Geschrieben am 1. April 2019 von für Crimemag, CrimeMag April 2019

Thomas Wörtche: Porträt Chester Himes

Chester Himes (1909 – 1984)

It Does Make Sense!

Ein Autor und sein Jahrhundert – von Thomas Wörtche

„Die Forcierung des Absurden ist das sicherste Mittel, wirkliches Grauen fernzuhalten, denn sie hält ihm den Unernst der Betrachtung immer gegenwärtig“, heißt es bei Thomas de Quincey. Das wirkliche Grauen spielt sich im wirklichen Leben ab. In Texten, zum Beispiel, muß es bearbeitet werden, um Literatur zu werden. 

Chester Himes nannte den zweiten Band seiner Autobiographie „My Life in Absurdity“. Er verstand das Leben eines Schwarzen in einer rassistischen Gesellschaft wie der amerikanischen als absurd. Um aus dieser lebensweltlichen Absurdität Literatur zu machen, hat er die Absurdität forciert. Zwischen sich und seine Texte schiebt sich der „Unernst der Betrachtung“. Mit dem hat er blutig ernst gemacht. 

Deswegen sind seine zehn Kriminalromane komische Romane: Der sogenannten „Harlem Cycle“, Himes‘ „domestic novels“. Der Zyklus besteht aus: „A Rage in Harlem“ (1957), „The Real Cool Killers“ (1958), „The Crazy Kill“ (1959), „The Big Gold Dream“ (1959), „All Shot Up“ (1960), „The Heat’s On“ (1961), „Cotton Comes To Harlem“ (1964) und „Blind Man With A Pistol“ (1969) . Das Fragment „Plan B“ (1983) gehört dazu, ebenfalls „Run, man, run“ (1959), obwohl darin das Stammpersonal, die beiden schwarzen Police Detectives Coffin Ed Johnson und Gravedigger Jones, nicht auftreten. 

Sie alle sind komische Literatur. In dem Sinn, in dem seit Rabelais, Cervantes bis Kafka und Musil komische Literatur nicht bratzwitzisch sein muß. Verhandelt wird der Harlem-Zyklus, wenn überhaupt, aber unter dem Stichwort „Kriminalliteratur“. Das ist schon richtig so, heißt aber auch, daß er bloß in den üblichen schwachbrüstigen „Geschichten der Kriminalliteratur“ verhandelt wird. Was man dort zu Himes findet, ist im günstigsten Fall nicht hilfreich, indifferent, ahnungslos oder gleich offen rassistisch . Der kleinste gemeinsame „Konsens“ dort lautet: Himes‘ Harlem-Romane sind brutale Polizeiromane, mit hin und wieder komischen Züge. Sie schildern kein reales Harlem, das Himes nie betreten habe, bevor er die Bücher in seinem französischen Exil geschrieben hat. Ziehen wir den baren Unfug ab (Himes hat, bevor er nach Europa geflohen ist, in Harlem gewohnt, gelebt und gearbeitet), konzedieren wir ein für die Zeit recht erstaunlich robustes Gewaltlevel in den Romanen und die Tatsache, daß alle Polizei, Gewalt und Verbrechen zum Thema haben, bleibt als verantwortbare Essenz stehen, daß der „Harlem Cycle“ in der Tat Kriminalliteratur ist. 

II 

Chester Himes hat auch andere Romane geschrieben: „If He Hollers Let Him Go“ (1945), „Lonely Crusade“ (1947), „Cast The First Stone“ (1952), „The Third Generation“ (1954), „The End Of A Primitive“ (1955), „Pinktoes“ (1961) oder „A Case Of Rape“ (1963) und das posthum erschienene „Yesterday Will Make You Cry“. Das sind weder Kriminal- noch komische Romane. Sie spielen nicht in Harlem, sondern in Kalifornien und anderen Gegenden der USA und Europas. In allen erzählt Himes von seiner persönlichen „Absurdity“ , von seinen Erfahrungen als schwarzer Mann. Deswegen kann man auch beruhigt die zwei Bände Autobiographie: „The Quality Of Hurt“ (1972) und „My Life Of Absurdity“ (1976) zu dieser Kategorie schlagen. Sie sind, auch strukturell, eher Romane denn Dokumentation und wenig faktensicher. Wer über das Leben von Chester Bomar Himes einigermaßen gesicherte Fakten wissen möchte, darf diesen beiden Texten kein Vertrauen schenken, sondern muß sich durch Edward Margolies‘ und Michel Fabres Biographie „The Several Lifes Of Chester Himes“ arbeiten bzw. auf die gerade entstehende Biographie von James Sallis (siehe Anmerkung unten) warten, die in nächster Zeit bei Canongate/Payback Press in Edinburgh erscheinen wird.

