
Meinungsstarke Positionsbestimmung
Eine Besprechung von Hazel Rosenstrauch
Der Titel „Brauchen wir Ketzer?” ist nicht nur eine rhetorische Frage, die in diesem knapp 500 Seiten dicken Buch mit lautem JAA beantwortet wird, denn selbstverständlich brauchen wir Ketzer. Der Autor sammelt anhand von elf Autoren, zu denen drei Autorinnen gehören, Qualitäten, die er, wie es im Untertitel heißt, als „Stimmen gegen die Macht” und damit eine für heute noch nützliche Ketzerei ausmacht. Es ist eine Fortschreibung des 2019 erschienenen Buchs, in dem der Autor 22 Dissidenten porträtiert hatte.
„Sie alle waren säkulare Juden und Schriftsteller, politisch links stehend oder liberal.” Sie alle sind inzwischen tot, haben den Zweiten Weltkrieg, das Exil und die Nachkriegszeit überlebt – in der Bundesrepublik, in der DDR, in Österreich, Italien oder eben Mexiko, wie Alice Rühle-Gerstel, die nicht so prominent ist wie Anna Seghers, Hermann Broch, Primo Levi, Hilde Spiel, Stefan Heym, Hans Habe, Friedrich Torberg. Auch Ludwig Marcuse ist weniger berühmt als sein Namensvetter Herbert, was dem Autor schon im ersten Beitrag Gelegenheit gibt, Watschen an die nicht näher bezeichneten „habituell progressiven Söhne” der Nazis oder die „westdeutsche Linke” zu verteilen – ein Lieblingsthema des Autors. Man sollte mit der Lektüre bei den Porträts von Primo Levi oder dem weitgehend vergessenen Leo Lania anfangen. Oder bei dem „linksbürgerlichen” Fritz Beer, Präsident des Exil-PEN, den bei einem Literatentreffen 1995 „die wenigsten kannten”. Er hat sich „mit der Wehleidigkeit und den Lebenslügen […] der einstmals staatsnahen Intellektuellen” und „den Funktionären des bundesdeutschen PEN auseinandergesetzt”.
Marko Martin weiß viel über diese säkularen jüdischen Intellektuellen, ihre Lebenswege, Werke und Haltungen. Er kennt die Zustände und Konflikte im Exil, weiß wer mit wem befreundet oder zerstritten war, auch, wer wen denunziert hat. Er rekurriert auf viele weitere Autoren – ketzernde oder angepasste, bekannte oder vergessene, und demontiert ganz nebenbei z.B. den „Großbürgersohn Ernesto Guevara als bekennenden Stalin-Fan”. Einige der Porträtierten hat Marko Martin noch getroffen und interviewt, oder hat, wie bei Stefan Heym, schon als Jugendlicher an ihre Tür geklopft.
So behandelt dieses Buch die ganze elende linke Geschichte von Euphorie und Enttäuschung, Schauprozessen und Stasi, Gefängnis und Mord für einstige Genossen, Zensur, Verrat und Selbstgerechtigkeit innerhalb des kommunistischen Kosmos. Einige der Enthüllungen über Stalinisten oder allzu treue Ideologen standen wortgleich schon im Dissidentenbuch.
Nebenbei bekommen auch seines Erachtens viel zu einflussreiche Linke ohne kommunistische Vergangenheit, wie Günter Grass, ihr Fett weg. Nach seinen strengen Maßstäben haben sich der „vom SED-Hof stammende Gregor Gysi” oder Heiner Müller, Bert Brecht, Adorno, Bloch sowie ein (namenloses) „kompaktes Gegenüber im Hosenanzug” disqualifiziert, auch mit F.C. Weiskopf, Wieland Herzfelde, Egon Erwin Kisch, Erich Fried (Kommunist!) geht er streng ins Gericht.
Marko Martin ist in der DDR aufgewachsen und allergisch gegen die Phrasen und Verallgemeinerungen, das Schwadronieren über Menschheitsfragen samt Blindheit gegenüber konkreten einzelnen Menschen. Dabei nimmt er Kommunisten ins Visier, die nicht eingesehen haben, dass sie „nicht länger Apostel einer neuen und besseren sozialen und wirtschaftlichen Ordnung, sondern Agenten und Söldner des russischen Imperialismus” (Zitat von Leon Lania) sind. Das ist seine Agenda, die er mit ausführlichen Kommentaren betont. Seine Protagonisten sind dabei keine Helden, sie haben Fehler wie eine Anna Seghers, die „allzeit Linientreue”, die sich einspannen ließ „für die Kulturpolitik der SED und deren Moskauer Befehlsgeber”.

Was er an den ausgewählten Figuren trotz einiger Schwächen und Verblendungen schätzt und gleichsam für künftige Ketzer empfiehlt, sind: Kritikfähigkeit, Individualismus, präzise Sprache, Misstrauen gegen Propheten und Thesen-Verbreiter, die Möglichkeit, sich und seine eigenen Gewissheiten in Frage zu stellen. In diese Fußstapfen tritt er selbst nicht, aber Ketzer von heute kämpfen auch gegen andere Götter und Teufel als die des 20. Jahrhunderts. Die Abneigung seiner Vorbilder gegen das Moralisieren hat er sich nicht zu Herzen genommen. „Gescheit sein und gütig” hatte er im vorigen Buch, „Dissidentisches Denken“, 2019, noch Hans Sahls „modeste Maxime” zitiert, nein, gütig ist er nicht, sein Ton erinnert eher an die ebenda notierte Brecht-Zeile: „Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit/Konnten selber nicht freundlich sein.” Auch musste ich manchmal an ein Zitat des Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah denken: „… his books have grown increasingly certain of their judgements, and to be too certain of anything is the beginning of bigotry“ (in: Desertion, S. 225).
Ein paar forsche Verallgemeinerungen gegen „die Linken” mögen sich aus Marko Martins Erfahrungen in der DDR nähren. Ich bezweifle allerdings, dass er in einer BRD hätte leben wollen oder können, wäre sie nicht von Linken unterschiedlichster Färbung umgeformt worden. Mein Vergnügen an der Lektüre wäre größer gewesen, wenn er seine Sottisen gegen das „progressive Milieu”, die leutseligen Aktualisierungen in Klammersätzen und seine eigene Bedeutung nicht in die Porträts eingeflochten, sondern in einem Nachwort oder Essay untergebracht hätte.
Marko Martin: Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht. Porträts. Arco-Verlag, Wuppertal 2023. 484 Seiten, 13 Abbildungen, Paperback, 24 Euro.
Marko Martin: Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters. Die Andere Bibliothek/ Aufbau Verlag, Berlin 2019. 544 Seiten, 42 Euro.
- Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs. Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de
Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen. Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.