Sachbücher, kurz besprochen

von Alf Mayer (AM) und Thomas Wörtche (TW)
Hermann Bausinger: Vom Erzählen. Poesie des Alltags
Markus Brauckmann, Gregor Schöllgen: München 72. Ein deutscher Sommer
Julio Cortázar: Unerwartete Nachrichten
Caroline Elkins: Legacy of Violence: A History of the British Empire
Klaus Gietinger, Norbert Kozicki: Freikorps und Faschismus. Lexikon der Vernichtungskrieger
Mittelweg 36: Schwerpunkt: Publikationsregime
Christiane Schalles: „…Transport von Personen, Thieren, Waaren und Gegenständen aller Art …“ 175 Jahre Eisenbahn in Bad Soden am Taunus 1847 – 2022

Blutige Erbschaft
(AM) Die Zeit der Imperien ist noch nicht vorbei, das lernen wir gerade beim russischen Überfall auf die Ukraine. Das größte Imperium aller Zeiten, da mag Putin noch so groß träumen, aber war das britische. Es umfasste ein Viertel der Landmasse der Welt und beherrschte mehr als 700 Millionen Menschen. Während dieser Fakt für mache konservativen Idioten in UK immer noch der Stoff für wet dreams ist, belegt Caroline Elkins mit ihrer monumentalen Studie Legacy of Violence: A History of the British Empire, um welch furchtbar(e) blutgetränkte Erbschaft es sich dabei handelt. Und sie benennt es klar: „Wir erben alles!“
Die Professorin für Geschichte und Afro- und Afroamerikanistik an der Harvard University, nebenbei Professorin für Betriebswirtschaftslehre, also auch finsterer Geschäftsgebaren kundig, durchmisst 200 Jahre und vier Kontinente, um die Gewaltgeschichte der britischen Kolonialherren aufzublättern, die jeden Aufstand niederschmetterten. Das reicht vom Massaker von Amritsar am 13. April 1919 in Nordindien (mit 380 Toten und 1200 Verletzten) bis ins Nachkriegs-Malaysia, vom irischen Unabhängigkeitskampf oder dem Burenkrieg zu den arabischen und jüdischen Aufständen in Palästina und dem Mau-Mau-Krieg in der englischen Kolonie Kenia, geht tief in schreckliche Details, die im Namen eines „liberalen Imperialismus“ die Zivilisation in rückständige Länder bringen helfen sollten.
„Alle Imperien sind gewalttätig“, schreibt Elkins. Rule Britannia! macht da keine Ausnahme: Um ihre Kolonien in Schach zu halten, setzte die Großmacht auf Mord, Folter, Vergewaltigung, Haft ohne Strafverfahren, Zensur, Bombenhagel und das Verhungern-Lassen von Zivilisten in Konzentrationslagern. Im Juli 2012 gestand die britische Regierung beim ersten Schadensersatzprozess gegen die Krone erstmals ein, dass in den Internierungslagern während des Mau-Mau Aufstandes gefoltert wurde. Die Wissenschaftlerin erhielt im Lauf des vier Jahre währenden Prozesses (der mit 19,9 Mio Pfund Sterling für die überlebenden 5228 Kenianer endete) Einsicht in 300 bis dahin ungeöffnete Archiv-Kisten aus den MI5- und MI6-Archiven. Dazu kamen für dieses Buch weitere 8000 Akten aus 36 britischen Kolonien. Elkins fragt sich, wie die manifeste „legalisierte Gesetzlosigkeit“, zu der auch die Zerstörung von Beweisen gehörte, ins Heute wirkt, fragt sich, wie solche Taktiken heute weiter wirken. Was ist das Erbe dieser Gewalt? – Und eins noch: Elkins findet, gestürzte Statuen verzerren die Geschichte nicht, wohl aber verbrannte Akten und vernichtete Beweise. Auch deshalb sind internationale Beobachter in der Ukraine derzeit so wichtig.