Die Fakten, die wir hier brauchen, sind schnell referiert: Chester Himes wurde 1909 in Jefferson City, Missouri geboren. Die Familie Himes gehörte zum schwarzen Mittelstand. Auf eine gute Bildung der Kinder wurde geachtet. Chesters Bruder brachte es zum Professor. Er selbst begann 1927 ein Studium an der Ohio State University, wurde jedoch ein Jahr später schon wieder relegiert – wegen kleinkrimineller Umtriebe. 1928 beging er einen bewaffneten Raubüberfall, wurde prompt geschnappt und zu zwanzig Jahren „at hard labor“ im Ohio State Penitentiary verurteilt. Im Knast begann er, professionell zu schreiben, seine Kurzgeschichten erschienen u.a. im „Esquire“. 1936 wurde er vorzeitig entlassen, heiratete Jean Johnson in Cleveland und arbeitete in den nächsten Jahren in einer Reihe von unterschiedlichsten, auch journalistischen Jobs (u.a. für die „Works Progress Administration“, eine Art New Deal-Programm für Arbeitslose inkl. „arbeitslose“ Schriftsteller). 1940 ging er nach Kalifornien, um dort in der kriegsbedingt boomenden Werftindustrie zu jobben. Erfahrungen aus der Arbeitswelt, dazu die mit dem spezifisch kalifornischen Rassismus, mit Gewerkschaften und kommunistischen Aktivitäten, schlugen sich direkt und naturalistisch in den beiden Romanen „If He Hollers Let Him Go“ und „Lonely Crusade“ nieder. Die machten ihn einerseits zu einer gewissen Größe im Kulturbetrieb, andererseits zum Angriffsziel verschiedener Interessengruppen. Beide Romane vertrugen sich nicht mit den ideologischen und gesellschaftlichen Strömungen der Zeit. Himes hatte es sich sofort mit den kulturbetrieblichen und gesamtgesellschaftlichen pressure groups verdorben. Zwar war die Presse, insbesondere für „Lonely Crusade“, nicht so verheerend, wie er selbst in der Autobiographie behauptete, aber er fühlte sich zurecht von allen Lobbies und jedem „Wir“ ausgeschlossen. Nicht nur die Linke gab ihm deutlich ihr Unverständnis zu spüren. Jüdische Zeitungen keilten zurück gegen den latenten Antisemitismus in Himes‘ Texten. Die WASPs reagierten sowieso pikiert, ebenso Teile der schwarzen Bewegungen, weil Himes immer wieder radikal personalisierend, später auch „theoretisierend“, auf das Thema „interracial sex“ zu sprechen kam – in einer Weise, die beide Seiten aus unterschiedlichen Gründen nicht goutieren konnten. Himes fühlte sich in den USA in die Ecke gedrängt, isoliert, sabotiert. Unter diesem Druck platzte seine Ehe. Am 4. April 1953 floh er, permanent in Geldschwierigkeiten, nach Frankreich, wo überraschend „If He Hollers“ unter dem Titel „S’il braille, láchele“ reüssiert war.

Die Probleme nahmen in Europa zunächst trotzdem nicht ab. Himes lavierte und sumpfte sich mit seinem greulichen Französisch (das er nie richtig lernen mochte) durch die Pariser „Exilanten“- und Literatenszene. Erst 1957 überredete Marcel Duhamel, der bei Gallimard die berühmte und renommierte série noir herausgab, Himes zu seinen „domestic novels“. Als „A Rage In Harlem“ 1958 als erster Titel eines englischsprachigen Autors überhaupt den „Grand prix de la littérature policière“ gewann, wurde Himes in Frankreich allmählich zum gefeierten Kult-Autor. Diesen Status konnte er in den nächsten Jahren in Europa festigen, aber nicht in den USA. Zwar kaufte Sam Goldwyn jr. 1970 sechs Filmstoffe von Himes, aber nur aus „Cotton Comes To Harlem“ wurde unter der Regie von Ossie Davis ein nicht allzu erfolgreicher Kinofilm im Zuge der blaxploitation-Welle. Ein zweiter Film, „Come Back, Charleston Blue“, nach Motiven von „Run, man, run“ und einem eigenen Drehbuchentwurf von Himes, stürzte jämmerlich ab. 1978 heirateten Chester Himes und die Engländerin Lesley Packard. Sie verließen Frankreich und ließen sich bei Alicante nieder. Am 13. November 1984 starb Himes in Spanien.

Soweit die Eckdaten, die einen markanten Punkt illustrieren: Es gibt zwei Himese, sozusagen. Den in den USA notorischen Verfasser von schwarzen „Arbeiter“- und „Sex & Gender“-Romanen. Und den in Europa gerühmten Verfasser von „Krimis“.

Man muß allerdings die Nuancen sehen: Europa meint Frankreich und teilweise Skandinavien. In den 70er Jahren waren z.B. die westdeutschen Fassungen (respektlos und dumm gekürzt und in kontextkenntnisfreien, also unfreiwillig komischen Übersetzungen) ein erklecklicher Bucherfolg in Rowohlts Schwarzer Thriller Reihe. Dort liefen sie als „Exoten“ unter all der Konfektionsware und jenseits jeder literarischen Öffentlichkeit. Die bitteren Andekdoten (mit aller gebotenen Vorsicht zu genießen), die Himes u.a. von einem Besuch in Hamburg bei Reihenherausgeber Richard K. Flesch notiert, lassen, bei einiger Kenntnis der Szene, allerdings Schlimmes ahnen. 

