Geschrieben am 8. Dezember 2018 von für Litmag, News, Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special DUE

„Schnittstelle Körper“ von Markus Metz & Georg Seeßlen

seeßlen cover-9783957576637Der kultivierte Cyborg,
der unsterbliche Popstar
und die lebende Wand des Wallpaper-TV

Der Cyborg, das elektronisch­organische Mischwesen aus Mensch und Maschine, ist keine Zukunftsmusik mehr. Er ist auf der Ebene der Mechanik und der Chemie (1) so real wie auf der Ebene von Geist, Wahr­nehmung und Intelligenz. Wir sind die Cyborgs. Aber nicht das ist der Skandal. Aus dem Kino wissen wir, dass man mit dem Cyborg-­Status durchaus leben kann, eine entsprechende Kultur und ein entsprechen­der Auftrag vorausgesetzt. (Denn anders als bei einem »fleischlichen« Menschen, der einfach da ist, gibt es keinen überflüssigen oder unnüt­zen Cyborg; er ist immer zur Erledigung bestimmter Aufgaben erschaf­fen und muss, wenn er dazu nicht mehr in der Lage ist, verschwinden. Damit hat der Cyborg dem Menschen indes voraus, dass sich die Sinn­frage, wenn überhaupt, nur am Ende stellt.) Der Skandal liegt viel­ mehr darin, dass aus diesem Status so empörend wenig gemacht wird und er nur dem Profit, dem Krieg und der Bequemlichkeit dient, sieht man von einigen medizinischen und wissenschaftlichen Anwendungen ab, die sich freilich ihrerseits unter die erwähnten Ziele gestellt sehen. In unseren Dystopien ahnen wir es: Unsere maschinelle und digitale Parallelschöpfung besteht aus Wesen, die technisch und ökonomisch überfordert, moralisch und kulturell aber unterfordert sind. Aus die­sem Widerspruch entsteht seit Isaac Asimovs Roboter­-Erzählungen das unglückliche Bewusstsein der Maschinen. Sie dienen der Aufrechter­ haltung eines schlechten Weltsystems und wären doch in der Lage, ein besseres zu errichten.

Wir werden, man kommt nicht darum herum, einen anderen Begriff von »Wirklichkeit« verwenden müssen als den bisher gewohn­ten. Genauer gesagt: Wir brauchen einen neuen Begriff, um diese zweite Wirklichkeit zu erfassen, die durch die digitalen Maschinen erzeugt und verwaltet wird, ist sie doch keine bloße Abbildung der ersten, aber auch nicht nur ein Gegenbild. Vielmehr handelt es sich dabei um eine dialektisch verbundene Einheit des Gespaltenen. Auf den großen Widerspruch von Ich und Welt, der Philosophen und Künstler so lange umtrieb, folgt nun der Widerspruch zwischen materieller und digitaler Realität. Und so wie man vom Ich verlieren kann, wenn man zu viel von der Welt in sich aufnimmt, und umgekehrt, so ist auch das Leben als Körper und das Leben als Information miteinander in einer Balance verbunden. Weder ganz und gar Information zu werden, wie es sich beispielsweise die Transhumanisten vorstellen, noch ganz und gar zur rein körperlichen Existenz zurückzukehren, wie es die romantischen Verweigerer der Technologie tun, stellt eine Lösung dar. Der Mensch wird lernen müssen, (mindestens) in zwei Welten und zwei Wirklich­keiten zu leben. Nur zum Beispiel spielt in der zweiten Welt der Tod nicht mehr die Rolle, die er einst in der ersten spielte (bevor er auch dort schmählich entwürdigt wurde).

Im Star Wars­-Ableger Rogue One etwa »spielt« der 1994 verstorbene Peter Cushing, damals in der Rolle des Großmoff Wilhuff Tarkin ikonisch geworden, seine Rolle erneut, nämlich in Form einer CGI (Computer Generated Imagery). Der Vorgang ähnelt der Sprachsynthese: Aus Filmaufnahmen des Verstorbenen wird (mit Erlaubnis der Familie des Toten) eine Matrix aus allen verfügba­ren Bewegungsabläufen erstellt, die dann in unzähligen Kombinatio­nen wieder zusammengesetzt wird. Diese Matrix wird dann einem Film angepasst, in dem ein Schauspiel-­Double, das in etwa die Statur und die Gestik des Originals aufweist, die Bewegungen vorgegeben hat. Den Rest erledigt ein Feinschliff und das Rendering, die Gestaltung des Lichtein­falls auf den Körper, bei dem eine virtuelle Lichtquelle Räumlichkeit und Stimmung schafft. So wie man digital vollständige Welten erzeu­gen kann (wie etwa die in der »Real«­Neuverfilmung The Jungle Book aus dem Jahr 2016), lässt sich nun auch jeder Mensch digital nachbauen. Beim Coachella-­Festival 2012 traten Dr. Dre und Snoop Dogg zusammen mit dem toten Tupac Shakur (als Hologramm) auf die Bühne. Dabei wirkte der untote Hip­Hop­Star keineswegs nur als »bewegtes Zitat«, sondern trat in Interaktion mit dem Publikum: »What’s up, Coachella!« »Das Fetischobjekt Popstar bekam so zwar nicht sein Fleisch und Blut zurück, immerhin aber seine Form.«(2)

