Geschrieben am 5. August 2019 von für Litmag, NATUR Special, Specials

Peter Münder: Romantik und Apokalpyse

Kurische Nehrung

Waldeinsamkeit oder Napalmgeruch am Morgen

Zum Naturbegriff zwischen Romantik und „Apocalypse Now“ – von Peter Münder

Schon am ersten Tag unserer Radtour durch einsame litauische Wälder – von der Kurischen Nehrung bis nach Vilnius und an die Grenze zu Weißrussland – ging mir der  Ruf des mysteriösen sprechenden Vogels aus Tiecks Novelle „Der Blonde Eckbert“  (von 1797) durch den Kopf: „Waldeinsamkeit! Oh wie mich freut Waldeinsamkeit!“  

Das Schwelgen in dieser litauischen Wald-Einsamkeit  war  einerseits der Auslöser eines Glücksgefühls, das die Symbiose von Mensch und Natur zelebrierte, wozu unterwegs auch noch das stundenlange Dösen in den hohen Dünen am menschenleeren Ostsee-Strand gehörte: Hier konnte man  das volle, völlig geräuschlose und kurtaxenfreie Entschleunigungs-Programm auskosten. Andererseits schien die Euphorie inmitten dieser Idylle auch ziemlich fragil zu sein (lag das vielleicht an der eigenen Empfindsamkeit?), wie die zufällige Konfrontation mit einem Pulk krächzender pechschwarzer Kormorane auf der nächsten Radler-Etappe zeigte. Die Viecher kreisten über ihren Nestern in hohen Fichten und schissen ihre stinkenden Haufen auf den Waldboden sowie auf einige  Besucher (wir wurden auch gedüngt) an einer Aussichts-Plattform. Jedenfalls war es nicht einfach, diesen Guano-Bombern auszuweichen: Dante hätte aus diesem Szenario wohl eine Art stinkender Vorhölle fabriziert.

Keine Frage: Natur-Idylle und düster anmutendes Unheil können doch ziemlich nah beieinander liegen. Was Tieck wohl auch zeigen wollte, denn in seinem tragischen Märchen wird der sprechende Vogel erdrosselt, während der „zurückhaltende Melancholiker“ Eckbert eine depressive Paranoia  nebst Halluzinations-Schüben entwickelt und seine Frau Bertha unter massiven Schuldgefühlen leidet, nachdem sie Eckberts Freund Walther ihre unheimliche Kindheitsgeschichte über ihre Flucht aus dem Elternhaus und das Leben mit einer fürsorglichen Alten und deren Wundervogel gebeichtet hat. Die düsteren Natur-Impressionen, die Bertha während ihrer Flucht in der „furchtbaren Wildnis“ im Harz  erlebt, spiegeln ihre eigene Verzweiflung und Ausweglosigkeit wider: „Die Felsen wurden immer furchtbarer … ich war ganz trostlos, ich weinte und schrie und in den Felsentälern hallte meine Stimme auf eine schreckliche Art zurück“. Es ist Romantik pur: Der bedrohlich-tristen Natur entspricht die emotionale Verfassung der Betrachterin.  

„The Horror! The Horror!“ hätte auch wie bei Joseph Conrads „Heart of Darkness“ am Ende von Tiecks Novelle stehen können – denn statt einer erbaulichen Harzreise mit dem Ritter Eckbert hat er uns einen tiefen Einblick in das niedersächsische Herz der Finsternis mit Tod, Selbstmord und Wahnsinn präsentiert. Tieck erweist sich auch als grandioser Avantgardist, wenn er schließlich die Grenzen von Wirklichkeit und Illusion verwischt und den wahnsinnigen Eckbert in der letzten Szene „verscheidend“ auf dem Boden liegend zeigt: „Dumpf und verworren hörte er die Alte sprechen, den Hund bellen und den Vogel sein Lied wiederholen.“ 