In den 80ern und 90ern wurde es ruhig um Himes; ein paar schauderhaft präsentierte Non-Crime-Titel vergurgelten bei Bastei; „Plan B“, ebenfalls schauderhaft übersetzt und lustlos präsentiert, floppte beim Alexander-Verlag. Aus dem Diskurs über „Krimis“ war Himes aus zeitgeistigen Gründen verschwunden: In der Welle des Grimmi-Geblödels hatte ein echter Schrifsteller schlechte Karten. Deswegen kann man nur beten, daß die endlich fällige Neuausgabe beim Zürcher Unionsverlag nicht in den Sog des bestenfalls gutgemeinten, aber folkloristischen Mulitkultigedödels gerät, sondern Himes wirklich sichtbar machen wird. 

Daß Himes allmählich auch in den USA wieder an Aufmerksamkeit gewinnt, hat vermutlich mit der Prominenz von Walter Mosley zu tun, der immerhin – als sein größter Profiteur – nicht müde wird, auf seinen großen „Ahnherrn“ hinzuweisen. In der Tat wäre Mosley ohne Himes nicht möglich gewesen. Aber auch darin liegt eine gewisse Absurdität. Denn Mosley bezieht seine schwarze Chronik von Los Angeles, die er in den „Easy-Rawlins“-Romanen ausfaltet, ausdrücklich auf Himes‘ Beitrag zum Californian noir.

III 

In seinem berühmten Los-Angeles-Buch „The City Of Quartz“ hat Mike Davis ganz besonders „If He Hollers Let Him Go“ für die Tradition des American resp. Californian noir reklamiert. Abgesehen davon, daß die Kategorie noir im Fall von Himes einen Dreh bekommt, die sie im gemeinten Gegensatz zu blanc nicht hat, ist diese Einschätzung schief: „If He Hollers“ erzählt zwar in beklemmenden Bildern von einem Los Angeles, das nicht heiter sonnig, nicht optimistisch, nicht locker und leicht ist, sondern schwer, bleiern heiß, gewalttätig und deprimierend. Aber keineswegs enigmatisch, undurchschaubar, ambivalent oder moralisch uneindeutig – wie bei Hammett, Cain & den anderen Repräsentanten des noir. Bei Himes sind die Dinge, wie sie sind – und darüber wütet er. Nicht die Stadt und ihre Einwohner sind irgendwie feindselig gegen einen einzelnen Außenseiter, sondern das gesamtgesellschaftliche Klima ist glasklar rassistisch. Die schwarzen Arbeiter werden absurderweise in der Industrie gebraucht, die derzeit, also im 2. Weltkrieg, gegen den rassistisch mörderischsten Feind mobilisiert wird. Sie sollen funktionieren und ansonsten den Rand halten. „If He Hollers“ zeichnet mit radikalen Bildern und Worten den inneren und äußeren Status Quo dieser Gesellschaft. Ein naturalistischer Roman, der nicht irgendwelche „Schattenseiten“ zeigt, sondern die offen häßliche Oberfläche, unter der nichts anderes mehr kommt. Das unterscheidet ihn (und später auch „Lonely Crusade“) von der Art noir, die das Verborgene im Offiziellen artikuliert. Auch wenn dabei der rassistische Aspekt, wie bei Chandler etwa, genauso glasklar zu Tage tritt. Allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. 

„If He Hollers“ ist offen autobiographisch und formal schlicht. Die eingelagerten Traumbilder sind 1:1-Metaphern, keine verschlüsselten oder verborgenen Hinweise auf eine Realität hinter der häßlichen Wirklichkeit. Der Roman ist ein Affront und als solcher gemeint. Weil er von einer wütenden, aber dezidiert allgemeinen Position aus auch „falsches“ schwarzes Leben im nirgends richtigen geißelt (am Beispiel einer schwarzen Arzt-Familie, die Himes als Prototypen der „Angepaßten“ fast karikiert), kann die ästhetisch inszenierte Erkenntnis kaum über ein „Ja, so ist es“ hinausgehen, resp. ein ideologisch gegenläufiges: „Nein, so ist es nicht“ provozieren. Zwar schildert das Buch alle Absurditäten des schwarzen Alltags (was Schwarze dürfen, was Schwarze nicht dürfen und wie idiotisch dafür die Begründungen sind), aber es forciert diese Absurditäten noch nicht literarisch. Das wirkliche Grauen wird, im reinsten Sinn, widergespiegelt. Das ist im Kontext der zeitgenössischen Literatur nichts Bemerkenswertes und spätestens seit Upton Sinclairs „The Jungle“ ein eingeführtes Verfahren. Es ist auch im Kontext der schwarzen „Protest-Literatur“ seit den Tagen der Harlem Renaissance nichts Innovatives. Seine Sprengkraft bezieht der Roman aus dem problematisierten „interracial sex“, an dem er die Absurditäten von Rassismus en général durchspielt: Auf nichts sind weiße rassistische Frauen (hier auch noch eine aus Texas!) schärfer als auf den schwarzen Mann. Himes nimmt das Klischee ernst – und das machte den Roman zum mäßigen Skandal. Auf der Inhaltsebene. Aber wenn ein Thema so „abgearbeitet“ ist, ist es auch der Roman. „If He Hollers“ ist rückblickend gelesen ein beeindruckendes Stück Literaturgeschichte. Aber ohne den ästhetischen Mehrwert, der verhindert, daß aus einem Stück Geschichte ein Museumsstück wird. 

