unterschiedliche Weise „unlebbar“ geworden ist (befragen Sie ihren „Tatort“ oder die Bild-Zeitung) kommt er als fiktionaler zurück (und das meint nicht nur die kollektive Verlust-Inszenierung beim Tod von Eisbärenprinzessinnenpopstars).

 

                                                                    VI

Da in jeder Trennung Befreiung und Trauma einander bedingen, wurde der Kampf gegen den Verlust, die Wiedergutmachung gegenüber der Trennung, zum eigentlichen Lebensinhalt des modernen Menschen (also unseres Vorläufers). Dabei bedingen einander die „bürgerliche“ Lebensform (das Anhäufen und Sichern der Objekte und Beziehung) und die „abenteuerliche“ („revolutionäre“) Lebensform (die Suche nach dem Verlorenen, bei der die Bewegung selber an die Stelle des Objekts tritt) und schließlich die „heilige“ (die „philosophische“) Lebensform, die Entsagung des Spirituellen (die Übertragung des Objekts in die Idee). Unnütz zu sagen, dass alle drei Lebensformen „unglücklich“ sind und sich ausschließlich über die Verachtung der jeweils anderen legitimieren.

Allerdings dürfen wir diagnostizieren, dass in unterschiedlichen Zeiten und Systemen die Wertschätzung für die eine oder die andere Lebensform unterschiedlich ausfallen mag. Wir hiesigen und heutigen können gar nicht anders als das, was Trennung und Verlust bedeuten, im Bezugsrahmen des Kapitalismus zu sehen. Jedes Objekt, sortiert in Gebrauchs-, Tausch-, Distinktions- und Sinnwert, ist zugleich Instrument; jede Bedeutung zugleich Funktion. Das Ding ist nicht mehr es selbst, sondern Ausdruck von Gewinn oder Verlust. Im gegenwärtigen Stadium des Kapitalismus, dem so genannten Neoliberalismus, haben auch die Menschen selbst dieses gespenstische Stadium erreicht. Gewinn-Menschen stehen Verlust-Menschen gegenüber (nämlich solchen, die keinen „Mehrwert“ produzieren), und die werden immer mehr analog zu den Objekten betrachtet, als lästiger Abfall. Als das, wovon es sich im Dienste des Profits zu trennen gilt.

In der industriellen Arbeit trennt der Mensch die Natur (das Gegebene, den Rohstoff) ins Nutzbringende und in den Abfall, wobei er zugleich Energie, Menschenleben und „Kreativität“ verbraucht. Man könnte wohl sagen, dass er es nun ist, der der Natur den Verlust vorschreibt, vollständige Trennungen, die in Wahrheit aber nicht wirklich gelingen können. Das abgetrennte (das Verlorene, der Müll) kommt als Gespenst zurück, denn die Trennung war, um es pathetisch zu sagen: Sünde. 

Da er nicht nur das Getrennte, sondern auch das Trennende ist, wird der Mensch von den Gespenstern verfolgt. Gespenstern, nebenbei, die keinen Umweg mehr über Transzendentales bedürfen, sie sind das, was noch in der trivialsten Wirklichkeit sichtbar wirkt: Das Untote, das weder Lebende noch Gestorbene, das weder Verlorene noch Gewonnene, das weder vorhandene noch verschwundene. Die „Industriebrache“ ist zwar der authentischste Ort, an dem der „große Verlust“ sichtbar wird, aber dieser große Verlust ist längst Teil der Kultur, Teil des Alltags, sogar Teil der Ideologie. Der Verlust ist nun überall zu sehen und also nirgends, er hat sich, tückischerweise, von der Trennung verabschiedet. (Mülltrennung als Kindergebet an den Gott der Verluste!)

Denn das große Paradoxon des globalen, digitalen und post-industriellen Kapitalismus besteht darin, dass er zur Trennung unfähig wird. Mögen, zum Beispiel, die westlichen Metropolen ihren Giftmüll auch in die „Schwellenländer“ exportieren, der globale Blick lässt sie nicht mehr verschwinden. Mögen Menschen und Ideen sich, wie man so sagt, erledigt haben, sie werden „auf ewig“ im Internet spuken, hier, wo sich zeigt, dass das, wovon man sich nicht trennen kann, selber zur neuen Herrschaftsform wird. Man wird sich von keinem Stil, keiner Mode, keinem Geschmack trennen können, alles kommt in immer kürzeren Abständen und so notdürftig renoviert wie „retromanisch“ patiniert zurück. Die „Verlierer“ des neuen Wirtschaftens und Herrschens ziehen wie die Zombies unserer populären Mythologie durch die Städte und über die Kontinente. Vor ihnen können die „Gewinner“ gar nicht anders, als ihre barbarische Gestalt zeigen; Gewinnen heißt in dieser Hölle nie so viel von den „anderen“ töten zu können, dass der Verlust des eigenen (der Besitz wie das Leben) gesichert wäre, und Verlieren heißt, nicht wirklich sterben zu können, sich nicht trennen können von dem, was einen „so“ hat werden lassen.

