Geschrieben am 1. Juni 2022 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2022

Alf Mayer: Otl Aicher zum Hundertsten

Denker am Objekt

Dem Gestalter und Typografen Otl Aicher zum 100. Geburtstag – von Alf Mayer

Design war für ihn „Zivilisationsarbeit“. Er bezeichnete sich gern als „Anarchist mit Sinn für Ordnung“, hatte seinen eigenen Kopf – und einen echt Allgäuer Schädel. Als junger Journalist der „Augsburger Allgemeinen“ hatte ich das Glück, ihm zu begegnen. Es wurde eine Freundschaft, und er mein Mentor. Heute bin ich älter als es ihm zu werden vergönnt war. Jetzt am 13. Mai wäre Otl Aicher Hundert geworden. Ein gerade im Prestel Verlag erschienenes großformatiges Buch, das gestalterisch durchaus vor seinem kritischen Auge Bestand haben könnte, würdigt Leben und Werk, gibt aus vielen Perspektiven Auskunft über die Person. Die Herausgeber Winfried Nerdinger und Wilhelm Vossenkuhl haben ebenso wie der Verlag richtig gute Arbeit geleistet.

Otl Aicher gilt als einer der wichtigsten Gestalter des 20. Jahrhunderts. Er prägte den Begriff der „visuellen Kommunikation“, ihr Ziel: die Lesbarkeit der Welt. 1967, mit 45 Jahren also, wurde er zum Gestaltungsbeauftragten der Olympischen Spiele 1972 in München ernannt, gab dafür interimsmäßig die über alles geliebte Selbständigkeit auf, entwickelte das Corporate Design der zweiten Olympiade auf deutschem Boden, nach den Hitler-Spielen, und gab damit dem Deutschland der Nachkriegszeit ein neues, international verkehrsfähiges Gesicht. (Siehe auch das bei DVA erschienene Buch „München 72. Ein deutscher Sommer“ von Markus Brauckmann und Gregor Schöllgen, Besprechung hier neben an in „nonfiction, kurz“.)

Sein Gestaltungsanspruch für Olympia war umfassend, von den Programmheften, Plakaten und Parkscheinen bis zu Fahnen und den Uniformen der Ordnungskräfte. Besonders prägend: Otls Piktogramme für die einzelnen Sportarten – eine damals sensationell neue visuelle Sprache, heute als Icons in zig-tausendfacher Form unser Alltag. Aichers Orientierungssystem begleitet uns weltweit als Wegweiser ganz selbstverständlich durch den Alltag, sei es zum An- und Abflug auf Flughäfen, zur U-Bahn- oder zu den Notausgängen.

BWM, Braun, Bulthaup, Erco („Licht statt Leuchten“), Lufthansa, Airbus, die Metro in Bilbao, der Klinkenhersteller FSB (was man unglaublich Wesentliches über Türklinken denken und sagen kann) oder der Flughafen München ließen sich ihr Erscheinungsbild von ihm und seiner Entwicklungsgruppe gestalten. Gegen Ende seines Schaffens entwickelte er sogar eine eigene Schrift, nannte sie nach seinem Wohnort rotis. Beim Küchenhersteller Bulthaup ist sie bis heute im Gebrauch und das Evangelische Gesangbuch (1994) der Landeskirchen Bayern, Württemberg, Mitteldeutschland und Mecklenburg-Vorpommern ist in der Rotis gesetzt. All dies entworfen und geleitet mit der Maxime „Konzentration und Reduktion auf das Wesentliche“. Er sagte immer: „Ich lerne im Machen.“ Zu seiner Beerdigung kam wie selbstverständlich auch der Stararchitekt Norman Forster ins schwäbische Allgäu angeflogen. Ich weiß noch, was vorne im Kondolenzbuch stand: „Er eröffnete neue Wege und ermutigte uns, unseren eigenen zu finden.“

