
Hybris und Terror, imperialistische Ambitionen und unersättliche Oligarchen-Gier
Über das umfassende „Putin-Schwarzbuch“ von Galia Ackerman und Stéphane Courtois – von Peter Münder
Dieser aus 24 Kapiteln und dem abschließenden Ausblick „Wohin steuert Russland?“ bestehende Band mit Beiträgen von 15 Autorinnen und Autoren stellt schon in der Einleitung brisante Fragen, entwickelt eine kritisch-analytische Perspektive und fasziniert mit der Erörterung sprunghafter politischer Entwicklungsphasen – etwa zur Lage in Georgien (von Thornike Gordadze) und Tschechenien (von Mairbek Watschagajew) oder zum leichtfertigen Umgang mit dem Faschismus-Begriff (von Claus Leggewie). Vor allem, wenn die Diskussion über Putins Entwurf einer „neuen russischen Großmacht“ keineswegs nach vorne in dynamische, progressive Dimensionen führt, sondern zurück in antik wirkende Muster aus der Froschperspektive, um verstaubte Illusionen, protzigen Plunder und KGB-Raster für dümmliche Stereotype zu bedienen. Nur so ist zu verstehen, warum Putin gerne Stalinbüsten, imposante Denkmäler und Statuen als Symbole einer „neuen männlichen russischen Identität“ und als Ikonen einer „neuen Macht“ versteht.

Das Denkmal zu Ehren des weltbekannten russischen Waffenherstellers Michail Kalaschnikow, das Putin 2017 in Moskau einweihte, sollte übrigens „die besten Eigenschaften des russischen Mannes verkörpern“ und ein echtes Symbol der russischen Kultur“ sein, wie Stéphane Courtois anmerkt. Die ca. 80-100 Millionen produzierten Sturmgewehre werden ja weltweit wegen ihrer robusten Bauweise, Durchschlagkraft und Zuverlässigkeit geschätzt – da wirkt es schon absolut aberwitzig, für diese zerstörerische Waffe den Kulturbegriff einzusetzen und mit Hinweisen auf Qualitäten des „russischen Mannes“ sozusagen mit einem prestigeträchtigen Fünfsterne-Exzellenz-Cluster zu überhöhen. Aber für den KGB-Apostel Putin stellt maximale Power mit extremem Zerstörungs-Potenzial eben auch den Inbegriff beeindruckender „Kultur“ dar.
Galia Ackerman ist Historikerin (Jahrgang 1948) und hat zusammen mit dem Historiker Stéphane Courtois, Jahrgang 1947, nun das „Schwarzbuch Putin“ herausgegeben. Dessen 1997 veröffentlichtes „Schwarzbuch des Kommunismus“, übersetzt in 26 Sprachen, war ein Weltbestseller. Beide Historiker sind irritiert und verwundert über den egomanischen, dilettantisch operierenden Kriegsherrn Putin, der großspurig die Eroberung der Ukraine in wenigen Tagen prophezeite, das Auseinanderbrechen der EU vorhersah, Selensky als „Clown“ und dessen Regierung als „Haufen degenerierter narzistischer Marionetten“ bezeichnete. Die NATO hatte er für „hirntot“ erklärt und genau das Gegenteil seiner Ziele in kurzer Zeit erreichte. Daher lautet ihre Frage: „Wie ist es möglich, dass eine Weltmacht von einem so inkompetenten und obendrein arroganten Oberhaupt regiert wird?“

Ihr historischer Blick zurück im Zorn ist zugespitzt auf das von 1560 bis 1825 und auf 1917 konzentrierte Resümee: „Das russische Unheil ist zurückgekehrt und verursacht bei den Russen, ihren Nachbaren und in der ganzen Welt große Katastrophen. Russland rast tatsächlich auf einen Abgrund zu.“
Geheimdienstversager, Faschismus-Debatten, Putins Flucht nach vorn in die Vergangenheit, Tschetschenien unter Putin, orthodoxe Religion als Waffe, hybride Kriegsführung und Destabilisierung des Westens, Putin, Chef der Oligarchen
Die Bandbreite der hier diskutierten und analysierten Themen ist enorm, die Faszination bei der Lektüre bestechend – weil immer wieder überraschende Aspekte angesprochen und erläutert werden, die bisher kaum in bekannten Mainstream-Medien behandelt wurden. Die hier angesprochene ambivalente Einschätzung Putins gegenüber KGB und FSB resultiert offenbar aus Fehleinschätzungen seiner eigenen Leute vor und nach dem Fall der Mauer, der völlig überraschend erfolgte und nicht nur für russische Tschekisten ein Alptraum war. Die Fälschungen und Leugnungen historischer Ereignisse, wie etwa der Hitler-Stalin-Verträge, der Massaker von Katyn (Ermordung von 4.243 polnischen Offizieren im Wald von Katyn durch den russischen NKD im April 1940) – das alles könnte direkt aus einem Band von George Orwell stammen.
