Geschrieben am 1. Mai 2019 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2019

non fiction, kurz – Mai 2019

Sachbücher, kurz und bündig

Je weniger Utopien wir haben, desto mehr taucht der Blick in die Vergangenheit. Kaum ein Genre hat eine solche Explosion von Formen und Vielfalt erlebt wie die ehrwürdigen Geschichts- und Kulturwissenschaften. Sekundärliteratur ist für alle am Krimigenre Interessierten unerlässlich, wenn man nicht nur konsumieren will. Alf Mayer (AM) und Thomas Wörtche (TW) sind auf einem kleinen Streifzug im SekLit-Revier unterwegs – mit Kurzbesprechungen von:

Peter Demetz: Diktatoren im Kino. Lenin, Mussolini, Hitler, Goebbels, Stalin
Miriam Gebhardt: Wir Kinder der Gewalt. Wie Frauen und Familien bis heute unter den Folgen der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende leiden
Masha Gessen: Vergessen. Stalins Gulag in Putins Russland
Klaus Gietinger: Blaue Junge mit roten Fahnen. Die Volksmarinedivision 1918/19
Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955
Herbert Kapfer: 1919. Fiktion
Gabriel Kuhn (Hg.): Wobblies. Politik und Geschichte der IWW
Jean Lopez, Nicolas Aubin, Vincent Bernard: Den Zweiten Weltkrieg verstehen. 1939 – 1945 in Infografiken
Ignaz Miller: 1918. Der Weg zum Frieden. Europa und das Ende des Ersten Weltkriegs
Shigeru Mizuki: Auf in den Heldentod!
Shigeru Mizuki: Hitler
Niklaus Nuspliger: Europa zwischen Populisten-Diktatur und Bürokraten-Herrschaft
Agnès Poirier: An den Ufern der Seine. Die magischen Jahre von Paris 1940 – 1950
Andrew Roberts: Feuersturm. Eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs
. Schuldt: Hamburgische Schule des Lebens und der Arbeit

Wahlaufruf, sozusagen

(AM) Das Buch zur Europawahl – und eines der ersten von NZZ Libro unter neuem Verlagsdach. Ein konstruktiver Freundschaftsdienst also von einem Nachbarn, nämlich aus der Schweiz. Der Autor (Jahrgang 1980) ist fast so alt wie das Europäische Parlament, das 1979 in Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Dänemark, Irland und Großbritannien zum ersten Mal direkt gewählt wurde. Es war die erste internationale Wahl der Weltgeschichte und eine Wegmarke für die Demokratie in Europa, damals im Mai vor 40 Jahren. In Jubiläumsstimmung aber ist jedoch niemand. Warum das so ist, beschreibt Niklaus Nuspliger, seit 2013 politischer Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in Brüssel, in seinem schlanken Buch Europa zwischen Populisten-Diktatur und Bürokraten-Herrschaft in zehn Kapiteln. Seine Bestandsaufnahme unterfüttert er mit Anschauung von konkreten Schauplätzen: Amsterdam, Koblenz, Budapest, Barcelona, Dieppe, Reykjavik , Straßburg, Brüssel und viel Blick über den Tellerrand. Populismus, Angriffe auf den Rechtsstaat, Politikverdrossenheit, Fake News, Online-Manipulationen, anti-demokratische Tendenzen, Bürokratisierung, Technokratie, EU-Skepsis und Austrittsgelüste sind seine Stichworte der Multikrise. Er schreibt unaufgeregt, kompakt und informativ, nach vorne weisend. Das auch haptisch patente Buch schließt mit zehn Diskussionsthesen zur Erneuerung der Demokratie in Europa.

Geschichte wird auch an den Wahlurnen gemacht. In Gefahr sieht Nuspliger gerade die liberale Demokratie. Und er erinnert: Von 63 Prozent im Jahr 1979 ist die EU-Stimmbeteiligung auf gerade noch 42,6 Prozent im Jahr 2014 zurückgegangen.

  • Niklaus Nuspliger: Europa zwischen Populisten-Diktatur und Bürokraten-Herrschaft. NZZ Libro/ Verlagshaus Schwabe, Basel 2019. Klappenbroschur, 200 Seiten, 18,30 Euro.