Das gilt, cum grano salis, für alle Non-Crime-Romane von Himes. Alle provozieren, alle agieren aggressiv, alle sind jedoch in Diskurse übersetzbar. Ihr fiktionaler Status ist nicht unabdingbar für das, was sie zu sagen haben. Wie Himes „interracial sex“ behandelt, läßt auf seine spezifische Lebenserfahrungen schließen, aber damit bricht die Allgemeingültigkeit weg. Seine These lautet, daß nur der schwarze Mann via Sex die weiße Frau vom weißen Mann erlösen kann, ohne daß er selbst je erlöst wird. Es wäre sinnvoll, einem solchen Theorem psychoanalytisch oder psychohistorisch zu Leibe zu rücken. Auch unter dem Aspekt, warum eine Koalition der Außenseiter (so sich weiße Frauen als solche verstehen wollen) immer wieder unmöglich zu sein scheint, um eine Vermutung von Hans Mayer zu zitieren. Oder wie die verzwickten, negativen Dialektiken von Rassismus und Sexismus im Einzelnen genau verlaufen. Aber solch spannende Fragen können einen Punkt nicht wegdiskutieren: Daß eine spezifisch Himes’sche Problematik in seinen Romanen immer in lediglich fiktionalisiertem Gewand als das Allgemeine auftaucht. Und zwar nicht als Erzählung, sondern als Exempel. Die narration ist lediglich eine Darreichungsform, ohne eigene Semantik. Mit anderen Worten: Die Non-Crime-Romane von Himes sind autobiographisch dominiert. Sie haben keine oder nur fadenscheinig camouflierte Distanz zu ihren Themen und Thesen. Sie sind Reproduktionen des real Absurden, aber keine absurden oder sonstwie gebrochenen, literarischen Texte. „Unernst der Betrachtung“ kann nicht stattfinden, weil ihre Fabeln existentielle Anliegen von Chester Himes waren. Sie sind eher eine Goldgrube für den historisch-klinischen Blick auf Himes und auf die gesellschaftlichen Kräfte, die auf ihn einwirken. 

IV

Vor dem Hintergrund dieser „negativen“ Überlegungen allerdings führen die Harlem-Romane, die Kriminalromane, ins Zentrum dessen, was Kriminalliteratur sein kann. Wegen seiner Leistung auf diesem Gebiet ist Chester Himes eine Schlüsselfigur des Jahrhunderts. 

Das grundsätzliche Problem von Kriminalliteratur als populärer Literatur wird so recht erst am Ende jenes Jahrhunderts, das das Genre hervorgebracht hat , sichtbar. Weil dieses kriminalliterarische Jahrhundert mit einer (konjunkturell bedingten) Popularitätswelle des Genres endet, treten auch die Anfänge, die Mitte, die Qualitäten und Defizienzen dieses Literaturtyps überdeutlich hervor. Eines Typs, der – wie jede andere Formation von Literatur unterhalb der „Naturformen“ (Epos, Drama, Lyrik) – historisch bedingt ist und gleichzeitig (über seine historische Bedingungen und seine allzu internen Spezifika hinaus) den Formenreichtum von Literatur überhaupt erheblich erweitert hat. 

Die aktuelle Popularität von Kriminalliteratur, und damit ihre momentane Re-Trivialisierung hat (welch Ironie!), verweisen auch auf etwas Dilemmatisches. Kriminalliteratur hat als populäre Trivialliteratur angefangen. Durch ihre enorme formale Flexibilität hat sie immer wieder Erneuerer angelockt, die das Genre mit Komplexionen aufgeladen haben. Ihre Popularität jedoch verdankt sie den jeweils historischen Konsens- resp. Prätentions- resp. Schlichtformen. Nicht Chesterton war der Bestseller seiner Zeit, sondern Conan Doyle; nicht E.C. Bentley, sondern Agatha Christie; nicht Hammett, sondern S.S. Van Dine; nicht Ross Macdonald, sondern Mickey Spillane; nicht Eric Ambler, sondern Ian Fleming; nicht Ross Thomas, sondern Robert Ludlum; nicht Sara Paretsky, sondern Patricia Cornwell, nicht Liza Cody, sondern Minette Walters; nicht Scott Turow, sondern John Grisham; nicht Derek Raymond, sondern Philip Kerr (ad infinitum) sind die nach schlichten Verkaufszahlen wirklich „populären“ Autoren. Sie sind die Profiteure. Die kreativen Köpfe sind die jeweils anderen. Die setzen sich, wenn überhaupt, erst nach Jahrzehnten durch, als „Kult“ oder als „Klassiker“. Ausnahmen wie Simenon bestätigen die Regel. 

