Geschrieben am 15. Mai 2021 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2021

Vor den Türen

Geschlossene Türen im Exilland und fremd im eigenen Land: wie man als Exilant:in Wolfgang Borchert, der am 20. Mai einhundert Jahre alt geworden wäre, heute liest.

(Mit diesem Thema beschäftigt sich auch eine Veranstaltung mit Exilautorinnen und Autoren im Rahmen des Festivals „Hamburg liest Borchert“ im Literaturhaus Hamburg)

Von Omid Rezaee

An einem regnerischen Augusttag erwartete ein schwarzes, altes Buch von mir, vor dem Regen gerettet zu werden. Ich kann mich auch nach fünf Jahren noch ganz genau an jenen Tag erinnern als ich das Buch, während ich mit einem alten Freund, den ich nach vielen Jahren wiedersehen durfte, im Berliner Prenzlauer Berg herumflanierte, fand. Ich – damals noch Hartz-IV-Empfänger – freute mich über jedes kostenlose Material zum interkulturellen und intellektuellen Austausch mit meiner neuen Gesellschaft, auch wenn das Buch bereits 1997 gedruckt worden war und laut Einband 7,90 deutsche Mark kostete, damals wahrscheinlich „der Preis eines einzigen Kinobesuches“, damals.

Während mir der Titel und der Autor nichts sagten, sprach mich auf der Titelseite der „mit einem Nachwort von Heinrich Böll“ an. Im Gegensatz zu dem Autor des schwarzen, alten Buches ist Böll im Iran eine bekannte, populäre Figur, dessen Bücher mehrmals ins Persische übersetzt worden sind und teilweise noch heute zu den Bestsellern gehören.

Die zufällige Begegnung mit dem Buch passierte in einer Zeit, als ich versuchte, das Land, in dem ich zu jener Zeit seit etwa eineinhalb Jahren lebte, durch Bölls Augen besser kennenzulernen. Jede „deutsche“ Person, der ich begegnete, konnte ich automatisch mit einem Charakter von Bölls Geschichten assoziieren. In der Bahn und dem Bus erkannte ich im Gesicht jeder „deutschen“ Person mehr und weniger ein:e Protagonist:in, oder besser Antagonist:in, von Böll wieder.

Bölls Bücher, deren persischen Übersetzungen ich vor langer Zeit gelesen hatte, und die ich nun noch einmal im Original las, haben mich, als einen Deutschanfänger, der damals noch einen Deutschkurs besuchte, im Spracherwerbsprozess einen großen Schritt weitergebracht.

Das schwarze Buch habe ich nur einige Tage nachdem ich meine Bewerbung um ein journalistisches Weiterbildungsprogramm in Hamburg eingereicht hatte gefunden. Die Bedeutung dieses reinen Zufalls habe ich beim Lesen der ersten Zeilen des Dramas festgestellt: „Die Elbe schwappt“.

Die Elbe habe ich also zunächst und zuerst durch die Augen des Kriegsheimkehrers Beckmann kennengelernt, einige Monaten bevor ich dem Fluss persönlich begegnen durfte.

Im Oktober desselben Jahres bin ich nach Hamburg gezogen. Auf diesem Weg, also nicht nur dem Weg aus Berlin nach Hamburg, sondern auch während meines neuen Lebensabschnitts in Hamburg, waren die Worte des Buches, die Melancholie der Charaktere ein ständiger Begleiter.

Im grauen, kalten Oktober, als ich erstmals nach Hamburg kam, erfuhr ich die Elbe genauso, wie der mir damals noch unbekannte Autor sie beschreibt. Ich konnte ihre Stimme hören. Ich hatte das Glück – oder gerade das Unglück –, die ersten Monate meines Aufenthaltes in Hamburg in der Nähe der Landungsbrücken zu verbringen. Jeden Morgen und jeden Abend auf dem Weg zur Uni und zurück haben die Elbe und ich die Unterhaltung zwischen Beckmann und dem Fluss nachgesprochen:

„Wenn alle, die Hunger haben, sich ersaufen wollten, dann würde die gute Erde kahl …, kahl und blank … Bei mir kommst du mit solchen Ausflüchten nicht durch. Bei mir wirst du abgemeldet.“

Abgesehen von Bölls Namen auf der Titelseite, sprach mich, als einen geflüchteten Menschen, auch der eigentliche Titel des Buches, „Draußen vor der Tür“, auf den ersten Blick in bester Form an. Denn ich hatte damals genug Erfahrungen, um herausgefunden zu haben, dass das Leben der Migrant:innen aus geschlossen Türen besteht, vor denen sie immerzu stehen. Manchmal öffnet sich eine Tür und dahinter warten einige Überraschungen, manchmal auch positive. Aber eins erwarten alle Migrant:innen hinter jeder sich öffnenden Tür: eine weitere geschlossene Tür.