Doch kurzes Rewind: Meine Zeitung hatte mich für ein Interview zu ihm geschickt, es muss 1975 gewesen sein. Rotis liegt südwestlich von Memmingen, zwischen Legau und Leutkirch, im Landkreis Ravensburg, ein kleiner Weiler, die Kreisstraße dorthin ordentlich kurvig. Ich weiß noch, wie der Anblick der Atelierhäuser mich flashte. Auf einer großen, halb von einem Wald umschlossenen Wiese standen in einer vorgebirglichen Auenlandschaft drei japanisch anmutende dunkle Bauten auf Stelzen, die Dächer wie ein überdimensionierter Kamm. Himmelwärts gerichtete Riesenzacken, große Fenster, nach Norden ausgerichtet, für blendungsfreies Tageslicht. (Erst wieder in Christchurch, Neuseeland, Erdbeben-Country, habe ich solche Architektur gesehen, dort nennen sie es „industrial“. Tatsächlich kommt die Bauweise aus dem Fabrikbau, aber das wusste ich damals nicht.) 

Otl Aicher empfing mich, würdig wie ein Abt, asketisch, musternde Augen, bot aber sogleich einen selbstgebrannten Obstler an. „Den muasch probiera.“ Wir sprachen den gleichen Dialekt, vielleicht war es das, was half oder Nähe brachte. Sein Vorname jedenfalls war mir nicht das Fremdeste. „Drr Ottl“ odr drr Ferdl odr drr Wendl, drr Falle odr drr Sepp, so nennt man halt im Allgäu die Ottos, Ferdinands, Wendelins, Valentins und Josefs.

Wir kamen schnell aufs Politische. Ich wusste, dass er die Leute von der „Weißen Rose“gekannt hatte und mit der Schwester von Sophie Scholl verheiratet war. Weil er sich weigerte, in die Hitlerjugend zu gehen, war er sogar eingesperrt gewesen, durfte nicht an der Abiturprüfung teilnehmen. Das Angebot einer Offizierslaufbahn verweigerte er, brachte sich eine Verletzung an der linken Hand bei, wurde trotzdem eingezogen und an die Ostfront geschickt. Desertierte. Was damals absolut lebensgefährlich war. Versteckte sich auf einem Bauernhof im Schwarzwald. Seine Erzählung „innenseiten des kriegs“ (S. Fischer, 1985) ist autobiographisch geprägt. Im Sommer 1945 notierte er: „Ein neues Land betreten wir. Ein schöneres Land. Wohl ein zerbomtes, ein verheertes, ein leidendes Land, aber ein schönes. Um dieses Glück, Ruinen zu haben, wird uns einmal die Welt beneiden, denn unter den Ruinen ist das Alte begraben…“ Zusammen mit seiner Frau gründete er 1946 die Volkshochschule Ulm, entwarf über die Jahre an die 700 Plakate, war ein entschiedener Wiederbewaffnungs- und Aufrüstungsgegner. „Mein Denken ist Andenken gegen Hitler“, sagte er. Wir redeten bei unserer ersten Begegnung über Nazis, die Bundeswehr, Vietnam, Franz Josef Strauß, die Hatz auf Baader-Meinhof. Irgendwann hatte er ein Lächeln im Gesicht. „Das wird die Zeitung doch nie bringen…“

Nun ja, das Interview wurde jedenfalls so, dass ich ihm wieder unter die Augen treten konnte. Und wir sahen uns dann noch oft die nächsten Jahre, bis ich Ende der Siebziger nach Frankfurt zog. Fünfzehn Jahre später begegnete ich ihm wieder, erneut intensiv. Und zwar seinen Jüngern. Denen in der Lufthansa Design Abteilung. Sie waren alle durch seine Schule gegangen. Fünf Jahre lang machte ich jedes Jahr ein üppig illustriertes Buch mit ihnen, gestalterisch gab es dabei nie Kompromisse. Immer galt eiseskühle Genauigkeit. Jede Zwischenspalte und Schriftgröße und Schrift exakt definiert. 1700 Mal kontrolliert. Und alles so, dass der Aufwand nicht zu sehen war. Nur die Klarheit.

Schon beim ersten Treffen hatte Otl mir von Wilhelm von Ockham (1285-1349) erzählt, über den er dann Mitte der 80er auch eine Ausstellung gestaltete. Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem (Wesenheiten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden), so fasste Ockham das Prinzip seines sogenannten Rasiermessers zusammen, bekannt auch als das Prinzip der Parsimonie oder als Sparsamkeitsprinzip, vom Zeichentheoretiker Umberto Eco in „Der Name der Rose“ verewigt, im Film von Sean Connery verkörpert. Grundsätzlich fordert Ockhams Rasiermesserprinzip, wenn vor die Wahl zwischen mehreren unterschiedlich komplexen Hypothesen gestellt, sich für die Prüfung der einfachsten zu entscheiden. Denn die einfachste Hypothese sei schlicht immer die wahrscheinlichste. 