Die großen Trennungen (das Tote und das Lebende, das Reale und das Erdachte, das Vergangene und das Gegenwärtige) werden ebenso aufgelöst wie die Rituale des Verlustes. So steht auf der Ebene der Zeichen und Verknüpfungen eine Unfähigkeit des Vergessenwerdens, des Entschwindens eine Unfähigkeit zur Trauer auf der Ebene der Empfindungen gegenüber. Mir ist da ja schon zu Lebzeiten bewusst, dass nach meinem Tod mein Körper eine Belastung für die Umwelt wird, eine finanzielle Sorge für Nachkommen, ein kulturelles Problem für die Städte. Wohin mit uns wandelnden Leichen? Da wir nicht mehr richtig und endgültig verschwinden können, und uns bewusst sind, dass die digitalen, ökonomischen und materiellen Spuren, die wir hinterlassen um so vieles größer sind als wir es selbst zu Lebzeiten sein konnten.

 

                                                               VII

In dieser Welt kann nichts mehr verloren gehen. Der Verlust ist die letzte Triebkraft, die letzte Hoffnung, die letzte Utopie. Traum vom schönen Verlorengehen (während Körper und Seele erbarmungslos recyclet werden). Die Götter kehren zurück. Sie verheißen den großen Verlust. Die gierige Selbstauslöschung. Und nicht einmal die gelingt.

 

cover-9783957576637Georg Seeßlen: Jahrgang 1948 und in München Kunstgeschichte und Semiologie studiert, ist einer der letzten Enzyklopädisten unserer Tage. Die Bandbreite seiner sensibilité universelle, wie das bei Diderot geheißen hätte, spiegelt sich in seinen Arbeiten, sei es zum pornografischen oder zum Cop-Film, überhaupt alles mit Film, von Spielberg, Tarantino, Kubrick oder David Lynch bis Schlingensief, überhaupt Schlingensief, dazu Kritisch-Erhellendes über Untote, Volksmusik, Populär- und Hochkultur, Kriegsbilder, televisionäre Dummheiten oder Rechtsextremismus, Blödmaschinen und Geld frisst Kunst – Kunst frisst Geld, die Prostitution Bayerns durch den Fremdenverkehr und alles Sonstige aus unserem Wahnsinn, überhaupt dem Wahnsinn.  Ein Schädel, der in keine Schublade passt. Seeßlen wohnt im Allgäu – und ist trotzdem weithin präsent. Seine WIKIPEDIA-Seite, seine Texte bei CulturMag

Im nächsten Verlust-Special etwas von ihm zur „Schnittstelle Körper“. So heißt seine gerade erschienenes neuestes Buch, zusammen mit Markus Metz bei Matthes & Seitz.

Alexander Paul Englert hat uns nach der Lektüre von Georg Seeßlens Theorie des Verlustes spontan einige Fotos zur Verfügung gestellt. Der gelernte Fotograf mit Philosophiestudium, seit 1990 frei vorwiegend in den Bereichen people und street photography unterwegs, kann unter seinen zahlreichen Einzelausstellungen auch welche in China vorweisen. Seine Bücher:
China Daily mit Gedichten von Yang Lian, Berlin 1995

Interface Kunst, Stadt, Theater mit Ecke Bonk, Peter Kogler, Beat Streuli, zeitblom, Benjamin Bergmann, Albert Weis und das atelier le balto, Nürnberg 2010
MOMENTUM. Dichter in SzenenmitTexten von Prof. Dr. Bernd Stiegler und Jutta Kaußen, Köln 2011
Seine Fotos illustrierten Karl Philipp Moritz: Reise eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788, Andere Bibliothek, Band 337 sowie die Erzählung Traumdiebstähle von Silke Scheuermann und die Bild-Ton-Text-Schau Frankfurt Stories, zusammen mit Jutta Kaußen. Seine Internetseite hier.

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