Omid Rezaee

Ich kam Ende Dezember 2014 in der Bundesrepublik an, als die Gesellschaft noch nicht von der „Willkommenskultur“ und der „Politik der offenen Grenzen“ vom Sommer 2015 geprägt war. Als sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft im Sommer 2015 öffnete, taten sich auf einmal viele Türen für die Neu-Migrant:innen auf. Die sogenannten Einheimischen handelten deutlich solidarischer als vor einigen Monaten. Als Geflüchtete:r fühlte man sich an Orten willkommen, zu denen man kurz davor noch gar keinen Zugang hatte. Jedoch änderte sich das kurz darauf wieder sehr rasch und abrupt. Die voreiligen und teilweise falschen Berichterstattung über die Silvesternacht 2015 in Köln führten dazu, dass sich viele Türen wieder schlossen. Die Solidarität war ruckartig verschwunden und durch Skepsis oder sogar Hass ersetzt, bevor die neu angekommen Flüchtlinge, die die überwiegend weiße Gesellschaft auf den Bahnhöfen begrüßt hatte, von dieser Solidarität profitieren konnten, oder bevor die Betroffenen es auf die andere Seite der Türen geschafft hatten.

Während die geschlossen Türen für uns Migrant:innen zu den Selbstverständlichkeiten gehören, sollte es für Beckmann doch eigentlich anders sein, sollte man denken. Er war kein Outsider. Er musste keine Sprachbarriere überwinden. Er hatte keine andere Hautfarbe, keine andere Religion, nur eine außergewöhnliche Brille. Er war nicht unbedingt einsam; er glaubte, dass er Familie, Freund:innen, Bekannte hätte, die auf ihn warten würden. Sollte die Gesellschaft ihn nicht als einen Helden, der für sein Volk gekämpft hatte, auch wenn der Krieg verlorengegangen war, mit offenen Armen empfangen?

Die Exil-Iraner:innen lassen sich sehr grob in zwei Gruppen einteilen: Da sind diejenigen, deren Gedanken vom Heimweh geprägt sind. Sie vermissen ihre Heimat, haben überwiegend nur gute Erinnerungen an ihr Land und finden, dass alles dort besser gewesen wäre. Nostalgie wird mit der Zeit zu ihrer Ideologie. Auch wenn sie in der Heimat politisch verfolgt und unfair behandelt worden sind, fangen sie irgendwann an, die Ungleichheiten in der Heimat zu rechtfertigen.

Die anderen haben zwar ebenfalls Heimweh, erkranken aber nicht daran. Sie wollen nicht vergessen, wie der Staat und die Gesellschaft mit ihnen umgegangen ist. Sie versuchen, ein realistisches Bild von der Heimat zu behalten. Sie besinnen sich, wie einsam sie in ihrem Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit waren und vor wie vielen geschlossenen Türen sie auch damals stehenbleiben mussten. Sie waren in ihrem eigenen Land nicht weniger fremd als Beckmann in dem Deutschland der Nachkriegszeit, als die Mehrheitsgesellschaft vergessen wollte, was sie gemacht hatte, auch mit ihren eigenen Kindern.

„Draußen vor der Tür“ kann man also auch als die Geschichte der Exilant:innen und Geflüchteten lesen, nicht nur wegen der geschlossen Türen im Exilland, sondern auch sehr stark mit dem Blick auf das Heimatland.

Wenn man klug genug ist, nach dem Grund der Flucht und der Migration zu fragen, wenn man gegenüber der Lage in den Heimatländern der Geflüchteten und Exilant:innen nicht blind ist, wenn man sie nicht als eine bloße Masse oder einen homogenen Haufen betrachtet, sondern als Individuen, wenn man nach tieferen Gründen als „bessere Lebensbedingungen in reichen Ländern“ zu graben bereit ist, dann muss man sich mit den sogenannten „Fluchtursachen“ auseinandersetzen: Krieg und Bürgerkrieg, Diktatur, Ungerechtigkeit, Hunger und Klimawandel – eben mit genau den geschlossenen Türen, vor denen die Migrant:innen in ihren eigenen Ländern gestanden haben, bis sie dazu gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen.