Caroline Elkins: Legacy of Violence: A History of the British Empire. Knopf, New York/ Bodley Head, London 2022. 896 Seiten, $35, GBP 30.

Cortázar lesen!
(TW) Manchmal bin ich ein bisschen verunsichert: Muss man Juan Cortázar wirklich wieder vorstellen, muss man inzwischen wieder darauf hinweisen, dass sein Roman „Rayuela“ (von 1963) zu den Schlüsseltexten des 20. Jahrhunderts gehört? Gibt es tatsächlich Leute, die mit Cronopien und Famen nichts im Sinn haben? Manchmal bin ich ein optimistisches Kerlchen und möchte an die Zivilisiertheit eines engagierten Lesepublikums glauben, das seine helle Freude an den vermischten Texten hat, die Michi Strausfeld aus dem Nachlass und anderen, eher ungewöhnlichen Quellen zu einem schönen Bändchen zusammengestellt hat. Nicht nur aus dem berühmten “papeles inesperados“ (den „unerwarteten Papieren“), sondern aus obskuren Zeitschriften wie PROA oder gar dem Netz. Kein Wunder, Herausgeberin Michi Strausfeld kannte den Autor gut und weiß, wo man hingreifen muss – zudem hat sie ein kluges Nachwort zu dieser Ausgabe beigesteuert.
Die Texte sind produktiv vermischt und thematisieren das, was den großen argentinischen Autor zeitlebens umgetrieben hat: Musik – die kleine Hommage an Carlos Gardel, „Immer Gardel“ ist zum erstenmal auf Deutsch zu lesen -, Film, und Fantastik („Das Gefühl des Fantastischen“ war Cortázars letzte Universitätsvorlesung), die ihn als begeisterten Kenner all dieser Kunstformen ausweist. Wir begegnen manchen unbekannten Abenteuern der Cronopien, treffen auf Lukas, Cortázas alter ego, und auf die beiden regulars, die Streithähne Calac und Polamco. Zudem gibt es einen Auszug aus der Korrespondenz Cortázars zur Entstehung von „Ryuela“: „Die Geschichte von Rayuela in den Briefen von Julio Cortázar“. Besonders vergnüglich fand ich den kurzen Text „Das Husten einer deutschen Dame“, über ein sekundenlanges Geräusch auf einer Live-Aufnahme eines Konzerts, und was derlei bedeuten kann … Und den sehr feinen Essay: „Um mit Kopfhörern zu hören“ – ein Exerzitium zum genauen Hören …
Okay, ich will nicht das ganze Bändchen nacherzählen, sondern nur massiv darauf hinweisen, mit einem Spruch von Pablo Neruda: „Wer Cortázars Werke nicht liest ist verloren … und vielleicht würden ihm nach und nach die Haare ausfallen.“
Zu Cortázars „El perseguidor“, seinem eminenten Text über Charlie Parker, cf. auch den entsprechenden Anschnitt hier bei uns.
Julio Cortázar: Unerwartete Nachrichten. (Reader). Deutsch von Christian Hansen und Heidrun Adler, herausgegeben von Michi Strausfeld. Berenberg Verlag, Berlin 2022. 257 Seiten, 25 Seiten.