„Ich liebe den Geruch von Napalm am Morgen“

Damit springen wir vom düsteren Harz-Szenario zum dramatischen Vietnamkriegs-Spektakel, das gerade als „Final Cut“ von Coppolas „Apocalypse Now“ aufbereitet wurde. Zwischen dessen ratterndem MG-Feuer, explodierenden Handgranaten, Hubschrauber-Gedröhn und den brüllenden Walküre-Fanfaren würde Hundegebell oder melancholischer Vogel-Gesang natürlich nie wahrgenommen werden. Umso intensiver aber die Macken der durchgeknallten Hauptfiguren Captain Willard (Martin Sheen), dem von Robert Duvall gespielten Surf-Fanatiker und von Colonel Kurtz (Marlon Brando). Sie können den Kriegswahnsinn offenbar nur mit  Drogenkonsum, bei irren Surf-Aktionen in feindlichem Gebiet oder halluzinierend ertragen. Der sarkastisch-abgebrühte Zynismus gehört natürlich auch dazu: „Ich liebe den Geruch von Napalm am Morgen“, jubelt der Colonel Willard zu. Der pathologische Despot Kurtz, bei Coppola ein abtrünniger US-Offizier, residiert in seiner eigenen Enklave im  kambodschanischen Dschungel. In Conrads Novelle „Herz der Finsternis“ war Kurtz ein extrem brutaler, raffgieriger und egomanischer Elfenbeinhändler im Kongo, den Captain Marlow mit einer eigenen Expedition im Dschungel aufstöbern und nach Europa zurückbringen soll. Es gibt in „Heart of Darkness“ auch ein Scharmützel, als eine Horde von Eingeborenen mit Pfeil und Bogen die weißen Eindringlinge auf dem Dampfschiff angreift. Marlow kann den kranken Kurtz noch aufs Schiff schleppen, wo der aber bald verstirbt. Zurück zur Natur: Der Dschungel ist für Marlow ein unheimliches Habitat. Hier lauert das unberechenbare Böse tatsächlich immer und überall, er kann beim Manövrieren über die engen  Kongo-Deltas gelegentlich hinter wuchernden Büschen geheimnisvoll leuchtende Augenpaare entdecken, muss aber auf plötzliche Angriffe gefasst sein. 

A remarkable Man?!

Kurtz‘ letzte Worte „The Horror! The Horror!“ sind längst legendär – aber was will der Herr des Dschungels damit ausdrücken? Seinen Widerwillen gegen sein eigenes korruptes und despotisches Schreckensregime, dem etliche Menschen zum Opfer fielen? Oder seine Angst vor einer Rückkehr in die regulierte Zivilisation, die für Außenseiter wie ihn kein Verständnis mehr hat? Das bleibt ebenso offen und rätselhaft wie der schwache, groteske Schluss dieser doch stark überschätzten Novelle. Die Schluss-Szene, die ein Treffen von Marlow mit der Kurtz-Verlobten  beschreibt, läuft auf eine groteske Idealisierung des Dschungel-Despoten hinaus: Marlow stellt ihn gegenüber der Verlobten  als unbesiegbaren Helden dar, dem er selbst bis zuletzt die Treue gehalten habe …usw. „He was a remarkable man. He had something to say.“ Echt jetzt? Legen wir lieber behutsam den Mantel des Schweigens über dieses melodramatisch-larmoyante, peinliche Helden-Dramolett.  

Immerhin war Marlow nicht von einem destruktiven, zerstörerischen Furor besessen; er war eher der nachdenkliche Beobachter,  der erstmal  beobachten und erforschen will, ehe er  handelt. Seine Expedition ins Herz der Finsternis hinterlässt keine abgefackelte, mit Leichen übersäte Müllkippe wie wir sie in „Apocalypse Now“ erleben. 

Vierzig Jahre nach der Uraufführung in Cannes, wo der Film mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, hat Coppola jetzt einmal wieder eine bearbeitete neue Version präsentiert. Keine Frage: Coppola  hat im Verlauf seiner „Apocalypse Now “-Bearbeitungen dieses Höllentrips durch den Vietnamkrieg seine manisch-obsessive Faszination für  Horror, Madness, Death and Destruction immer noch nicht abgearbeitet. 

Ein Napalm-Angriff in „Apocalypse Now“

Mit dem Vietnam-Trauma muss sich die Nation immer noch auseinandersetzen, da es eine kritische Vergangenheitsbewältigung eben nur ansatzweise gegeben hat. Außerdem fragen sich  Historiker, Politiker und Journalisten  angesichts des gegenwärtigen Tollhaus-Szenarios im Weißen Haus, wie die US-Eliten sich immer noch einbilden können, die größten Krisen schon irgendwie mit den üblichen Floskeln bewältigen zu können. Zur Zeit von Kennedy, Johnson und Nixon war der Vietnam-Krieg jedenfalls innerhalb dieser herrschenden Elite als gerechtfertigter Krieg behandelt worden. Krisen, militärische Fehlentscheidungen und  Medien-Debakel wurden einfach verdrängt; erst als Informationen über das Entlaubungsmittel Agent Orange mit seinen grauenhaften Nebenwirkungen über das TV in die Wohnzimmer gelangten und napalmverbrannte Kinder auf der Mattscheibe gezeigt wurden, war eine kritische Gegenöffentlichkeit in Panik geraten und hatte ein Ende dieses perversen Krieges herbeigeführt. Die geheimen „Pentagon Papers“, von Washington Post und New York Times enthüllt, beschleunigten diesen Aufklärungsprozess. Und natürlich sorgte Reporter Seymour Hersh mit den schockierenden Berichten über das My Lai-Massaker einer kleinen US-Einheit in Vietnam für ein brutales Erweckungserlebnis der konservativen Kriegsbefürworter. 

Aber kommen wir wieder zum Natur-Thema: Einige Muster der Konfrontation Mensch-Natur bei Conrad und Coppola ähneln sich und verweisen darauf, wie leicht aus der Zerstörung der Natur eine menschenverachtende Kette destruktiver Aktionen werden kann.  

