Geschrieben am 1. Oktober 2021 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2021

TW: Warum “Harlem Shuffle” nur so aussieht wie ein Kriminalroman

Thomas Wörtche über den neuen Roman von Colson Whitehead

“Harlem Shuffle”, der neue Roman von Colson Whitehead, tummelt sich deutlich auf Chester-Himes-Gebiet. Nicht nur räumlich, auch zeitlich. Die Handlung beginnt 1959, dem Jahr, in dem zwei domestic-novels von Himes erschienen sind, und damit sein „Harlem Cycle“ Gestalt annahm. 1959 ist übrigens auch das Jahr, in dem Miles Davis‘ Meilenstein der Black Culture, „Kind of Blue“, erscheint und Davis selbst Opfer von rassistischer Polizeigewalt wird, wobei beide Ereignisse bei Whitehead nicht vorkommen.

Aber natürlich hat das alles mit Whiteheads Roman zu tun. 1959 wird seine Hauptfigur, der (Gebraucht-)Möbelhändler mit College-Abschluss Ray Carney, in eine Kette verbrecherischer Handlungen verwickelt, nolens volens und manchmal auch ganz selbstverantwortlich.  Sein Cousin Freddie, ein rechter Schlingel und Tunichtgut, überredet ihn als Hehler für die Beute aus einem Raubüberfall zu fungieren.

Ein besonders heißes Ding, denn man hat Chink Montague, dem Nachfolger des berühmten Bumpy Johnson (den wir, wenn nicht sowieso, spätestens aus „American Gangster“ kennen) als Pate der schwarzen organisieren Kriminalität in Harlem, wertvolle Preziosen aus dem Hotel Theresa – dem angesagten Luxushotel an der Kreuzung 7th Avenue und 125th Street – geklaut. Ray soll die Sore zu Geld machen, wobei natürlich Montagues Leute und die notorisch korrupten Cops hinter der Beute her sind. Dabei will doch Ray nur genug Geld verdienen, um seiner Frau Elizabeth ein standesgemäßes Leben, am liebsten am Riverside Drive zu ermöglichen. Denn sie stammt aus einer snobbishen Familie, für die Ray nur schwer akzeptabel ist, obwohl er alles tut, um nach oben zu kommen. Ray handelt mit Designermöbel, An- und Verkauf, und mit anderen Einrichtungsgegenständen, die auch mal hin und wieder vom Laster gefallen sind. Sein Geschmack ist erlesen, top-aktuell und schick. Whitehead haut uns lustvoll Marken- und Designernamen um die Ohren, eine Art „American Psycho“ für Inneneinrichtungsfreaks und eine Demonstrationsorgie für Bourdieus Begriff des Distinktionsgewinns.

Seine exquisite Auswahl – ein eher grobmotorischer Gangster lässt sich sogar für geleistete Dienste mit Designermöbel bezahlen – verbindet ihn auch mit downton Manhattan, wo die meist jüdischen Händler sitzen, mit denen Ray gerne Geschäfte macht, denn auch wenn Harlem, wir sind inzwischen im Jahr 1964, wegen eines krassen Falles von Polizeibrutalität explodiert, gilt: „Uptown brannte es, aber im weißen Manhattan gingen die Geschäfte ihren Gang.“ Damit seine Geschäfte besser in Gang kommen, möchte Ray Carney gerne in den Dumas-Club aufgenommen werden, einen exklusiven Zirkel reicher, mächtiger schwarzer Geschäftsleute, Bankiers, Politiker und Anwälte. Weil der Bankier Wilfred Duke ihm gegen Bestechungsgeld die Mitgliedschaft zu beschaffen verspricht, ihn aber nur schnöde abzockt, wird der sonst so nette Ray entschieden unnett und ruiniert Duke aufs Eleganteste. Seriöse Geschäfte und miese Tricks, nur Nuancen der letztendlich gleichen Praktiken. fNoch ruppiger geht es zu, als Cousin Freddie, inzwischen schon ziemlich irre im Kopf, ein paar Jahre später den nächsten fatalen Coup landet: Er hat sich inzwischen mit einem reichen, weißen 5th Avenue-Kid angefreundet, der Millionenerbe des Baumoguls Van Wyck. Linus ist ein unberechenbarer Junkie mit erheblichem Hass auf seinen nicht nur als Geschäftsmann brutalen Vater, und beraubt ihn zusammen mit Freddie. Das ruft ganz andere bewaffnete Kräfte auf den Plan, und der Roman wird gegen Ende hin ein wenig blutig.