Zeitenwende
(AM) Eigentlich sollte es ein Sportbuch werden (da wäre dann mein Cousin zweiten Grades Rudolf Mang, der Bär von Bellenberg, dabei gewesen, Silber im Gewichtheben bei Olympia 1972, so steht er nicht einmal im Register), aber dann wurde den Autoren Markus Brauckmann und Gregor Schöllgen klar, dass das eine Verengung wäre. München 72. Ein deutscher Sommer war mehr als ein sportliches Großereignis, es war ein Lebensgefühl – ein Wendepunkt in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Es war die Chance, der Welt 36 Jahre nach der Nazi-Olympiade in Berlin ein anderes, ein weltoffenes, tolerantes und geläutertes, modernes Deutschland zu zeigen. Der dem Widerstand gegen Hitler verhaftete Designer Otl Aicher – mein Porträt von ihm hier nebenan in dieser Ausgabe – etwa ergriff diese Chance ganz bewusst. Er war es, der als Gestaltungsbeauftragter den Spielen ihren pastellfarbigen, frohen Auftritt gab und mit seinen Piktogrammen eine neue Formsprache und ein heute weltweit verbreitetes Orientierungssystem schuf. Das schwebende Stadiondach des Architekten Günter Behnisch entstand der Legende nach spontan im Modell dank eines Nylonstrumpfs der Frau seines Partners Fritz Auer. „Hundert olympische Ideen und ein poetischer Entwurf“ schrieb die SZ zum Architektenwettbewerb, den das Büro Behnisch mit einer echten Last-Minute-Aktion gewann. Der Münchner Oberbürgermeister Jochen Vogel witzelte noch: „München ist keine Beduinenstadt.“
Für die Bundesbürger war Olympia 1972 das, was die Mondlandung für die Amerikaner gewesen war – ein Aufbruch in eine neue Zeit, dem eine ganze Nation entgegenfiebert. Alle wollen zum Gelingen der Heiteren Spiele beitragen: Athleten, Helfer, Hostessen (damals etwas Neues) und als Maskottchen der Dackel Waldi. Die Autoren versammeln das alles zu einer Mentalitäts-, Kultur- und Sozialgeschichte, lassen viele Stimmen und Geschichten zu Wort kommen. Das Buch folgt dem bewährten Gliederungsprinzip als Tages-Chronik, wie das auch bereits etwa bei Oliver Hilmes’ „Berlin 1936. Sechzehn Tage im August“ aus der gleichen Verlagsgruppe der Fall war.
Der Sprachduktus vieler Quellen, das stellen die Autoren etwas konsterniert fest, transportiert oft – „mal unbewusst, mal naiv, mal überheblich“ – einen rassistischen Unterton. Die Reporterlegende Karl Stankiewitz etwa (siehe sein nicht auf heutige Sensibilitäten hin redigiertes Buch „München 1972. Wie Olympia eine Stadt bewegte“, Allitera, München 2021) verwendet völlig ungeniert Mohammedaner (für Muslime) oder Morgenland (für den Nahen und Mittleren Osten). Von dort bricht am 5. September 1972 der Terror in die heiteren Spiele ein, erwischt die Verantwortlichen wie die westliche Öffentlichkeit auf völlig unvorbereitetem Fuß – dem Schock von 9/11 vergleichbar. Der Anschlag der palästinensischen Terrorgruppe „Schwarzer September“ auf die israelische Olympia-Mannschaft beginnt als Geiselnahme und endet mit der Ermordung aller elf israelischen Geiseln sowie dem Tod von fünf Geiselnehmern und eines Polizisten. Einer der internationalen Reporter vor Ort: der Brite Gerald Seymour, der hier zum ersten Mal hautnah mit dem internationalen Terror in Berührung kommt – und ihn, variantenreich durchdekliniert, in bisher über 40 Thrillern sein ganzes Schriftsteller-Leben lang zum Thema gemacht hat.
Markus Brauckmann, Gregor Schöllgen: München 72. Ein deutscher Sommer. DVA, München 2022. 365 Seiten, 25 Euro.

Eine allen Menschen geschenkte Kunst
(AM) Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch das Erzählen, konstatiert der Ende 2021 verstorbene Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger in seiner Vom Erzählen betitelten Poesie des Alltags: „Der Mensch hat die Möglichkeit, nicht nur seine jeweilige gegenwärtige Situation zu beschreiben und sprachlich zu reflektieren, sondern auch das Vergangene und das nur Ausgedachte vorzustellen. Es geht um die Dimension der Geschichte (…), die in erzählten Geschichten lebendig ist, und es geht um die Reichweite der Phantasie.“ Bausingers schmales, aber gehaltvolles Buch widmet sich der Vielfalt des Erzählens. Das literarische Erzählen hat seine eigenen Gesetze, paradoxerweise, findet er, „mit einer weitgehenden Gesetzlosigkeit als Charakteristikum“.