Es ist also nur konsequent, wenn Courtois/Ackerman erklären: „Wir beschreiben die Summe der Verbrechen Putins gegen sein eigenes versklavtes und verdummtes Volk und gegen weitere Völker – Ukrainer, Tschetschenen, Georgier, Moldawier, Syrer, Venezolaner und andere.“ Beide bezeichnen die gnadenlose, menschenverachtende Schädigung als weltweit bekanntes Putin-Prinzip, dessen Entschlüsselung sie als zentrale Aufgabe betrachten.
Die historischen Exkurse über den Hitler-Stalin-Pakt, die umstrittenen Beziehungen zwischen der Ukraine und Sowjetunion oder die Aufarbeitung der KGB-Vergangenheit Putins sowie die immer noch brisante und erregt diskutierte Thematik „Faschismus und kein Ende“ (im Beitrag von Claus Leggewie) sind überzeugend, weil sie wegführen von den üblichen ahnungslos-überraschten Reaktionen im Stil von „Dieser Überfall auf die Ukraine war ja überhaupt nicht vorhersehbar“ und „Wer hätte gedacht, dass die deutschen Energieversorger so erpressbar waren“?
Wie mehrere Kapitel über Konfliktherde und Kriege im Kaukakus zeigen, waren russische Überfälle in Georgien, Armenien, Tschetschenien, Abchasien u.a. nach dem üblichen KGB-Muster geplant oder als islamistische Terror-Attacken getarnt worden, dass nach harmlos anmutenden Grenzstreitigkeiten oder Disputen über ausstehende Schulden für bezogene Gas- und Öl-Lieferungen sich diese kleinen Staaten plötzlich von russischen Truppen angegriffen sahen. So hatten sich die Konflikte entwickelt, die nach Putins Plan wie schon in anderen Auseinandersetzungen auf maximales Chaos, hohe Verluste für die Gegenseite und auf eine extreme Erniedrigung des Gegners abzielten.

Bemerkenswert an Courtois´ Auseinandersetzung mit dem Kommunismus ist seine drastische Unbefangenheit, mit der er die Verbrechen Hitlers und Stalins nebeneinander stellt und die große Hungersnot in diesem Kontext als „Klassengenozid“ bezeichnet. In seinem „Schwarzbuch des Kommunismus“ hatte Courtois übrigens so unterschiedliche Länder wie China, Kuba, Kambodscha und Afghanistan aufgelistet, in denen er insgesamt hundert Millionen Opfer totalitärer Systeme ortete – was zu extrem kontroversen Diskussionen geführt hatte.
Wenn also im Putin-Schwarzbuch der Hitler-Stalin-Pakt erörtert wird und Stalins Bemerkungen zur Eroberung Polens zwei Wochen nach der Wehrmacht als Muster für Putins aggressive Aktionen als „KGB-System“ etabliert hat, dann ist das keineswegs abwegig. Denn Stalins Behauptung vom September 1939, „Was kann es schaden, wenn ein faschistischer Staat verschwindet“, war mit einem ähnlich triumphierenden, imperialistischen Habitus eines Kolonialisten vorgetragen wie Putins aberwitzige Hasstiraden gegen vermeintliche NATO-Provokationen und angebliche faschistische Machenschaften des Westens, um so den russischen Überfall auf die Ukraine auch noch jetzt, ein Jahr nach dem Überfall auf die Ukraine, zu rechtfertigen.
