Geschrieben am 15. Oktober 2016 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Essay: Thomas Wörtche: One more time – jazz´n crime

Das Standardthema Jazz´n Crime kommt in immer neuen Konfigurationen zur Sprache. Das heisst, dass es tief in unserer Kultur sitzt. Für einen Kongreß über Jazz sollte sich Thomas Wörtche schlicht und einfach ein paar Gedanken machen zum Thema „Generic and rhetorical patterns of jazz verbalizations“, bzw. zu deren europäischen Varianten.  Von „Crime“ war da nie die Rede. Zunächst. Und dann ging es plötzlich nicht anders:

One more time – jazz´n crime

Als ich diesen Artikel konzipierte, war ich ganz am Anfang der Meinung, dass ich etwas zu European patterns of (verbal/cultural) experiences of jazz sagen könnte – das Thema war im Angebot der Konferenz, und ich fand es zunächst ganz bezaubernd: Kann man tatsächlich Muster erkennen, wie Europäer mit Jazz umgehen und wie verbalisiert sich dieser Umgang und kann man auch an einer solchen Verbalisierung Muster herauspräparieren? Muster, die nur für Jazz gültig sind und nicht für andere Formen von Musik resp. Kultur geltend gemacht werden können? Muster, die man möglicherweise in diverse historische und diverse aktuelle scheiden müsste? Muster, die für Litauen ähnlich gültig sind wie für Italien? Muster, die politikgeschichtlich begründete Irregularitäten mitdenken (Nationalsozialismus, Stalinismus)?

jazz-lessing_dramaturgie01_1767_0005_1600pxUnd über welche Ver-Sprachlichung von Jazz würden wir reden? Gibt es Muster der Jazz-Kritik? Narrative Muster – erzählter Jazz? Muster europäischer Jazz-Vocalisation? Muster des wissenschaftlichen Redens über Jazz – musikwissenschaftlich, soziologisch, kulturtheoretisch, philosophisch? Denn auch dabei handelt es sich ja um Ver-Sprachlichungen, die möglicherweise, wie viele Fach-Diskurse, standardisiert genug sind, um Muster erkennbar zu machen. Das gilt im ganz besonderen Fall auch für emphatische, lebensweltliche Äußerungen über Jazz – mag ich, mag ich nicht, versteh ich nicht, finde ich cool etc.-, die natürlich auch Muster bilden.

Wobei „Lebenswelt“ ein interessantes Stichwort ist: Vermutlich entscheiden nicht die Fachdiskurse der Wissenschaftler und Kritiker, nicht die „poetologischen“ Äußerungen von Musikern, nicht die Gedichte über und zu Jazz über solche Wahrnehmungsmuster, sondern die bilden sich auf einer viel früheren und oberflächlicheren Stufe der Rezeption, wobei noch gar nichts darüber gesagt ist, welche konkrete Musik genau als Jazz wahrgenommen wird.

Schon Lessing wusste im 70. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie, dass es vermutlich signifikant wird, wenn etwas „quer einläuft“, nämlich die Lebenswelt in die Theoriebildung über ästhetische Gegenstände.

Und deswegen möchte ich ganz still und leise vom Abstrakten ins Konkrete wechseln.