Und, wie erwähnt, gleichzeitig brennt Harlem, nachdem der weiße Polizist Thomas R. Gilligan, gar außer Dienst, den 17-jährigen Schüler James Powell aus nichtigem Anlass erschossen hatte und vor Gericht freigesprochen wurde – ein Glied in der langen Kette von Polizeigewalt, die bis heute ungebrochen besteht. Solche Ereignisse verschlüsselt Whitehead nicht, sondern operiert da mit Klarnamen, weil sowieso jeder, der sich ein wenig in der Gegend und der Zeit auskennt, die Protagonisten und Konstellationen kennt. Die Botschaft an dieser Stelle ist klar: Die Gewalt wird nach Harlem von den Weißen hineingetragen. Auf der zeitgeschichtlichen Ebene eben von skandalösen Übergriffen der „Ordnungsmacht“, auf der Ebene der Romangeschichte durch Van Wacks weißen Gunmen, denen sich unser Held nur mit Hilfe des alterfahrenen Gangsters Pepper erwehren kann, der in der Lage ist, robust zu antworten. 

Der Roman ist episodisch strukturiert, auch wenn sich die Episoden, besser: die Konsequenzen der Episoden durch die drei Teile („1959“, „1961“ und „1964“ – Whitehead verspricht auch eine Verlängerung in die 1970er to come) ziehen: Es gibt keinen Hauptplot, schon gar keinen kriminalliterarischen Hauptplot. „Harlem Shuffle“ ist eher ein Bildungsroman oder ein Entwicklungsroman. Eine Art „Ein Mann will nach oben“-Geschichte. Oder eine positive Spiegelung von „Berlin Alexanderplatz“.

Crime Fiction?

In einem bemerkenswerten und bemerkenswert verwirrenden Interview mit der Plattform CrimeReads nennt Colson Whitehead drei Initialquellen für seinen, von ihm als Kriminalroman annoncierten Text: Die heist-novels von Donald E. Westlake, die Ripley-Figur von Patricia Highsmith und eben den „Harlem Cycle“ von Chester Himes. In der Tat lösen zwei Raubüberfälle, der im Hotel Theresa und der bei Van Wyck, Handlungsstränge aus, aber die heist novel, wie wir sie in der Tat seit dem „Rififi“-Roman von Auguste le Breton von Westlake, Elmore Leonard oder Garry Disher kennen, beschäftigt sich dominant mit der Planung, Durchführung und den Folgen eines Raubüberfalls. Davon sind bei Whitehead nur karge Skizzen von Planung und Durchführung vorhanden. Am Gesamtvolumen des Textes machen sie nur Bruchteile aus. Ebenso problematisch ist die Referenz auf Tom Ripley. Ray Carneys kriminelle Energie reicht gerade aus, um den Bankier Duke zu ruinieren (der setzt sich allerdings ab und führt in der Karibik angeblich ein Leben in Saus und Braus) und seiner Nebentätigkeit als Hehler nachzugehen. Ein psychopatischer Mörder ist Carney auf keinen Fall, noch nicht einmal als Parodie von Ripley zu verstehen, und ob der Hang zu Cembalo-Musik und zu Designer-Möbel als tertium ausreicht, möchte ich eher bezweifeln. Diese beiden Traditionslinien, die Whitehead da aufmacht, sind zumindest mir völlig rätselhaft, und nirgends durch den Text gedeckt, schon gar nicht stilistisch.