Wenn sich nämlich die Vietnamesen mit der natürlichen Tarnung des Dschungels den US-Angriffen entziehen wollen, dann sorgen die US-Truppen mit Bombardements sowie dem Einsatz von  Agent Orange oder Napalm für eine apokalyptische Tabula Rasa, in der das Überleben unmöglich wird. Der destruktiv-psychotische Aspekt des Krieges, der auch im Film zu apokalyptischen Zirkus-Szenen führt, ist das zentrale Thema: Wie Michael Herr in seiner Vietnam-Reportage „Dispatches“ (deutscher Titel „An die Hölle verraten“, 1968) zeigte, konnte er die monatelange Vietkong-Belagerung und die Wahnsinns-Schlacht als Reporter in Khe San und andere lebensgefährliche Scharmützel während der Tet-Offensive nur ertragen, weil er meistens mit Drogen vollgepumpt war und sich damit in einen Halluzinations-Käfig zurückziehen konnte, in dem der ganz reale Irrsinn des Krieges leichter ausblendbar war. Dabei wollte der Esquire-Reporter ursprünglich nur die amüsanten Aspekte der Amerikanisierung von Saigon beschreiben. Stattdessen geriet er bei seinen Hubschrauber-Exkursionen mit den GIs in einen permanenten Höllentrip. Was ihn später dann ja als Mitarbeiter am „Apocalypse“-Drehbuch qualifizierte. 

Verbrannte Erde, „Zerstören, um zu erhalten“ – das war die Strategie des US-Militärs und Michael Herr registrierte genau, dass das Vernichten der vietnamesischen Natur ein konzeptueller Bestandteil der US-Militärstrategie war. Ein Nachrichtenoffizier im Hauptquartier in Cu Chi zeigt ihm auf einer Landkarte und dann vom Hubschrauber aus – O-Ton Herr –, „was sie mit den Wäldern von Ho Bo gemacht hatten“, die mit riesenhaften Bulldozern und Chemikalien und anhaltenden Schwelbränden vernichtet worden waren, die Hunderte Morgen kultiviertes Land und Urwald verwüsteten, „wodurch dem Feind wertvolle Versorgungsmöglichkeiten und Schlupfwinkel entzogen wurden“. 

Das ist natürlich Orwellscher Newspeak pur. Herr schreibt dagegen seinen in die Psyche und in die eigenen Ängste kriechenden Klartext: „Wenn du nachts auszogst, gaben dir die Sanitäter Pillen, Dexedrine stinkt dir aus dem Hals, wie tote Schlangen, die man zu lange in einem Topf gehalten hat“ – so lautet sein erster „Dispatches“-Satz, der das Leben und Leiden in permanenten Extremsituationen, im von Coppola drastisch gezeigten apokalyptischen Wahnsinn optimal erfasst oder sich jedenfalls an diese Halluzinations-Hölle herantastet.

Nach den fast einjährigen irren Dreharbeiten auf den Philippinen, wo mehrere Schauspieler durchdrehten und ersetzt wurden, wo der Millionen-Etat für aberwitzige Effekte verpulvert wurde und Coppola dem Diktator Marcos sein abgedrehtes Material vorführte, erklärte Coppola, „Apocalypse“ sei kein Film über Vietnam, sondern dieser Film sei Vietnam. Und er erklärte weiter: „Wie wir das gedreht haben, ähnelte dem Verhalten der Amerikaner; wir waren im Dschungel, hatten zuviel Geld und Ausrüstung und wurden dabei langsam verrückt.“ 

„The Horror, the Horror“ stöhnt nun der fettleibige Marlon Brando, der als Schauspieler offenbar allzu intensiv in die „direkte Methode“ eingetaucht war und selbst abseits der Dreharbeiten egomanische Züge des halluzinierenden Kurtz angenommen hatte. Das anarchistisch-aggressiv-wahnsinnige  Element des chaotischen Vietnam-Krieges, in dem die meisten Regeln der Zivilisation außer Kraft gesetzt wurden, schien sich wie selbstverständlich auf das gesamte Team übertragen zu haben. Was Jean Baudrillard übrigens so kommentierte: „’Apocalypse Now’ ist die Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln, der Höhepunkt des gescheiterten Krieges und seine Apotheose. Der Krieg wurde Film, der Film wurde Krieg, beide sind verbunden durch ihr Ausbluten in die Technologie.“  

Der Sog dieses Films, der nicht nur Coppola bis heute fasziniert, ist jedenfalls immer noch spürbar. Vielleicht ist das zentrale Motiv ja auch die Rebellion der Natur gegen eine grauenhafte, mörderische Hi-Tech-Maschinerie?

Peter Münder

Peter Münder, Journalist, Autor einer Harold Pinter-Biografie und Kenner der exotischsten Automobile, leidenschaftlich gerne auf Reisen, lebt in Hamburg. Seine Texte bei CulturMag hier.

Tags : , , , , , , , ,