noch-jazz-the-brute098604The Brute in action

In dem 1970 entstandenen dänischen Spielfilm „Quiet Days in Clichy“, der die erotischen Abenteuer zweier amerikanischer Bohemiens in Paris erzählt, taucht in einer längeren Passage Ben Webster auf. Er sitzt in einer Kaschemme und spielt wunderbaren balladesken Jazz auf seinem Tenorsaxophon. Die Kaschemme ist eine rechte Lasterhöhle, in der die beiden Helden des Films mit Frauen (wir dürfen vermuten: Prostituierten) so heftig rummachen, dass sich der Geschäftsführer zum Einschreiten gezwungen sieht. Die Szenerie ist totalement sexualisiert, wobei die Art des Inszenierung, die der Regisseur Jens Jørgen Thorsen für diese Szene (gilt nicht für den ganzen Film) wählt, Sex als etwas Vulgäres, Billiges, Krampfiges, Ungustiöses erscheinen lässt. Und mitten drin Ben Webster. In der unzensierten englischen Fassung sieht man an einer Stelle einen sehr, sehr giftigen Blick, den Webster (nicht umsonst auch ehrfurchtsvoll The Brute genannt) dem Hauptdarsteller Paul Valjean zuwirft – ein Blick, den man mit guten Gründen für nicht inszeniert, sondern eher authentisch halten darf. Und zudem gibt es am Ende der Sequenz noch einen kurzen Aufruhr, der eine Verärgerung oder Unwillen von Webster zeigt, über dessen Echtheit man ins Grübeln kommen kann. Aber egal, ob Webster sich funktionalisiert fühlt oder nicht – seine minutenlange Präsenz in einem Kontext, der zumindest erstaunlich ist, wirft ein paar grundsätzliche Aspekte auf, was kulturelle Muster (ver-sprachlicht über die Begriffe, mit denen wir gleich operieren werden) der Jazz-Wahrnehmung angeht.

noch-jazz-stilletagewa„Quiet Days in Clichy“ ist bekanntlich ein schmaler Roman von Henry Miller, der in den 1930er Jahren spielt, 1940 abgeschlossen und erst 1956 in Frankreich mit Fotographien von Brassaï veröffentlicht wurde. Die oben geschilderte Szene in der Bar findet sich im Roman erkennbar wieder, nur von Ben Webster ist da – logischerweise –  keine Spur und von Jazz oder anderer Musik auch nicht.

Der Film von 1970, der die Welle der „Dänen-Pornos“ der Zeit um die Variante des „Dänen-Pornos für Intellektuelle“ erweitern möchte und in Millers Roman ein Manifest sexueller Befreiung vermutet, hat sich als musikalischen Subtext den gerade in Woodstock zum Weltstar gewordenen Country Joe McDonald gewählt, der die Handlung mit seinen Texten kommentiert. Country Rock, Folk Rock also, von jeder Jazz-Assoziation weit entfernt. Und wenn unsere beiden Helden einen Ausflug nach Luxemburg (of all places) unternehmen, ertönen fröhliche Trad-Weisen von Papa Bue´s Viking Jazz Band. Trad-Jazz hier als Untermalung slapstickhafter Szenen, also der westeuropäischen Fernsehpraxis der Zeit folgend, frühe amerikanische Slapstick-Filme wie Our Gang oder Laurel & Hardy-Zusammenschnitte mit heiterem Pseudo-Dixieland/Ragtime/Vaudeville/Jitterbug untermalt zu präsentieren. Auch über diese eindeutige Zuweisung von Musik zu einer bestimmten Performance könnte und sollte man nachdenken – warum etwa früher Jazz (oder was man dafür hält) als die angemessene Musik gilt, zu der er sich besonders gut auf die Schnauze fallen lässt.

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Zurück zu The Brute: Im musikalischen Milieu des Filmes ist Websters Auftritt zu signifikant, um unkommentiert zu bleiben. Natürlich: Es kann ganz pragmatisch so sein, dass er dem Regisseur einen persönlichen Gefallen tun wollte; Webster wohnte zu dieser Zeit in Kopenhagen, in dessen künstlerischem juste milieu Thorsen eine feste Größe war. Oder er wollte schlicht die Chance für einen längeren Filmauftritt nicht ausschlagen.