„Wir entwerfen, weil wir suchen, nicht weil wir wissen“, lautete ein Credo von Otl. Ein anderes: „Die Tugend der Wissenschaft ist die Neugierde, nicht das Wissen.“ Für ihn war klar: „der designer ist eine art moralist. Er wertet. seine tätigkeit besteht aus wertungen.“ (Die radikale Kleinschreibung eine von Otls Querköpfereien.) Entwerfen war für ihn eine Frage der Moral. Gleichzeitig betonte er immer: „Design ist Kunst der zweiten Potenz. Man muss die Ästhetik mit Zweckerfüllung multiplizieren.“

Der radikale Grafiker und Gestalter, der zusammen mit Max Bill die Ulmer Hochschule für Gestaltung (HfG) gründete, die als erste private Hochschule der Bundesrepublik im August 1953 den Lehrbetrieb aufnahm, von Spöttern „Kloster zum rechten Winkel“ genannt, liebte die Wüste als Denklandschaft, zog sich gerne dorthin zurück. „Ist mein Jungbrunnen“, sagte er immer. Der westdeutschen Gesellschaft fühlte er sich eher fern, ließ sich auch von der Industrie nie kaufen.

Die Sahara, die Gobi, die Namib, das Einfache, das brachte er mir im Erzählen und mit den Fahnen seines Buches „gehen in der wüste“ (S. Fischer, 1982) nah. Er war eine asketische Erscheinung, vielleicht sogar so etwas wie ein Zen-Meister. Er schrieb stets ohne Großbuchstaben: „in die wüste zu gehen ist in den hochkulturen ein akt der reinigung, selbstvermessung, der verhaltensdisziplin und der schärfung des denkens. jede zivilisation vernachlässigt den körper. wir leben wie tiere, die nie aus dem stall herauskommen.“ Der Umschlagtext des A4-großen Buches hält sich knapp: „Vor Jahren musste ich einmal ein Stück Wüste durchqueren, das kann einen für sein ganzes Leben fesseln. Ich habe damals den schönsten Ort der Erde gefunden, den ich kenne, mitten in der Wüste, so fing es an. Die Faszination ist geblieben.“

Er war ein „Denker am Objekt“. So betitelten Peter und Angelika Schubert 1991 ihren Film über ihn (Teaser siehe unten). Die Premiere beim DOK.Fest.München erlebte er noch. Am 1. September 1991 aber erlag er den schweren Kopfverletzungen durch einen Unfall. Ein Motorrad hatte ihn erfasst, als er auf seiner Wiese im Allgäu mit dem Traktor rückwärts über die kleine Straße fuhr, die sein vier Hektar großes Anwesen durchschnitt. Er wurde 69 Jahre alt. Aber wir haben ihn noch. Er bleibt.

Alf Mayer

Winfried Nerdinger, Wilhelm Vossenkuhl (Hg.): Otl Aicher. Designer. Typograf. Denker. Prestel Verlag, München 2022. Prachtband mit 250 Abbildungen, 256 Seiten, Format 24,0 x 28,7 cm, 49 Euro.