Das wäre nicht weiter schlimm oder bemerkenswert, weil dieser Mechanismus für alle Literatur gilt: Was haben Kafka, Musil, Joyce & Co. zu Lebzeiten „verkauft“? Allerdings würde kein Mensch auf dem Gebiet der „seriösen“ Literatur daraus ein Qualitätsurteil machen. Das Dilemma der Kriminalliteratur ist, daß ihre „populäre“ oder „triviale“ Herkunft zwar künstlerisch fruchtbar und konstitutiv sein kann. Erneuerungen kommen immer „von unten“. Aber triviale Herkunft und ständige Re-Trivialisierung blockieren eben auch die Wahrnehmung von qualitativen Differenzen. Wenn sich eine auf dem Markt erfolgreiche Trivialautorin wie Ingrid Noll als „bedeutende Erzählerin“ außerhalb ihres legitimen Sub-Labels „Hausfrauenkrimi“ feiern läßt, fällt es in der Tat schwer, unter eben dem Etikett „Kriminalliteratur als bedeutende Erzählform“ seriöse und ernstzunehmende Literatur zu vermuten. 

Dieser fatale Mechanismus hat eine Menge mit Chester Himes zu tun. Tatsächliche Qualitäten von Kriminalliteratur werden nicht wahrgenommen. Noch nicht mal, wenn sie längst weit über das „Genre“ hinaus wirken. Und notfalls nicht mal vom Produzenten selbst. Chester Himes hielt seine Non-Crime-Romane immer für seine eigentlich bedeutenden Werke, die „detective stories“ dagegen nur für Nebenwerklein zur Geldbeschaffung. So können wir es auf jeden Fall immer wieder nachlesen. So hat er sein Verhältnis zu ihnen immer wieder öffentlich heruntergespielt. Sollte er es tatsächlich so gesehen haben, hat er sich selbst fatal fehleingeschätzt. Aber es gibt auch Hinweise, daß er durchaus ahnte, was er mit dem „Harlem Cycle“ geschaffen hat. In einem unveröffentlichen Manuskript, das Margolies und Fabre im Nachlaß gefunden haben, sagt Himes sehr wohl, daß „A Rage In Harlem“ ein „Meisterwerk“ sei – und zwar, bevor der Roman von außen gratifiziert wurde. Das ist jedoch nur ein kleines Nebenindiz. Der wirkliche Beleg steckt in einer These von Himes, die er in mehreren Interviews und Statements immer wieder variiert hat: „American violence is public life, it’s a public way of life, it became a form, a detective story form“. 

V

Kriminalliteratur ist eine literarische Form. Aber keine, die so klar definiert ist, wie man gern vermutet. Ihr Thema, ob als Mordrätsel oder Psychothriller, ist immer Gewalt & Verbrechen. Die Geschichte der USA ist auch eine Kette von innerer Gewalt & Verbrechen: Genozide, Sklaverei, Bürgerkrieg, mehr Genozide, das „organisierte Verbrechen“, „war on drugs“ und so weiter. Gewalt & Verbrechen sind für diese Gesellschaft konstitutiv . Das hat Konsequenzen für ihre Kunst und Literatur. Die „Gewalt als Lebensstil“ sickert in alle künstlerische Artikulationsformen ein. Der Kriminalroman ist ihre adäquate Form. Das unterscheidet ihn von anderen literarischen Formen. Soweit hat Chester Himes recht. Aber schon mit dem Terminus „detective stories“ gerät er angesichts seiner eigenen Produktion ins Straucheln. 

Detektive, ob als private Kleinunternehmer oder als Angestellte, sollen, so legt die Genrekonvention nah, Verbrechen & Gewalt zumindest aufklären, wenn nicht unterbinden. Coffin Ed und Gravedigger Jones, Angestellte der Stadt New York, Bezirk Harlem, arbeiten in einem Umfeld, das nicht nur virtuell, sondern manifest von Gewalt strukturiert ist. Diese Gewalt ist evidentermaßen nur zu „verwalten“. Harlem ist ein topographisch beschreibbarer Teil einer Stadt, in dem vornehmlich Menschen schwarzer Hautfarbe leben. Daß dies so ist, ist zunächst einmal die Konsequenz einer grundsätzlich gewalttätigen Politik, die man kennt und über die man in jeder vernünftigen Stadtgeschichte nachlesen kann. 