Auch wenn Bezüge zu anderen gewichtigen schwarzen Autoren von Kriminalliteratur seit Rudolph Fishers Zeiten, also etwa Walter Mosley, Donald Goines oder Iceberg Slim et al nicht spürbar sind, so kann man die Echos von Chester Himes nicht nicht wahrnehmen, so gedämpft diese Echos auch sein mögen. Klar, Sätze wie „Die Stadt war eine einzige wimmelnde, armselige Mietskaserne, und die Wand zwischen einem selbst und allen anderen war so dünn, dass man sie mühelos durchstoßen konnte“, könnten, weil die Wand zwischen kriminell und nicht kriminell gemeint ist, von Himes stammen. Der Turf ist nun mal Himes-Turf, der makro-strukturelle Rassismus, die verschiedenen Sortierungen von Kriminalität innerhalb der schwarzen Community, die ubiquitäre Gewalt, das soziale Gefälle, die Rolle der Kirchen und Sekten, das ist alles bei Himes präfiguriert, eine Folie, die Colson Whitehead natürlich bestens kennt. Dennoch macht er etwas anderes, was man als, wenn auch verspäteter, Dialog mit Himes verstehen könnte. Dieser Dialog hätte dann aber wieder eine Tradition.

Ein anderes Harlem

In seinem 1970 erschienen Essay-Band „The Omni-Americans. Black Experience & American Culture“ polemisiert der schwarze Soziologe, Literaturprofessor und Musikologe Albert Murray gegen eine „Psychopathologisierung“ Harlems, gegen einen, wie er es nennt, „viktorianischen Blick“ auf die Verhältnisse dort. Ziel dieser Polemik ist, obwohl der Name maliziöserweise nicht genannt wird, Chester Himes (Murray schlägt Autoren wie James Baldwin, Ralph Ellison oder Richard Wright, meint aber Himes). Murray hält ein ganz anderes Harlem dagegen, das seine Wurzeln natürlich in der Harlem Renaissance hat – ein Harlem der Eleganz, der Kultur, des guten Geschmacks, der feinen Architektur (bei allen Problemen, die auch er natürlich als Bewohner Harlems sieht), der stolzen selbstbestimmten Menschen, mit einer Kultur, die es mit der weißen, europäisch (-induzierten) Hochkultur jederzeit aufnehmen kann. So parallelisiert er etwas Thomas Mann und Duke Ellington, was wiederum der Grund ist, dass Murray der Leibphilosoph der „NeoCons“ um Wynton Marsalis und Stanley Crouch war, die eine schwarze „Klassik“ gegen avanciertere, schwarze Musik (ihre Lieblingsfeinde waren Miles Davis, Ornette Coleman oder das Art Ensemble of Chicago) aggressiv behaupteten. Natürlich konnte Murray, so gesehen, mit dem Soziotop Harlem, das Chester Himes fast ikonographisch festgeschrieben hatte, nichts anfangen, aber eben auch nichts mit seinem intensiven, vibrierenden, exzessiven Erzählen, das weit über die Konventionen einer streng formierten „Klassik“ hinausging. Himes´ domestic novels exerzieren nicht lineares Erzählen, bleiben, wie „Plan B“ halluzinatorisches, ultrabrutales Fragment und bedienen sich vor allem einer bizarren und grotesken Komik, die noch im Grausigsten das Komische und im Komischen das Grauen sieht. 

Harlem Schlurf?