Dennoch – das Klischee ist mächtig: Wer Bild und Ton, Handlung und Musik, Atmosphäre und Klangfarbe zusammen agieren sieht, muss nolens volens an Adornos berühmte Polemik gegen den Jazz denken: An dessen Diktum über die „Integration des Asozialen, als wäre das Asoziale … die alltägliche Norm“ wie es in „Zeitlose Mode – Zum Jazz“ heißt, in der Fassung für den „Merkur“ von 1953. Ich möchte auch die Genealogie dieses sehr europäischen Wertungs-Musters im Umgang mit Jazz nicht überstrapazieren, sondern nur auf die pejorative Assoziation des Jazz, der „Untergangsmusik“, mit der Demimonde in Hermann Hesses „Steppenwolf“ hinweisen (dessen Verhältnis zum Jazz damit aber nicht rubrifiziert sein soll) oder auf Thomas Manns Konzept der Musik der „Wilden“ (durchaus nicht im Rousseau´schen Sinn) hinweisen.

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„Stille Tage in Clichy“

Bordellmusik

Dass aber eine solche Funktionalisierung, ein solches Wahrnehmungsmuster von Jazz als Musik des leicht schmuddeligen, halbwelthaften Milieus in einem sich selbst der sexuellen Revolution verpflichtet wähnenden Films, passiert, lässt einen sehr skeptischen Schluss über den Film und über dessen  Bewusstsein zu: So wie die Handlung und die Figurenzeichnung des Filmes einen unangenehmen Sexismus ausströmen (von einer Leichtigkeit des Seins kann nur in winzigen Momenten die Rede sein, wenn überhaupt), so zementiert Websters Auftritt die alte Funktionszuweisung des Jazz: Bordellmusik. Und zwar in pejorativer Absicht.

Man könnte „Bordellmusik“ natürlich auch positiv besetzen. Man könnte mit Eric Hobsbawm den Jazz aus dem (ideologisch) positiv besetzten lumpenproletarischen, subkulturellen Milieu (sowie Tango, Fado, Blues, Rembetiko auch) kommend verstehen und dann, immer noch mit Hobsbawm, feststellen, dass Jazz vor allem „symbolisch“ in Europa wahrgenommen wird.

Für Deutschland etwa gilt, so schreibt Wolfram Knauer, dass der Jazz „zahlreiche Konnotationswechsel mitgemacht (hat), die alle ihre Spuren in seiner Wahrnehmung hinterließen. Jazz war die Modemusik der 20er, er wurde in den 30er Jahren verteufelt, in den 40ern als Musik der Sieger, der Freiheit und der Demokratie angesehen, in den 50er Jahren als jugendkulturelles Phänomen rezipiert (…), in den 60er Jahren insbesondere von den Musikern eher als eine künstlerische Ausdrucksmöglichkeit genutzt, gleichberechtigt den Ausdrucksmöglichkeiten der etablierten Künste und diesen in der Spontaneität der improvisatorischen Aussage – zumindest aus der Sicht der Musiker – überlegen.“

Bei aller Triftigkeit der Diagnose – ein Punkt fällt bei Knauer auf: eine allgemeine Einschätzung, die er für die Zeit seit den 1920ern liefert, wird für den Zeitraum ab den 1960ern durch eine spezialisierte Einschätzung, nämlich der von jazzspielenden Musikern, ersetzt.

Das ist eine bemerkenswerte Zäsur, denn anscheinend gibt es ab einem bestimmten Zeitpunkt kaum noch eine allgemeinverbindliche, aktuelle Einschätzung mehr, die Knauer für zitabel hielte. Jazz ist zu einer Subventionskunst unter anderen geworden, über die allgemeine Aussagen nicht mehr zu treffen sind.

