Vermisst
von Constanze Matthes
Es könnte ein beschaulicher Ort sein. Landschaftlich reizvoll, umgeben von Bergen, einem Moor und Speicherseen, laufen die Uhren in dem mittelenglischen Dorf in einem ruhigen Takt – gezeichnet vom Alltag und dem eher unauffälligen Leben seiner Einwohner, nur durchbrochen vom Erscheinen einiger Touristen, die dann und wann im Nationalpark Erholung suchen. Wie die Shaws, deren 13-jährige Tochter Rebecca jedoch eines Tages spurlos verschwindet. Ihre Eltern stehen unter Schock, das Ereignis macht die Runde, die Polizei nimmt die Ermittlungen auf. Wie das Leben in dem Ort weitergeht und noch viel mehr, erzählt John McGregor in seinem aktuellen Werk „Speicher 13“, das nur auf den ersten Blick als ein Kriminalroman erscheint und das im vergangenen Jahr für den renommierten Booker Prize nominiert war.
Doch weder fliegen hier die Kugeln oder fließt Blut, noch gibt es einen charismatischen Ermittler, der selbst am Leben verzweifelt. McGregor schiebt dieses tragische Ereignis sowie den Schmerz der Eltern in den Hintergrund, um all das dann und wann wieder hervorzuholen – mit aller Regelmäßigkeit. Mal will der eine oder andere das Mädchen gesehen haben, mal tauchen Kleidungsstücke des Kindes auf, mal werden Erinnerungen an die einstige Tragödie hervorgeholt. Dabei setzt der auf den Bermuda-Inseln geborene und heute in Nottingham lebende Autor den Fokus auf das Leben der Einwohner im Ort, die nicht verschiedener sein können. Dafür entwirft der Engländer ein umfangreiches Figurenkarussell.
Da ist die Familie Jackson, die Landwirtschaft betreibt. Auch die Thompsons sind Bauern. Martin Fowlers Fleischerei geht den Bach runter, seine Ehe mit Ruth ebenso. Jane Hughes ist die Pfarrerin im Ort. Hausmeister Jones kümmert sich um die Schule, Irene gilt als äußerst zuverlässige Putzfrau. Cathy führt täglich den Hund von Mr. Wilson aus. Richard Clark ist viel in der Welt unterwegs und kommt nur dann und wann zurück in die Heimat, um seine Mutter zu besuchen. Susanna zieht es mit ihren Kindern Ashley und Rohan neu in den Ort, in dem Yoga-Kurse anbietet. Und dann hat sich noch eine Gruppe von Jugendlichen gefunden, die hier aufwachsen, Freunde sind und deren Wege sich nach dem Schulabschluss nie völlig trennen können. Es gibt im Dorf einen Gemeinschaftsgarten, ein Gemeinschaftshaus, Schule und Kirche sowie einen Pub namens Gladstone.
Man wird nahezu zu einem Einwohner
Der Alltag, die Rituale im Dorf, der stetige Lauf der Jahreszeiten und der Fluss aus Werden, Leben und Vergehen greifen ineinander. McGregor verwebt all die Ereignisse zu einer dichten Handlung, die sowohl Höhepunkte als auch Wiederholungen kennt. Nicht nur das Verschwinden von Rebecca ist so ein besonderer Punkt. Der eine oder andere im Ort hat ein Geheimnis, das früher oder später ans Licht kommt. Liebespaare finden oder trennen sich. Krankheit und Tod führen zu Schmerz und Trauer. Die Redundanz, die mit den Jahren aus den immer gleichen Ereignissen entsteht, lässt allerdings keine Langeweile aufkommen. Diese Struktur zeigt, wie der Menschen sich im Leben verankert – durch seine Beziehungen, durch Rituale, wiederkehrende Feste. Doch was diesen Roman zudem zu einer literarischen Perle werden lassen, sind vor allem die Naturbeschreibungen, der Blick auf die Veränderungen der Landschaft, auf das pulsierende Leben von Flora und Fauna, die ebenfalls vom Wechselspiel der Jahreszeiten geprägt sind. Zahlreiche Pflanzen- und Tierarten finden sich in dem Buch.
Man hat während der Lektüre nicht nur das Gefühl, man ist ein stiller Beobachter und Begleiter der Protagonisten und wandelt durch die Landschaft. Vielmehr wird man im weiteren Verlauf des Geschehens nahezu zu einem Einwohner, der mit den Schicksalen und Lebenswegen der Figuren vertraut wird. „Speicher 13“ ist ein großartiger Roman, weil er spannend und poetisch und mit seinen zahlreichen Geschichten dicht und komplex ist. Und, weil er als lebendiges Porträt eines Dorfes und seiner Menschen viel Menschlichkeit und Mitgefühl ausstrahlt, was ungemein faszinierend ist.
Jon McGregor: Speicher 13 (Reservoir 13, 2017). Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Verlag Liebeskind, München 2018. 352 Seiten, 22 Euro.
Anm. d. Red: Bereits in unseren Jahreshighlights 2017 bekannte John Harvey: „McGregor is one of my favourite contemporary writers and three of his books – ’So Many Ways to Begin’, ‘Even the Dogs’ & ‘This Isn’t the Sort of Thing That Happens to Someone Like You’ – are amongst my favourites of the past twenty or so years.“ Inzwischen hat McGregor The Reservoir Tapes veröffentlicht, 15 Kurzgeschichten, die seinen Roman ergänzen.
Constanze Matthes: 1977 in Großenhain/Sachsen geboren, seit der Kindheit verrückt nach Büchern und Geschichten, entdeckte in der Jugend das Schreiben. Studium der Germanistik, Kommunikations- und Medienwissenschaften sowie Theaterwissenschaft in Leipzig. Erste journalistische Erfahrung als freie Journalistin für die Sächsische Zeitung gesammelt, heute unter anderem für das Naumburger Tageblatt/Mitteldeutsche Zeitung tätig. Auf ihrem Blog „Zeichen & Zeiten“ schreibt sie über Bücher, die sie ans Herz legt. Sie lebt und arbeitet in Naumburg/Saale.