Man kann aber auch, wie Albert Murray, der Vordenker eines „schwarzen Neo-Klassizismus“, in seinem berühmten Buch „The Omni-Americans“, Harlem beschreiben als „industriefreie, ideal gelegene Wohngegend“ mit perfekt organisiertem öffentlichen Nahverkehr, die sich durch Weltoffenheit, „Schönheit, Stil und Eleganz“ ihrer Bewohner auszeichnet und wichtige Beiträge zur Kultur des 20. Jahrhunderts geliefert hat. „The Omni-Americans“ erschien 1970 und das Harlem-Kapitel ist eine deutliche Polemik gegen Chester Himes, den Murray jedoch nicht namentlich erwähnt. Aber seine Polemik gegen eine „viktorianische“ (Murray meint damit: lustvoll voyeuristisch nur aufs Laster starrende) Interpretation von Harlem als „Dark Ghetto“ zielt überdeutlich gegen eine Inszenierung desselben Stadtteils als verkommenen Slum. So wie es Himes immer wieder im Harlem-Zyklus getan hat und ganz manifest noch einmal im berühmten (siebten) „Hitzekapitel“ von „Plan B“. Oder in seiner programmatischen Reportage „Harlem ou le cancer de l’Amérique“. 

Verkompliziert wird die Angelegenheit natürlich dadurch, daß beide Standpunkte so nicht stimmen: Himes preist im „Ersten Zwischenspiel“ von „Blind Man With A Pistol“ alle die Vorzüge Harlems, die Murray gerade gelobt hatte. Und der selbst ist natürlich kein Idiot, der nicht weiß, was in seiner Nachbarschaft (er wohnt seit Jahrzehnten an der 132. Straße) passiert. Die Verve jedoch, mit der Murray gegen Himes’sche Harlem-Bilder anargumentiert, leitet sich direkt aus einem Dissens mit dessen literarischem Programm her: Wenn Murray den entscheidenden Beitrag der Schwarzen Kultur im „Höhenkamm“ sieht (er setzt z.B. die symphonischen Arbeiten Duke Ellingtons analog zu den Romanen von Thomas Mann ) und deswegen schon die Harlem Renaissance für trivial und überschätzt hält, haben literarische Formen der Uneindeutigkeit, der Mehrsinnigkeit und ohne elitäre Absicht keinen Platz. 

Uneindeutig und mehrsinnig, mit einem schickeren Wort: polyvalent aber sind die Bücher von Himes über die Gewalt in Harlem. Dort, wo die Gewalt am grausamsten ist, dort, wo Menschen durch Armut (als Folge von Rassismus, aber nicht nur) exzessiv brutalisiert sind, dort sind die Texte von Himes am komischsten. Der berühmte kopflose Motorradfahrer aus „All Shot Up“, der, eine Fontäne sprudelnden Bluts hinter sich herziehend, durch eine eisige Winternacht brettert und allerlei Schabernack bei Beteiligten und Unbeteiligten auslöst, ist nicht nur in Slapstick gewendetes Grand Guignol, sondern die von Thomas de Quincey geforderte „Forcierung des Absurden“. Sie bringt Erzählen und Erzähltes in ein erheblich inkongruentes Verhältnis. 

Der abgeschnittenen Kopf des Motorradfahrers rollt vor einer Kirche aus, an der das Thema der nächsten Predigt angeschlagen ist: „Beware! Death is closer than you think!“ Der Körper auf dem Motorrad knallt in die Tür eines Juwelierladens, dessen Werbespruch tönt: „We will give credit to the Dead!“ 

So inszeniert das Erzählen eines betrüblichen und unschönen Vorgangs zudem noch eine entlarvende Inkongruenz des Vorfalls mit dem Milieu, in dem er spielt. Indem es dieses Milieu wörtlich nimmt. Geldgier (oder Überlebensnot, denn der Motorrradfahrer war ein kleiner Dieb) und Religion rücken in ein brutal analoges Verhältnis. Und natürlich geht es in „All Shot Up“, wie in fast allen Romanen des Harlem-Zyklus, auch um Religion als besonders abgefeimtes Mittel zur Ausplünderung von Menschen. Die soziale Ordnung beziehungsweise die „soziale Hierarchie“ zwischen dem metaphysischen Jenseits der Religion und der ökonomischen Realität (Kredit für Tote) ist zerrüttet. Auf komischem Weg. Das ist die von Michail M. Bachtin beschriebene Strategie der „Karnevalisierung“ pur, die sich mittels der vis comica subversiv den „sozialhierarchischen Beziehungen des gewöhnlichen Lebens entgegensetzt“. 

VI

Was sich an der Motorradfahrerstelle so praktisch und auf den Punkt gebracht zeigen läßt, ist nichts anderes als das „Generierungsprinzip“ des ganzen Harlem-Zyklus. „Der Karneval ist die umgestülpte Welt“ heißt es bei Bachtin. In Himes‘ Harlem ist alles umgestülpt: Fromme Nonnen sind schmierige Betrüger, Politiker organisierte Gangster, Männer Frauen und umgekehrt, Kinder schlabbern aus Schweinetrögen, Polizisten sind Mörder und Mörder Polizisten, und am Ende von „Blind Man With A Pistol“, als eine Riesenschießerei losgeht, die ganz Harlem in Flammen zu setzen droht, weiß niemand, warum und wieso und weshalb. „That don’t make any sense“ heißt es am Ende des Romans . 