Denn die cultural patterns, die sich in diversen Funktionalisierungen und Prädikationen niederschlagen (deren Beschreibung wiederum vermittels verbal patterns funktioniert – um unseren Ausgangsgedanken nicht aus dem Fokus zu verlieren) sind lange Zeit patterns der Negativität, auch wenn diese Negativität von Fall zu Fall positiv aufgeladen ist: Jazz ist eine Gegenströmung gegen kulturelle Traditionalismen, Jazz ist anti-rassistisch, anti-faschistisch, anti-stalinistisch, Jazz transportiert den Gestus der Rebellion. Mit Hilfe des Jazz lassen sich  – so wie mit dem Shaftesbury´schen Probierstein – ideologische Positionen klar erkennen, auch wenn sie von anderen Standpunkten überlagert sein mögen: Wenn der rundum als Genie gelobte Mozart-Exeget Alfred Einstein noch 1927 in seiner „Geschichte der Musik“ schreibt, der Jazz sei „die Erfindung eines Niggers in Chicago“ und all at all „ … der scheußlichste Verrat an aller abendländischen Zivilisationsmusik“, dann haben wir nicht nur einmal mehr  eine topische Ver-Sprachlichung der Wahrnehmung von Jazz, sondern einen Hinweis, wie stark das Oppositionspotential von Musik war, die man als Jazz bezeichnet hat.

Denn auch das gehört zu unserem Thema: Die patterns und Sprachmuster, mit denen ästhetische Erfahrungen von Jazz kommuniziert werden, meinen nicht immer das musikalische Material, das man als „Jazz“ in engerem Sinn bezeichnen würde.

noch-jazz-d651bd05fcfae3f36ecc96992ca6In the movies …

So erschien jüngst eine sehr schön gemachte und sorgfältig produzierte 6er-CD-Box mit umfangreichen Booklet zum Thema „Jazz on film … The New Wave“. Booklets und Liner-Notes gehören natürlich zu den ersten Quellen standardisierter Rede über Jazz, sie sind ganz im Sinne Gérard Genettes klassische Paratexte und insofern schon quasi selbst Element von „Jazz“.

In unserem Fall ordnet das Booklet (die Texte stammen von Richard Neupert und Jason Lee Lazell) den Jazz der New Wave des französischen Kinos zu, also der Nouvelle Vague – Filmen von Francois Truffaut, Louis Malle, Roger Vadim, Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Jean-Pierre Melville, Edouard Molinaro und Marcel Camus. Jazz, so der Basso Continuo der Paratexte, steht hier für das Junge, das Unverbrauchte, für new stories und new ways of telling stories.  Was sich widerspruchslos mit Hobsbawms Beobachtung kurzschließt, dass man in dieser Zeit mit Jazz für Autos geworben hat, für Gillette Rasierklingen und Kurzhaarschnitte für Frauen, was man sofort wieder an Jean Sebergs Rolle in „A Bout de Souffle“ rückkoppeln kann.

jazz-ascenseur-71djjusennl-_sl1067_Aber nehmen wir als „Quell-Text“ oder als „Norm“ dieses Konzepts von Jazz und Nouvelle Vague die Jahrhundertmusik von Miles Davis zu Louis Malles „Ascenseur pour L´Échafaud“ – oder, um auch ein noch nicht zu Tode gerittenes Muster zu bemühen – Art Blakeys Score zu Roger Vadims „Les Liaisons Dangereuses“ – dann wird besonders kontrastreich und evident hörbar, dass zum Beispiel Les Aymaras/George Avanitas Arbeit für Vadims „La Bride sur le Cou“ oder Luis Bonfas & Antonio Carlos Jobims weltberühmte Kompositionen zu Marcel Camus´ „Orfeu Negro“ mit „Jazz“ eher wenig zu tun haben, obwohl sie wie selbstverständlich in besagter Box anthologisiert sind. Betrachtet man zum Beispiel das weitere Schaffen von Claude Chabrol und seine Zusammenarbeit mit dem Komponisten Pierre Jansen und später mit seinem Sohn Matthieu (beide der europäischen Neuen Musik verpflichtet, keinesfalls dem Jazz), dann besteht – ohne großen Definitionsaufwand erkennbar – zwischen „Jazz“ und Nouvelle Vague nicht unbedingt der innere Zusammenhang, den uns die Paratexte versprechen, und der lediglich aus der Rhetorik der Relation (Jazz & Nouvelle Vague gehören zusammen)  und der Innovation hervorgehen mag.