Vom ganz Alltäglichen aus entwickelt, ist dies eine Erzähltheorie zum Anfassen, spielerisch und wie nebenbei, eben aus dem Alltag entwickelt. Schon Watzlawick beobachtete ganz elementar, dass man nicht nicht kommunizieren könne. Bausinger lenkt den Blick auf das Beiläufige, auf den Sinn sinnloser Erzählungen, auf den Glauben an das Unglaubliche, auf die Kunst der Beiläufigkeit. Sein Blick auf die Erzählformen bevorzugt die kürzeren Formen und das Anekdotische, erst am Ende steigt er ganz in den Kanon. Das befriedigende Wieder-Erkennen von Bekanntem – sei es als Geschichte, auf einzelne Personen bezogen oder sogar nur auf die Örtlichkeit der Handlung – macht er hauptverantwortlich für den Erfolg der Regionalkrimis, die im Umkreis der darin geschilderten Vorgänge viele Abnehmer finden, egal wie blutrünstig oder flach erzählt wird.
Er hat sehr gute Witze parat, und er weiß, wie sehr wir Menschen geborene Lügner sind. Im Film „Il divo“ sagt Giulio Andreotti, siebenmal Ministerpräsident und 30 Mal Minister, dabei stets skandalbehaftet: „Die Wahrheit wäre das Ende der Welt.“ Nietzsche assistiert: „Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir es noch ebenso: wir erdichten uns den größten Teil des Erlebnisses und sind kaum dazu zu zwingen, nicht als ‚Erfinder’ irgendeinem Vorgang zuzuschauen. Dies alles will sagen: wir sind von Grund aus, von alters her – ans Lügen gewöhnt.“ Für Nabokv, so merkt Bausinger an, begann die Literatur nicht mit dem Neandertaler-Jungen, der schreieend in die Höhle kam, weil ihm ein Wolf folgte, sondern mit jenem, der schrie, ein Wolf folge ihm, obwohl es nicht so war.
Bausinger selbst übrigen hielt die Nachricht von Maueröffnung für ein Orson-Welles-Re-do von der Landung Außerirdischer.
Hermann Bausinger: Vom Erzählen. Poesie des Alltags. Hirzel Verlag, Stuttgart 2022. Gebunden, 206 Seiten, 22 Euro.

Nahverkehr, exemplarisch
(AM) „Nur Proleten können sich in solche Kästen zusammenpferchen lassen“, meinte Herzog Wilhelm von Nassau im Jahr 1838 zum neuen Transportmittel Eisenbahn – ein Sentiment, das aktuell zum Neun-Euro-Ticket auch von weniger blaublütigen PS-Kutschern noch immer zu hören ist. Wer sich dennoch dem Thema Nahverkehr exemplarisch und kulturhistorisch nähern mag, findet im Ausstellungskatalog „…Transport von Personen, Thieren, Waaren und Gegenständen aller Art …“ 175 Jahre Eisenbahn in Bad Soden am Taunus 1847 – 2022 überreiches Anschauungsmaterial. Christiane Schalles, Leiterin des Stadtmuseums und Stadtarchivs, versammelt eine schier unglaubliche Detailfülle, mit der sie Hessens erste und Deutschlands ehemals zweite Nebenstrecke für den Personenverkehr (nach Baden-Oos-Baden-Baden) lebendig werden lässt. Die erste Fahrt fand am 22. Mai 1847 statt, führte vom damals nassauischen Amtsstädtchen Höchst am Main durch drei Herrschaftsgebiete in den nassauischen Kurort Soden am Fuß des Taunus, eine kleine Landgemeinde, wo von der herzoglich-nassauischen Regierung bereits Geld für den Kurbetrieb investiert worden war.