So weit war in der gewaltbearbeitenden Form „Kriminalliteratur“ bis dato noch niemand gegangen. Zwar hatte schon Hammetts „Continental Op“ die üblichen Grenzen des literarisch „Erträglichen“ überschritten, um die Strukturanalogien von Politik und Verbrechen zu zeigen, zwar hatte schon John Latimer mit einigem Erfolg versucht, die komischen Seiten des Grauens literarisch zu artikulieren, aber erst Himes hat willentlich und systematisch die „sinnstiftende“ Kriminalliteratur in höhnisches Lachen über diesen Anspruch und über die Welt aufgelöst. 

Mit „sinnstiftend“ meine ich dabei nicht nur die „ordnungspolitisch einwandfreien“ Phantasien von Agatha Christie bis Mickey Spillane, die vermutlich der Grund sind, warum „Krimifreunde“ sich gerne auf suspekte „Krimileser“ wie Konrad Adenauer beziehen. Ich meine auch die „sozialkritischen“ Sinnstiftungen, die im vergeblichen Kampf des Einzelnen (wie bei Chandler & Co.) gegen ein übermächtig gewordenes „Verbrechen“ zumindest die utopische Melancholie desjenigen setzen, der „es wenigstens versucht hat“. Mit Himes ist der Glaube an einen archimedischen Punkt außerhalb „des Verbrechens“ gekündigt, von dem aus man es zumindest klar erkennen und gar weghebeln kann. Coffin Ed und Gravedigger Jones sind mindestens genauso „verbrecherisch“ wie ihre jeweiligen Gegenspieler – oder auch nicht. Auch ihre Brutalität scheint in der Komik auf, mit der sie auf die brutale Welt um sich herum reagieren. „Ich hätte mir lieber die asiatische Grippe nehmen sollen“, lautet Gravediggers Kommentar zum Kopf des Motorradfahrers. 

Spätestens an dem Punkt jedoch kommt die Moral ins Spiel. Bedeutet die komische Inszenierung der „umgestülpten Welt“ ein Sympathisieren mit den schlimmen Zuständen? 

Die Frage ist natürlich rhetorisch. Daß im Grauen das Komische und im Komischen das Grauen sichtbar wird, ist Ergebnis einer literarischen, einer erzählerischen Operation. Diese Operation läßt sich nicht in diskursive Binaritäten wie „wahr“ und „falsch“, „gut“ und „böse“ zerlegen. Das macht ihren literarischen Rang aus. Die, so verstanden, „unernste Betrachtung“ garantiert im Fall Chester Himes den Unterschied zwischen Literatur und Biographie. Der biographische Untergrund, auf dem Himes schreibt, muß sich nicht mehr distanzlos in der Abarbeitung autobiographischer Themen ausdrücken – die Spielform „Kriminalroman“, mit all ihrem kommunikativen Potential eröffnet eine distanziertere, weitere und somit genauere Perspektive, und bietet by doing eine mögliche Antwort auf die Frage an, wie man eine rassistische, d.h. verbrecherische Gesellschaft „erzählen“ kann, ohne Ideologien zu (re-)produzieren. 

Das kommunikative Potential der Form stellt die Eckdaten bereit (Großstadt, Polizei, Verbrechen) und schafft den Bezug zum „niedere Milieu“ (normale Menschen, die „normal“ leben, lieben, stehlen, sterben und reden: Himes‘ Personal spricht natürlich street slang). Es bietet weiterhin die Möglichkeit, größere Zusammenhänge in action aufzulösen, und mit den Mitteln von thrill und suspense relativ nahe an einem möglichst breiten Publikum zu bleiben. Was schlicht heißt: Einem Publikum, das – im emphatisch demokratischen Sinn – keine Spezialkenntnisse braucht, um Freude an Texten zu haben; Spezialkenntnisse sind allerdings auch kein Hindernis. Dieses kommunikative Potential läßt, und Himes demonstriert es brillant, der Inszenierungskunst eines Schriftstellers alle Freiheit. In sie kann er sogar seine privatesten Obsessionen einflechten. 

Die Polyvalenzen der karnevalistischen Inszenierung, in der sich „das Geheiligte mit dem Profanen, das Hohe mit dem Niedrigen, das Große mit dem Winzigen, das Weise mit dem Törichten“ (Bachtin) vermengt, machen sogar die „Thesen“ über die Welt, die Himes außerhalb seiner literarischen Texte oft schroff, fatal und widersprüchlich artikuliert, „sagbar“: Wenn man z.B. weiß, daß Himes einige Zeit im Knast eine anscheinend glückliche (und nicht nur notgeile) schwule Beziehung hatte, rücken seine anscheinend homophoben Schilderungen von Schwulen und Lesben noch deutlicher in den karnevalistischen Kontext: Diese Figuren agieren dann als selbstverständlich vorhandene, miese oder anständige Menschen wie andere auch. Auch bei solchen Reizthemen der political correctness entfällt der archimedische Punkt der ideologischen Bewertung: „Jegliche Distanz zwischen den Menschen wird aufgehoben“ (Bachtin). 