Dennoch entstehen solche Sprachspiele und solche Verständigungspatterns nicht einfach so. Wir müssen nur versuchen, zu verstehen, auf welchen Ebenen sie funktionieren. Der Musiker und Philosoph Daniel Martin Feige fragt in seiner  „Philosophie des Jazz“, welche Aussagen über Jazz „wahr“ sind. Denn nur mittels „wahrer Aussagen“ kann er zum Kern seiner These vorstoßen, die da heißt: „Jazz macht nicht nur etwas explizit, was in der Tradition europäischer Kunstmusik implizit bleibt, sondern Jazz macht vielmehr etwas explizit, was für Kunst als solche wesentlich ist.“ Es ist absolut legitim und sinnvoll, Jazz als Gegenstand der akademischen Philosophie deswegen zu wählen, weil er, so definiert Feige, zu den “für unser Selbst- und Weltverständnis wesentlichen Grundbegriffen gehört.“ Ich möchte nicht weiter auf Feiges spannende Idee eingehen, warum eine gute Jazz-Performance eine „ästhetische Miniatur einer gelingenden Lebensführung“ sein kann und wohl auch sein soll, sondern möchte nur noch einmal dafür plädieren, genau zu schauen, wo die mächtigen Prädikationen über unsere geliebte Kunstform herkommen. Die möglicherweise gegen ihre Sekundärbearbeiter keine Chance hat.

jazz-el-perseguidor-y-otros-cuentos-de-cine-ebook-9788415614036El perseguidor

Ich mache deswegen etwas politisch völlig Unkorrektes und Unschickliches und kapere den großen argentinischen Schriftsteller Julio Cortázar einfach für unser europäisches Thema – mit nicht ganz so schlechtem Gewissen, weil man Cortázar irgendwo mit guten Gründen auch als Pariser Schriftsteller verstehen darf. Und schon gar, wenn wir über seine Erzählung „El perseguidor“ („Der Verfolger“) aus dem Jahr 1959 reden, in der mit Klarnamen alle großen Zelebritäten der französischen Jazz(kritik)szene der Zeit vorkommen, Charles Delaunay, Hugues Panassié und andere; während die Hauptfigur Charlie Parker zu „Johnny“ und die „Muse des Jazz“, Pannonica de Koenigswarter, zu Tica mutiert sind. Aber eben darum geht es im „Verfolger“: Cortázar erzählt, aus der Ich-Perspektive eines Kritikers, der für das damalige einschlägige Zentralorgan, die Zeitschrift „Jazz Hot“ schreibt und der deswegen Macht über Rezeption und Rezeptionslenkung hat. Bruno, der Erzähler, ist im Grunde zutiefst darüber empört, dass alle problematischen Prädikationen, die dem Jazz zugeschrieben werden, sich in „Johnny“ personifizieren: Exzess, Obszönität, Drogen, Wahnsinn und mythologischer Tod.  Und noch empörter ist er, dass „Johnny“ selbst sich nur für sein nächstes Kotelett interessiert oder für die nächsten hundert Dollar und keinen Begriff davon hat, was er als Künstler Bedeutendes und Normatives  schafft. Dies aber weiß Bruno trefflich zu artikulieren: „Dieser Jazz verschmähte jede billige Erotik, jeden Wagnerismus, um es so zu sagen und stellt sich in einen scheinbar leeren Raum, wo die Musik in absoluter Freiheit bleibt.“ Zum Dank für seine sublimen Exegesen macht „Johnny“ Bruno das mehr als zweifelhafte Kompliment, er sei „so treu wie Mundgeruch.“

Die benevolente Bevormundung des Musikers durch den Sekundärbearbeiter hat noch einen, sonst eher selten thematisiertem Aspekt: Brunos neues Buch über „Johnny“ muss fertig werden und damit dieses Buch ein Erfolg wird, darf sich „Johnny“ durchaus ein wenig bizarr und exzentrisch benehmen, wie man das eben von einem „Genie“ erwartet (ein Wahrnehmungsmuster, das kein Alleinstellungsmerkmal für Jazz-Rezeption ist, aber tief in der Genieästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts wurzelt), aber nicht so bizarr und ausgeklinkt, dass die provokatorischen Elemente den Kunstgenuss des pp Publikums schmälern könnten (was dann durchaus ein Alleinstellungsmerkmal für Jazz sein könnte.)