Diese Beispiele zeigen keineswegs nur eine mehr oder weniger feine Sache für die Kontinuität in der Unterhaltungsindustrie (in der die Hel­den nun wirklich unsterblich werden). Vielmehr werfen sie vollkom­men neue Fragen in Bezug auf das Bild auf. Mit Bildern kann ich nun alles beweisen; das heißt andersherum: Kein Bild kann mehr wirklich als Beweis verwendet werden. Nicht minder gravierend ist das Problem der Bildrechte: Wem gehört das »Material«, aus dem man einen ver­storbenen oder auch nur abwesenden Darsteller digital erzeugt? Auch eine Grenze zwischen professionellen und privaten Auftritten kann es dabei ja nicht mehr geben. Benötigt nun jede Figur der Öffentlichkeit eine eigene Agentur, die seine Bildrechte verwaltet, und ist der Han­del mit solchen Rechten eines der lukrativsten Zukunftsgeschäfte? In dem Film Captain America – The First Avenger erscheint Robert Dow­ney Jr., der Darsteller des Iron Man im Marvel­-Universum, auf die gleiche digitale Weise als sein jugendliches Selbst. Der Mensch in der zweiten Wirklichkeit ist also nicht allein unsterblich, sondern kann auch seine Geschichte nach hinten hin verändern. Er kann ohne Wei­teres über mehrere Vergangenheiten verfügen, und es ist ein Leichtes, nicht nur die anderen, sondern auch ihn selbst an die künstliche Ver­gangenheit glauben zu lassen. Auch dies weist auf die digitale Fälsch­barkeit von Lebensläufen und -entwürfen hin: Der Mensch hat keine Zukunft mehr, aber er kann sich die Vergangenheit nach Belieben gestal­ten. Er lebt nicht mehr im Geist der Utopie, sondern im Schatten der virtuellen Vergangenheit.

Anm: 1. Vgl. Markus Metz/Georg Seeßlen: Wir Untote! Über Posthumane, Zombies, Botox-Monster und andere Über- und Unterlebensformen in Life Sciences & Pulp Fiction, Berlin 2011.
2. Kristoffer Cornils/Sonja Matuszczyk: Fetisch ohne Körper. In: Spex 367, März/April 2016, S. 105.

 

978-3-88221-563-2-x160xx400x-145623044912609Auszug mit freundlicher Erlaubnis von Verlag und Autoren aus:

Markus Metz & Georg Seeßlen: Schnittstelle Körper. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 400 Seiten, 23,99 Euro. Verlagsinformationen.

000278.big

Quelle: Verlag Matthes & Seitz

Für Verlust UNO hat uns Georg Seeßlen eine fulminante „Theorie des Verlustes“ geliefert. Das gerade erschienenen Buch „Schnittstelle Körper“, wieder im bewährtne Team mit Markus Metz entstanden, ist aufregende Lektüre. Georg Seeßlen, Jahrgang 1948 und in München Kunstgeschichte und Semiologie studiert, ist einer der letzten Enzyklopädisten unserer Tage. Die Bandbreite seiner sensibilité universelle, wie das bei Diderot geheißen hätte, spiegelt sich in seinen Arbeiten, sei es zum pornografischen oder zum Cop-Film, überhaupt alles mit Film, von Spielberg, Tarantino, Kubrick oder David Lynch bis Schlingensief, überhaupt Schlingensief, dazu Kritisch-Erhellendes über Untote, Volksmusik, Populär- und Hochkultur, Kriegsbilder, televisionäre Dummheiten oder Rechtsextremismus, Blödmaschinen und Geld frisst Kunst – Kunst frisst Geld, die Prostitution Bayerns durch den Fremdenverkehr und alles Sonstige aus unserem Wahnsinn, überhaupt dem Wahnsinn.  Ein Schädel, der in keine Schublade passt. Seeßlen wohnt im Allgäu – und ist trotzdem weithin präsent. Seine WIKIPEDIA-Seite, seine Texte bei CulturMag
Markus Metz, 1958 in Oberstdorf geboren, studierte Publizistik, Politik und Theaterwissenschaft in Berlin. Er arbeitet als freier Journalist und Autor, vorwiegend für den Hörfunk, und lebt in München. Mit Georg Seeßlen verbindet ihn eine langjährige Zusammenarbeit – ihre gemeinsame Produktivität ist schlicht unfassbar.

„Schnittstelle Körper“ zeichnet – und dies inkludiert viele Formen des Verlusts – den derzeit radikalen Umbau des Menschen des Menschen unter den Bedingungen eines digitalisierten Kapitalismus bzw. einer kapitalistischen Digitalisierung nach. Individualität, Gesellschaftlichkeit,  Seele und Kultur sind davon betroffen. Dieser Umbau wird alle Bereiche des Lebens verändern: Geburt, Liebe, Tod, Arbeit, Kommunikation, Gemeinwesen, Politik, Krieg – nichts bleibt unberührt von den unaufhaltsamen Umwälzungen. Markus Metz und Georg Seeßlen beschreiben und analysieren diese fortwährend sich beschleunigenden Veränderungen, führen durch die Welt der Wearables und Drohnen, der künstlichen Intelligenz und des Internets der Dinge, Big Data und des digitalen Brainwashing namens E-Learning, der Quantifizierung des Sozialen und der Bodyfitness, der digitalen Existenz. Ihre Haltung dabei: „Nicht, dass sich etwas ändert, ist das Schreckliche, sondern dass sich die Dinge ändern, ohne dass sich zugleich das Bewusstsein ändert.“ – Ein eminent wichtiges und gut lesbares, anregendes und aufregendes Buch.

Tags : , , , , , , , ,