VIII

Daß Himes ein solches Konzept ausgerechnet an dem „niederen“ Genre „Kriminalliteratur“ entwickelt, muß natürlich einen kanonischen Denker wie Murray erzürnen. Dessen eigenes Konzept der „Höhenkamm“-Kultur erweist sich verglichen damit als starr und petrifiziert. Auch daß Himes nicht mit den Weihen des „Intertextuellen“ gesalbt ist, macht seine Rezeption von der „hohen“ Warte aus eher schwierig. Liest man alles über und von Himes, kommt man zu dem Schluß, daß er mit anderer Literatur und Kunst vermutlich so seine Probleme gehabt hat. Oder gar keine, weil sie für ihn eine quantité négligeable waren. Natürlich finden sich artige Bekenntnisse zu Faulkner, Hemingway und besonders zu Richard Wright , genauso wie erwartbare Referenzen an Billie Holiday und Lester Young. Aber handfest synästhetische Aspekte sind in Himes‘ Texten kaum auszumachen. Speziell an kriminalliterarischen Bezügen ist so gut wie nichts zu holen. Er hat nachweisbar Hammett und eine Menge „Black Mask“-Stories gekannt, aber in einen Dialog zu deren Ästhetik, Weltbild oder Sprache tritt er nicht. 

Himes ist einer der seltenen Schriftsteller, die aus Intuition, Instinkt, Kreativität, Sensibilität, literarischer Intelligenz oder Genie (egal, welche „Magien“ man bemühen möchten) auf eine Methode gestoßen sind, aus erkannten und erlebten Realitäten Literatur zu formen. Und gleichzeitig mit dieser Methode eine Art „Paradigmenwechsel“ einzuleiten: Denn die Karnevalisierung, bzw. das Arbeiten mit brechenden, fraktalisierenden, hierarchiezersetzenden Verfahren auf allen Ebenen hat bis heute den ernsthaft literarischen Umgang mit dem Megathema „Verbrechen“ geprägt. Autoren und -innen wie Joseph Wambaugh, Jerry Oster, Jerome Charyn, Paco Ignacio Taibo, Julian Rathbone, Andreu Martín, Carl Hiaasen, Pieke Biermann, Kenneth Abel, Liza Cody, Helen Zahavi, Robert M. Eversz usw. schließen mit ihren polyvalenten Erzählverfahren bewußt oder unbewußt an Himes an. Monologisch-monolithische Krimis nach Himes sind fast per definitionem trivial. Natürlich gibt es auch nicht-karnevalistische Konzepte: bei Ed McBain etwa, bei Jean-Patrick Manchette oder Derek Raymond, aber auch die arbeiten mit Polyvalenzen und Polyphonien. 

IX

Ex post gesehen hat Himes in dem „Kanonstreit“ (Norbert Elias) der 60er und 70er Jahre zwischen „U“ und „E“-Literatur dem U-Bereich viele Punkte gebracht. Avancierte Genre-Literatur hat den „Höhenkamm“ ernsthaft herausgefordert und wird dies aller Wahrscheinlichkeit nach weiter tun . Aber das hat Himes viel gekostet. Obwohl er bis zu seinem Lebensende „The Unconquered“ (Melvin van Peebles) geblieben ist, hat ihn zeitlebens die „Macht der sozialen Bewertung“ (Elias) schwer getroffen. Schließlich war Chester Himes der im Mayerschen Sinn klassische „existentielle“ Außenseiter. Und das gleich mehrfach: Ein schwarzer, radikaler Literat, mit krimineller und schwuler Biographie, working class-Erfahrungen, im persönlichen Umgang, gerade auch mit Frauen, widerborstig bis ekelhaft, nicht einnehmbar für organisierte Bestrebungen aller Art, nicht solidaritätsfähig mit anderen Minoritäten und dann noch erfolgreich in einem „niederen Genre“ und damit aus dem Diskurs „hoher“ Literatur und „seriöser“ schwarzer Literatur (Baldwin, Ellison, Murray) ausgeschlossen. 

Chester Himes agierte nirgends comme il faut: weder gegenüber dem „Feind“ noch gegenüber dem potentiellen „Freund“. Das verzögerte seine „ideengeschichtliche Wirkung“ (wie die Mozarts, das hat Norbert Elias gezeigt) erheblich. Gegen die Verzögerung kann man anschreiben. Es wäre allerdings Chester Himes vermutlich lieber gewesen, man hätte das schon zu seinen Lebzeiten erfolgreicher getan. 

Thomas Wörtche

In der Urfassung als Vortrag für die Chester-Himes-Society in Oakland, CA, gehalten. Später als Aufsatz in WESPENNEST 110/1998, variiert in „Das Mörderische neben dem Leben“ . Diese Fassung ist milde redigiert.

Die oben erwähnte Chester Himes Biographie von James Sallis ist unerheblich, die ultimative Biographie ist 2017 erschienen: Lawrence P. Jackson: Chester Himes. A Biography.

Wie bei allen Archivalien sind Paradigmen und Anspielungen zeitgebunden, tangieren aber die Kernthesen nicht.

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