Kurz: Es geht in Cortázars Erzählung darum, wem der Jazz gehört, wer die Deutungshoheit hat und welche Wahrnehmungsraster letztendlich den Fortgang des Diskurses oder des öffentlichen Images bestimmen.

Auch das ein Thema, das nicht nur von Cortázar bearbeitet wurde, sondern auch immer wieder von Boris Vian, dessen Doppelrolle als Musiker und Schriftsteller die Angelegenheit nicht einfacher macht: Seine vielen Glossen, Rezensionen, Porträts und andere journalistische Texte zum Jazz (in einer feinen Edition bei Hannibal von Klaus Völker zusammengestellt) kreisen immer wieder um die Frage: „Was ist Jazz?“ und „was ist echter Jazz?“, wobei Vian fasziniert eben auch um die nicht so edlen Manifestationen von „Jazz“ herumtanzt; Tanzmusik, Manifestation des süßen Lebens (Champagner, Whiskey Soda, ausgeschnittene Blusen) und Zeichen für Snobismus, Provokation und Nonkonformismus – Prädikationen, die nun gerade im Kontext von Boris Vians eigenem Leben und Schaffen nicht durchweg negativ konnotiert sind – au contraire.

Tatsächlich könnte man aus dem bisher Gesagten folgern, dass Redekonventionen, Funktionalisierungen, Wahrnehmungsmuster und Prädikationen über das Phänomen „Jazz“ noch lange nicht bei den Feige´schen „wahren Aussagen“ über Jazz angekommen sind.

Die historische und aktuelle hochkomplexe und kaum noch (weder gesamteuropäisch noch global) überschaubare Ausdifferenzierung eines musikalischen Idioms mussten wir bis jetzt noch überhaupt nicht heranziehen, um an der Möglichkeit subtilerer Verständigungsstandards zu zweifeln.

jazz-bourdieusx284_bo1204203200_ Art moyen?

Wenn wir aber einzelne Standard-Aussagen, seien sie negativ oder positiv oder jeweils kontrastiv gemeint, sozusagen zu einem Sample zusammenstellen (was ich die ganze Zeit unausgesprochenerweise getan habe), fallen wir unwillkürlich auf Pierre Bourdieus Einschätzung des Jazz als art moyen, als „mittlere Kunst“ zurück.

Art moyen heisst bei Bourdieu – in den „Feinen Unterschieden“ –  eine „auf dem Wege zu ihrer Legitimierung begriffenen Kunst, die beim Vergleich aber mit den Experimenten der musikalischen Avantgarde auf ihren gewöhnlichen Wert zurückfällt und damit erscheint, was sie ist: Surrogat des legitimen Vermögens.“ Wir lassen an der Stelle einmal die Frage eher amüsiert stehen, warum der mit allen autoreflexiven Wassern gewaschene Bourdieu (wie wir nicht nur aus seinen „Meditationen“ wissen) ausgerechnet an dieser Stelle die reflektorischen Limitationen seiner eigenen scholé und seiner eigenen „großbürgerlichen“ Herkunft nicht durchschauen kann (oder will). Wir verweisen auch nicht auf die Jahrzehnte, die seit 1979 vergangen sind, weil sich seit dem in der Tendenz von Bourdieus Einschätzung nicht allzu viel substantiell geändert hat.

Wir betrachten statt dessen noch schnell den Kontext, in dem Bourdieu den Jazz diskutiert, denn von da aus könnte es in der Tat möglich werden, so sehen, was der Jazz im Gefüge der Künste explizit macht, um Feige Erkenntnisinteresse zu modifizieren.