Zusammen mit der ebenfalls in dieser Zeit fertig gestellten Königsteiner Straße war Soden für die damalige Zeit außerordentlich gut erreichbar. Otto von Bismarck kam gerne zur Jagd, wenn er in der Frankfurter Paulskirche, dem Sitz der ersten deutschen Nationalversammlung, zu tun hatte. Graf Leo Tolstoi, Felix Mendelssohn Bartholdy oder Iwan Turgenjew waren prominente Kurgäste. Trink- und Badekuren gab es schon seit 1701 in Soden, aus den Heilquellen abgefülltes Wasser wurde in manchem Frankfurter Lokal ausgeschenkt. Bereits 1820 wurden jährlich rund 15.000 Krüge verschickt. „Altbewährtes Bad und klimatischer Kurort“ betitelte sich 1884 ein Faltblatt. Dampfloks mit Kohle-Tender verbanden Soden mit der Welt. Nach Frankfurt brauchte die Bahn ½ Stunde (wie heute mit der S 3), nach Wiesbaden eine, nach Köln vier, nach Berlin neun und Petersburg 46 Stunden.1907 verkehrten täglich 32 Züge zwischen Soden und Frankfurt und Wiesbaden.
Der großzügig illustrierte Katalog (die fabelhafte Gestaltung stammt von Mira Laaf) bietet Postkarten, Stiche, Pläne, Skizzen, Dokumente, Fahrkarten, Aktienprospekte, kolorierte Fotografien und viel Hintergrund, etwa zum Heil- und Kurgewerbe oder den Hauptbahnhöfen Frankfurt und Wiesbaden, zu Streckenführung, Ausflugszielen, Infrastruktur und Stadt- und Regionalgeschichte. Ein wirklich exemplarisches Buch – nicht nur Zugnarren empfohlen.
Christiane Schalles: „…Transport von Personen, Thieren, Waaren und Gegenständen aller Art …“ 175 Jahre Eisenbahn in Bad Soden am Taunus 1847 – 2022. Ausstellungskatalog und Dokumentation. Stadt Bad Soden am Taunus (Hg.)., 2022. 186 Seiten, 15 Euro. Verkauf über Stadtbücherei und Stadtmuseum und die örtlichen Buchhandlungen Gundi Gaab und Boris Riege.

Sturmtruppen des deutschen Faschismus
(AM) „Durch Krieg erst (…) schossen die tüchtigsten Rassen aus dunklen Wurzeln zum Licht, wurden unzählige Sklaven freie Männer“, schwadronierte Ernst Jünger 1922 in seinem von Gewalt strotzenden Buch „Der Kampf als Inneres Erlebnis“. Er war der „Lautsprecher“ bzw der „Minenwerfer“ einer ganzen Generation, der begabteste der schreibenden Freikorps-Männer und der einflussreichste, der im „Völkischen Beobachter“ und im „Stahlhelm“ schrieb. Es waren seine Blutsbrüder, die den Vernichtungskrieg perfektionierten, betonen Klaus Gietinger und Norbert Kozicki in Freikorps und Faschismus, ihrem großen Lexikon der Vernichtungskrieger.