Und wenn ein:e Exilant:in davon träumt, irgendwann in die Heimat zurückkehren zu dürfen, fällt einem als erste Frage ein, vor welchen weiteren geschlossen Türen er oder sie noch stehen muss, in der eigenen Gesellschaft, die sich im Laufe der Zeit massiv verändert haben wird.

Wie viele Meisterstücke der Weltliteratur kennt „Draußen vor der Tür“ keine zeitlichen und örtlichen Grenzen und lässt jeden und jede die Geschichte frei interpretieren und sich darin wiedererkennen. Besonders spricht das Drama aber auch die Migrant:innen und Exilant:innen an, die Fremden im neuen Land und die Fremden im eigenen Land, in das sie (vielleicht nur in ihrer Fantasie) zurückkehren.

Dass ich, mit meinem damals gebrochenen Deutsch, mich in Beckmann hineinversetzen konnte, in einen Soldaten des Dritten Reiches, dass ein Autor der deutschen Nachkriegszeit, der lange vor meiner Geburt gestorben ist, in seiner Literatur auf so einer präzisen und zutreffenden Weise meine eigene Geschichte erzählt, ist Wolfgang Borcherts Wunder.

In meinen ersten Wochen in Hamburg habe ich häufig die grauen November-Nachmittage damit verbracht, Borcherts Geschichten in meiner eigenen Sprache nachzuerzählen. In vielen von seinen Texten konnte ich nicht nur die „deutschen Personen“, denen ich begegnete, sondern mich selbst wiederfinden, etwa in Stimmen sind da, in der Luft, in der Nacht oder Die traurigen Geranien.

Während ich diesen Text schrieb, erreichte mich eine entsetzende Nachricht: S., eine alte Freundin von mir, die ich aus Studienzeiten kenne, oder kannte, hat diese Woche Suizid begangen. Sie war inzwischen Ärztin. Ich kannte sie als einen leidenschaftlichen, mutigen, gegen Ungleichheit kämpfenden, sensiblen Menschen. Sie war politisch engagiert und an der Grünen Bewegung (2009-2011) beteiligt. Ich kann mich ganz genau an die Demonstration in Rasht – der Stadt, in der ich studiert habe – erinnern, als sie auf der Straße von den Sicherheitskräften festgenommen wurde. Wie sie am nächsten Tag mit einem Lächeln auf dem Gesicht die Haftanstalt, den Ort des Schreckens, verließ, wird mir immer in Erinnerung bleiben. Aber am merkwürdigsten ist die Beziehung, die sie zu Wolfgang Borchert hatte: Sie hatte vor einigen Jahren bei der Aufführung von „Draußen vor Tür“ in einem kleinen Theater in der nordiranischen Stadt Lahidschan die Rolle „des Anderen“ gespielt, „den jeder kennt“. Wenn sie Beckmann gespielt hätte, würde ich mich vielleicht heute anders fühlen und wäre mit ihrem überraschenden Tod anders umgegangen. Aber sie hatte ausgerechnet denjenigen gespielt, der die Menschen am Leben halten wollte, um jeden Preis.

Jetzt habe ich das Gefühl, in einer Geschichte von Jorge Luis Borges gelandet zu sein und frage mich ständig, vor wieviel geschlossen Türen S. in ihrem eigenen Land gestanden wohl gestanden hat, bis sie zu diese Entscheidung gekommen ist?

Omid Rezaee

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Der iranische Journalist Omid Rezaee lebt seit 2015 im deutschen Exil. Schon als Student arbeitete er journalistisch und war politisch aktiv. Für sein Engagement wurde er 2011 inhaftiert und verbrachte zwei Monate in Untersuchungshaft. Bevor seine Verurteilung in Kraft treten konnte, floh er in den Irak. Zwei Jahre später erreichte er Europa. In Berlin und Hamburg lernte er Deutsch. Seit 2016 lebt Omid Rezaee, mit einer Unterbrechung, in Hamburg und studiert „Digital Journalism“. Er war Chefredakteur des Hamburger Online-Magazins „Amal, Hamburg!“ und berichtet als freier Journalist für iranische Medien über Deutschland und für deutsche Medien über den Iran.

Veranstaltungstipp im Rahmen des Festivals „Hamburg liest Borchert“:

18.5. 19:30 Uhr Literaturhaus Hamburg:
Draußen, heute – Borchert interkulturell
Lesung und Diskussion mit den drei Exilautorinnen und -autoren Ahmad Katlesh, Rosa Yassin Hassan, Omid Rezaee.

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