Für Bourdieu gehören zu den arts moyens neben dem Jazz noch der Comic, der Kriminalroman und der Film. Also alles Künste, die einerseits eine sehr populäre „Gründungsphase“ hatten und andererseits inzwischen so ausdifferenziert sind, dass es (den Film lassen wir  mal hier als eigenes Medium raus) zwischen den einzelnen, sprachlich meist deiktisch definierten („Dies ist ein Kriminalroman/Comic“) Manifestationen oft kein tertium comparationis mehr zu geben scheint. Auf die Parallelen zum Jazz muss ich nicht erst hinweisen.

Interessant auch, dass gerade die Nachbarschaft zum Kriminalroman und zu dessen Thema sui generis, also Gewalt und Verbrechen, immer auch ein Jazz-Thema ist: Positiv wie negativ. Negativ natürlich bei Adorno, wo nicht nur wie beim Jazz das Abnormale die Norm ist, sondern auch das Verbrechen, weil für Adorno Jazz und Kriminalroman anscheinend so natürlicherweise zusammengehören wie auch bei Bourdieu. Die deutsche benevolente Jazz-Publizistik à la Joachim Ernst Berendt hat viel Energie darauf verwendet, diesen Zusammenhang zu widerlegen und hat den Jazz damit, wie Cortázars Bruno, in den Rang aseptischer, naja sehr stilisierter Hochkultur („totale Leere, totale Freiheit“ – dieses Muster eben) erhoben.

Positiv, weil dieser Konnex zwischen Jazz und Crime ja tatsächlich besteht, historisch und soziologisch gesehen.

jazz-stille-tage-in-clichy-miller-henry-1247876Während die Populär-Kultur, ich rechne mal die Verfilmung der „Quiet Days in Clichy“ zumindest zur intentionalen Populärkultur, ausgerechnet das Pejorative unterstreicht: Jazz ist hier kein Moment anarchischer Subvention, der Jazz produktiv in andere Sichtweisen von Sex und nightlife und was immer man sich für vitalistische Konzepte vorstellen kann, einordnete. Dieses Muster baut Adornos Verdikt von der moralischen Verwerflichkeit einfach nach. Das – und die Parallelsetzung mit Kriminalroman und Comic – hat aber mit der Persistenz der Hierarchie der Künste zu tun. Die hält sich außerhalb von Fachdiskursen (es hat nie einen breitenwirksamen Diskurs oder konsensuelle Einigungen über den Rang und die Qualität einzelner Kunst-Genres gegeben, die nicht über Jahrhunderte so etabliert und bewußt-los institutionalisiert sind wie Oper, Ballett, Malerei) und schafft eben keine verbindlichen Wahrnehmungs- und Verständigungsmuster, die mit den institutionalisierten Künsten konkurrieren könnten. Ob der Universitätsbetrieb, in dem eine brillante Arbeit über den Kriminalroman immer noch zu den exzentrischen Forschungen gehört und im Gegensatz zu einer mittelmäßigen Arbeit über Goethe karrieretechnisch tödlich sein kann, auch für den Umgang mit dem Jazz ein Wirklichkeitsprotokoll ergibt, kann ich schlecht beurteilen.

Ich weiß aber, dass die Zustandsbeschreibung, die ich gerade für die Bourdieu´schen arts moyens gegeben habe, auch dereinst historisch sein wird.  Spannend, wie sich dann die Künste historisch und damit auch sozial neu ausrichten und ob sich der alte Drang zu Hierarchisierung und Normierung an neuem Material neu formieren oder sich zu anderen Sortierungen wandeln wird.

© Oktober 2016 by Thomas Wörtche

Überarbeitete Fassung eines Vortrags auf der Konferenz:
Jazz in Word: European (Non-)Fiction
International Conference
May 22-24, 2014 University of Vienna, Austria

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