Sie verhehlen nicht ihre Verachtung für Ernst Jünger als geistigen Wegbereiter des Faschismus, „der als feiner, von einer ganzen Menge Welt, inklusive Kohl und Mitterand, bewunderter Herr auch noch mit 100 morgens um 5 Uhr aufstand, sich in die Badewanne setzte, und das Wasser, egal welche Jahreszeit, so in die Wanne laufen ließ, wie es unbeheizt aus der Leitung kam. Ein tägliches Stahlbad.“
Gietinger, den wir auch als Filmemacher schätzen, hat 2020 bereits ein Buch zum „Kapp-Putsch“ veröffentlicht und in „Der Seelentröster“ die Thesen vom deutschen Hineinschlittern in den Ersten Weltkrieg wiederlegt. Zusammen mit seinen Ko-Autor, dem Sozialwissenschaftler Nobert Kozicki, legt er nun eine mit immensem Aufwand recherchierte Sozial-, Personal- und Kulturgeschichte der Freikorpsbewegung vor. Furor und wissenschaftliche Gründlichkeit prägen den Band, der anhand zentraler Figuren den Zusammenhang von Freikorps und Faschismus aufzeigt und zudem auf 270 Seiten an die 800 überaus informative Kurzbiografien versammelt. Die staatlich geförderte konterrevolutionäre Freikorpsbewegung war für die Autoren die Keimzelle des vom Nazi-Deutschland nach innen und außen geführten Raub- und Vernichtungskrieges. „Die Freikorpsmänner waren die Zucht deutscher Entwicklung, (…) sie waren die .Kernmannschaft… Sie waren Akademiker, Offiziere, Wirtschaftsfachleute, Architekten, Polizisten, Ärzte. Sie kamen aus der Mitte der Gesellschaft… waren die frühen Sturmtruppen des deutschen Faschismus.“
Klaus Gietinger, Norbert Kozicki: Freikorps und Faschismus. Lexikon der Vernichtungskrieger. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2022. Kartoniert, 440 Seiten, 24,80 Euro. Verlagsinformationen hier.

Und wo veröffentlichen Sie?
(AM) „Erst veröffentlichen, dann schreiben“, setzt die von uns geschätzte Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, dem Jubiläumsheft von Mittelweg 36 als Motto voran. Dieses Gedichtfragment-Zitat des Argentiniers Osvaldo Lamborghini aus „Poemas 1969–1985“ würde sich zweifellos wunderbar als Beispiel für eine wissenschaftliche Arbeit eignen, die in einem sagen wir so obskuren Gedicht-Ort wie CulturMag eine gewisse Öffentlichkeit finden könnte. Die Wissenschaft ist in einem hohen Maße von den Infrastrukturen abhängig, in denen sie publik gemacht wird, betont Carlos Spoerhase (vermutlich jener Lamborghini-Kenner) in seinem Text „Filetierte Vernunft“, in dem er das Veröffentlichen in den Geistes- und Sozialwissenschaften und dessen Regeln und Bedingungen untersucht.
Wirklich cool, zum 30jährigen Bestehen einer wissenschaftlichen Zeitschrift das wissenschaftliche Publikationswesen selbst als Publikationsregime zum Thema zu machen. Jerome E. Singerman gibt Auskunft über „Das schwierige Geschäft der nordamerikanischen Universitätsverlage“, Gisèle Sapiro beschäftigt sich mit Übersetzungen und der Selektion und Zirkulation geisteswissenschaftlicher Bücher im Zeitalter der Globalisierung, Martina Franzen untersucht „Wissenschaftliche Publikationspraktiken im fachkulturellen Vergleich“ und achtet auf „Einheit oder Vielfalt?“ Wer wissenschaftlich veröffentlicht, wird in diesem Doppelheft viel Anregung und Hintergrund finden.
Ganz beispielhaft in den Vordergrund rückt Steffen Mau im „Ortstermin“, einer in der Zeitschrift auch unter der neuen Leitung erfreulicherweise beibehalten Rubrik das Warnemünder Hotel Neptun: „von den Schweden gebaut“, 19 Etagen mit 338 Zimmern, zu DDR-Zeiten mit eigenem Geld und einer Sonderzone ausgestattet, heute noch für die Broilerbar und die „gerösteten Kartoffelstäbchen“ bekannt und jetzt 50 Jahre alt. Mögen dem „Mittelweg 36“ und uns bis zum Fünfzigsten noch viele erkenntnisreiche Veröffentlichungen beschert sein, Regime hin oder her.
Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Schwerpunkt: Publikationsregime. 31. Jahrgang, Heft 2, April/ Mai 2022. 128 Seiten, Broschur, 12 Euro. Verlagsinformationen.