PS. Dem Handwerksohn Otl Aicher war immer klar, dass im Allgäu einst der Bauernkrieg am heftigsten getobt hatte. Auf seiner Wiese in Rotis stand ein Pflug mit der Jahreszahl 1525. Die Reichsabtei und die Basilika im nahen Ottobeuren galten ihm als Symbol des Sieges von Adel und Klerus über die Aufständischen, nicht mal für ein Konzert mit Keith Jarrett wollte er im September 1976 mit mir dort hin. Es zog ihn stattdessen oft nach Isny. Dort war er kreativ und mit Feuereifer dabei, das Kulturverständnis dieser Kleinstadt über Design zu stärken. Ohne festgeschriebenen Auftrag entwickelte er – suchend, forschend, bodenständig – zwischen 1977 und 1985 ein eigenes Erscheinungsbild für Isny, ganz in Schwarz und Weiß. 136 Bildzeichen wurden es, die das Stadtbild, Natur, Sport und Alltagskultur umkreisen – ein Fundus an visuellen Zeichen zur Anwendung in diversen Formaten und Produkten, der bis heute in Gebrauch ist. Der städtische Auftritt in den „Nichtfarben“ Schwarz und Weiß, reduziert und fast quadratisch war kantig und avantgardistisch, völlig konträr zur gängigen Tourismuswerbung dieser Zeit. In der Außenwahrnehmung gilt die Stadt seitdem als mutig. „Der Himmel über Isny ist nicht blau, sondern schwarz oder weiß. Aber blau ist er auch. Und grün und gelb und rot. Die zügellose Fantasie öffnet Tür und Tor. Das Sehfeld wird vergrößert und verschärft. Der Mangel macht rege.” (Büro Aicher, 1977) Isny lohnt sich im Aicher-Jahr 2022, die Stadt ist immer noch stolz auf ihn, und das von ihm entworfene Erscheinungsbild kein Staubkorn veraltet.

Bücher, die mir immer noch wichtig sind: „das Allgäu (bei Isny)“, 1981, „Die Küche zum Kochen“ (1982), „gehen in der wüste“ (1982), „Kritik am Auto – Schwierige Verteidigung des Autos gegen seine Anbeter“ (1984), „innenseiten des kriegs“ (1985), „Wilhelm von Ockham. Das Risiko modern zu denken“ (1986), „typographie“ (1988).
„die augen sind hungrig, doch oft schon vor dem sehen satt“ nannte sich 1997 der vom Ulmer Museum und HfG-Archiv herausgegebene Katalog zu seinem 75. Geburtstag.

www.otlaicher.de
Im Internet entsteht unter der Adresse www.otlaicher.de eine zentrale Online-Plattform zu Leben und Werk Otl Aichers. Initiiert haben das Projekt des Internationalen Design Zentrums Berlin (IDZ) der Aicher-Sohn Florian und der Berliner Designer Kai Gehrmann. Förderer sind die Kulturstiftung des Bunds sowie die von Otl Aicher geprägten Firmen FSB und Erco. 

Otl Aicher & Isny Allgäu
Ausstellung und Veranstaltungen, Mai bis Oktober 2022. Herzstück ist das aichermagazin im Kurpark Isny, rund um die Uhr frei zugänglich, Veranstaltungen von Mai bis Oktober. Schon der Online-Besuch des Isny-Shops ist ein Erlebnis.

Otl Aicher 100 Jahre 100 Plakate
Mit der Ausstellung „Otl Aicher 100 Jahre 100 Plakate“ würdigt das HfG-Archiv / Museum Ulm den Gestalter, der am 13. Mai 1922 in Ulm-Söflingen geboren wurde.
HfG-Archiv / Museum Ulm, Am Hochsträss 8, 89081 Ulm
Wann: Noch bis 08. Januar 2023
www.museumulm.de

Otl Aicher: Widerstand und Protest – Symbole, Gesten, Signale
12. November 2022 bis 16. April 2023 im Museum Ulm

»piktogramm | schrift | logo«
Otl-Aicher-Ausstellung im Lippischen Landesmuseum Detmold, 18. Mai bis 18. August 2022
www.otlaicher2022.de

Nicht nur, aber auch um Otl Aicher geht es in der Ausstellung »Design für Olympia« der Neuen Sammlung | The Design Museum in der Pinakothek der Moderne, München; 8. Juli bis 3. Oktober 2022.
www.dnstdm.de

bereits stattgefunden:
Aicher 100 Festival 
Drei Festtage zum Geburtstag mit Beiträgen von Zeitzeugen, Kollegen, Fans und Freunden (Streams, Panels und Veranstaltungen) – 13., 14., 15. Mai 2022, Pavillon 333 vor der Pinakothek der Moderne, München
www.aicher100.de

Von Otl Aicher entworfen – ich liebe diesen schlichten Aktenbock, den man wie ein geduldiges Maultier mit sehr viel Papier behängen kann © Wiki-Commons

Tags : , , , , , , ,