Zwischen diesen Fronten agiert Whiteheads Roman. Seine Reverenz an Ornette Coleman (dem man immer bösartig unterstellte, er könne gar nicht wirklich Saxophon spielen) ist ein Musterbeispiel der Whitehead’schen Ambivalenz: „… während auf der HiFi-Anlage das Saxophon von Ornette Coleman blaffte und blökte und seiner gequälten Kehle das Todesröcheln der Stadt entrang.“ Und diese Ambivalenz gilt für den ganzen Roman. Wenn Whitehead Himes’sche Themen und Konstellationen aufgreift, so ist seine sprachliche Inszenierung eher konventionell und gedämpft. „Harlem Shuffle“ kann nicht nur die triolische Struktur von Musik meinen und muss auch nicht unbedingt „Mischung“ (wie bei Spotify) bedeuten, man könnte es auch ganz banal mit „Harlem Schlurf“ übersetzen. Denn der Roman schlurft oft so dahin, manchmal gar pomadig, manchmal gemächlich mäandernd, nur punktiert von Tempuswechseln und moderaten Zeit- und Ortssprüngen, mit kleineren, wenn auch milden komischen Splittern.

Man könnte sogar noch ein ganz anderes Framing aufrufen, da, wo der Roman nicht nur ein Porträt Harlems in den späten 50ern und frühen 60ern ist. Ähnlich wie Jerome Charyn etwa sieht Whitehead die interkulturelle Verflechtung von Kriminalität, die weit über die Burroughs hinaus ein über ganz NYC gespanntes Netz beschreibt, ähnlich wie Bob Leuci sieht er in der epidemischen Polizeikorruption eine nicht nur rassistische Unterdrückungsstruktur. Das macht Harlem weniger „exotisch“, eher normaler, generell urbaner, was allerdings so von Murray nicht gemeint war. Ray Cranes fancy Möbel allerdings schließen an Murrays „Eleganz“ und „Geschmacks“-Thema an, Whitehead feiert die schwarze Kultur mit einer wunderbaren Anekdote über das Apollo Theatre (einer der ganz wenigen Orten dieser Welt, an denen ich einen gewissen erhabenen Schauder erfahren habe, aber das nur nebenbei) und den Einmarsch der Cab Calloway-Band, so was von hep.  

Was dann?

„Harlem Shuffle“ ist kein Roman, der sich vornehmlich kritisch mit seiner literarischen Reihe auseinandersetzt, er ist kein Anti-Himes, sondern eher der Versuch, die Geschichte Harlems neu zu sortieren, vielschichtiger, differenzierter zu erzählen, festgefahrene Bilder aufzubrechen, ohne in die Gefahr einer Idyllisierung zu geraten. Wobei ein Punkt neuralgisch bleibt – wie bei Himes ist auch Whiteheads Erzählung weitgehend frauenfrei. Allerdings hat die eine Frau, Carney Gattin Elizabeth mehr Raum und Wucht als alle Frauen bei Chester Himes zusammen. Das ist dann allerdings gerade angesichts der Wiederentdeckung von AutorInnen der Harlem Renaissance wie Wallace Thurman oder Nella Larsen ein wenig erstaunlich.

„Harlem Shuffle“ ist vieles, aber garantiert nicht „mehr als ein Kriminalroman“ (diesen abgelutschten Kalauer hat doch tatsächlich jemand irgendwo in einem „Qualitätsmedium“ benutzt). Das Buch ist überhaupt kein Kriminalroman, sondern ein Roman, der von Kriminalromanen inspiriert ist. Was wiederum für die diskurssetzenden Qualitäten von Crime Fiction spricht.

© 09/2021 Thomas Wörtche

Colson Whitehead: Harlem Shuffle (Harlem Shuffle, 2021). Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Carl Hanser Verlag, München 2021. 384 Seiten, 25 Euro.

Siehe auch: Thomas Wörtche in CrimeMag April 2019: Porträt Chester Himes – It Does Make Sense! Ein Autor und sein Jahrhundert

Sonja Hartl in CrimeMag Dezember 2017: Auruhr, Gewalt und Komik – Über Chester Himes

Tags : , , , , , ,