Der Geheimagent will Zar werden
Bei der Rückbesinnung auf Putins Werdegang vom KGB-Agenten zum brutalen „neuen Zaren“ staunen Galia Ackerman und Stéphane Courtois darüber, in welchen kritischen Situationen Putin seine Entscheidungen für riskante Interventionen oder unauffällige Abtauchmanöver fällte: „Wie ist es möglich, dass jemand, der am 20.August 1991 aus dem KGB ausschied – während des gescheiterten Putsches gegen Michail Gorbatschow also –, dass so jemand 1998, nur wenige Jahre später, Direktor des in „Föderaler Dienst für die Sicherheit der Russischen Föderation (FSB)“ umbenannten KGB wurde? Es ist undenkbar, dass einer, der den KGB in einer Krise „verlassen“ hatte und nicht etwa General, sondern nur Oberstleutnant war, den höchsten Posten der Organisation bekommen konnte – es sei denn, er gehörte in Wirklichkeit zur „aktiven Reserve“ aus ehemaligen KGB-Genossen, die jetzt für den FSB arbeiteten und den aus der Implosion der UdSSR 1991 hervorgegangenen Staatsapparat unterwandern sollten.“

In diesem Kontext wird die kommunistische Ideologie erörtert, deren „extreme Anpassungsfähigkeit“ einen Pakt Stalins mit dem Naziregime ermöglichte. Courtois/Ackerman erklären Putins Systemvariante als „Sowjetsystem ohne kommunistisches Gedankengut“ sowie als Fusion der Regierung mit mafiösen Gruppen und ihrer kriminellen Praxis – wozu auch die endemische Korruption an den Schaltstellen der Macht gehört. „So sieht das Regime aus, das global für Chaos sorgt und dessen imperialistische Absichten weit über die Ukraine hinauszielen“, schreiben die beiden Herausgeber.
Historische Brüche und Kontinuitäten
Die „ungeheure Fassungslosigkeit“ nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der dadurch ausgelösten Implosion der UdSSR stellt für Courtois ein enormes Faszinosum dar, das seinem Interesse an labilen politischen Systemen und der Umorientierung hin zu größenwahnsinnigen Phantasien eines „Dritten Rom“ (wie bei Putin) nach dem Fall von Konstantinopel 1453 sehr entgegen kommt. Denn Putins Konstrukt eines Narrativs vom großen Imperium der Zaren, das alle Slawen vereinte, sollte die Basis einer neuen russischen Identität liefern, die sich auch auf ultranationalistische Aspekte fixierte und 2004 einen neuen Nationalfeiertag einführte, mit dem als einer der „16 Tage des Militärruhms der Russischen Föderation“ an die Befreiung Moskaus von der polnischen Besatzung am 4. November 1612 erinnert wird. Dieser von Putin verfügte „Tag der Einheit des Volkes“ ersetzt seitdem den für die Kommunisten einst wichtigsten Nationalfeiertag – den Tag der Oktoberrevolution um 7. Oktober. Für Putin stellt immer schon der Große Vaterländische Krieg die größte russische Heldentat dar, wie er selbst oft genug betont. Da passt es ins Bild, wenn bei einer russischen Umfrage von 2017 Josef Stalin für 38 Prozent der Russen die wichtigste Persönlichkeit der Weltgeschichte war – noch vor Putin und Puschkin.
In ihren Überlegungen zur Zukunft des Kriegstreibers Putin und möglicher Szenarien hinsichtlich möglicher Strafaktionen gegen den von Russland organisierten Terror kommen Ackerman und Courtois zur Überzeugung, dass der Aggressor hart bestraft werden müsse: „Nur dynamische neue Kräfte, die bereit sind, dem Sowjetismus und der Machtkontrolle durch den KGB/FSB ein Ende zu setzen, können Russland und sein Volk vor den Chimären einer blutigen Vergangenheit retten.“ Wer möchte dieser Forderung nun, ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, wo ein Ende dieses brutalen Putin-Wahnsinns noch nicht absehbar ist, widersprechen?
Peter Münder
Stéphane Courtois, Galia Ackerman (Hg.): Schwarzbuch Putin (Le Livre noir de Vladimir Poutine, 2022). Mit Beiträgen internationaler Experten, u.a. Katja Glogger, Claus Leggewie und Karl Schlögel. Aus dem Französischen von Jens Hagestedt, Ursula Held, Jörn Pinnow, Nadine Püschel, Barbara Sauser, Thomas Stauder, Elisabeth Thielicke. Piper Verlag, München 2023. 503 Seiten, 26 Euro.
– Ein Interview mit Herausgeberin Galia Ackerman im österreichischen Standard hier. Als Chefredakteurin der Medienplattform Desk Russie kämpft sie dort gegen Desinformation.