„Vergessen war die Utopie der Stunde“

(AM) Da haben sich Autor, Thema und Verlag gefunden. Was für ein mustergültiges Buch, lesbar von der ersten bis zur letzten Zeile, aufregend und anschaulich. Wolfszeit von Harald Jähner wurde völlig zu Recht mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse 2019 ausgezeichnet; noch schöner ist, dass es im April, keine acht Wochen nach Erscheinen, bereits in die vierte Auflage ging, Tendenz steigend. Diesem Buch wünscht man Leser, und es gehört in die Schulen. Andere Verlage lernen vielleicht außerdem davon, wie man Illustrationen in einem dicken Sachbuch nicht stiefmütterlich irgendwohin quetschen muss, sondern zu einer den Buchgenuss aufwertenden Sache machen kann. 
Als jemand, der sich über Jahre mit einem Exil-Heimkehrer der ersten Stunde unterhalten konnte –mit Karl Anders, dem „Krähen“-Buch-Verleger (Porträt in CrimeMag hier) –hat mich immer schon gefuchst, wie wenig publizistisch bearbeitet die Zeit von 1945 bis 1949 doch geblieben ist. Auch Harald Jähner konstatiert, dass „insbesondere die ersten vier Nachkriegsjahre einen relativ blinden Fleck in der historischen Erinnerung darstellen“. Er sieht sie als „eine Art Niemandszeit, für die, lax gesagt, niemand so recht zuständig ist“. Die Jahre zwischen Kriegsende und der Währungsreform, dem ökonomischen „Urknall“ der Bundesrepublik, seien für die Geschichtsschreibung, meint Jähner, eine verlorene Zeit, weil ihnen das institutionelle Subjekt fehle. Geschichtsschreibung sei eben im Wesentlichen als Nationalgeschichte strukturiert, die den Staat als politisches Subjekt in den Mittelpunkt stellt. „Verantwortlich für die deutschen Geschicke ab 1945 waren aber gleich vier politische Zentren: Washington, Moskau, London, Paris – keine artgerechten Bedingungen für eine Nationalgeschichte.“
Über die Hälfte der Menschen in Deutschland, so macht Jähner schon im Vorwort klar, „waren nach dem Krieg nicht dort, wo sie hingehörten oder hinwollten, darunter neun Millionen Ausgebombte und Evakuierte, vierzehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, zehn Millionen entlassene Zwangsarbeiter und Häftlinge, Abermillionen nach und nach zurückkehrende Kriegsgefangene. Wie sich dieses Gemenge von Versprengten, Verschleppten, Entkommenen und Übriggebliebenen entflocht und neuzusammenfand und wie aus Volksgenossen allmählich wieder Bürger wurden“, davon handle sein Buch.
Unaufgeregt, durchweg anschaulich und markant geschrieben (etwa: „Man klaute Sinn, wie man Kartoffeln klaute“), zeichnet der ehemalige Feuilletonchef der „Berliner Zeitung“eine differenzierte Mentalitätsgeschichte der Nachkriegszeit nach, zeigt die Deutschen in ihrer ganzen Vielfalt, hört auch ihr Lachen. Gleich schon macht er klar: Der Holocaust spielte im Bewusstsein der meisten Deutschen eine schockierend geringe Rolle. „Der Überlebenstrieb schaltete Schuldgefühle ab – ein kollektives Phänomen… Das Vergessen war die Utopie der Stunde.“
Zehn facettenreiche Kapitel führen durch eine Zeit und ein Land im Wandel: von Stunde Null und Enttrümmerung, Wanderbewegungen, Verschweigen und Zusammenrücken, Tanzwut und Liebe, Rauben/ Rationieren/ Schwarzhandeln als Lektionen für die Marktwirtschaft, re-education und die Generation Käfer, Kaltem Krieg, viel Verdrängung und dem Design der Demokratie. Klassischer Jähner-Satz dazu: „Der Nierentisch war das dekorative Symbol entnazifizierten Wohnens“ (S. 365). Währen dieser Satz noch nachhallt, zeigt die nächste Seite beim Umblättern das ganzseitige Bild eines Nierentisch mit schwenkbarer Tischplatte mit darunterliegendem Plattenspieler und Radio.

Auch wenn Fachhistoriker nicht unbedingt Neues entdecken, ist dies ein exzellentes Buch über die chaotische Welt nach 1945, mit viel Blick in den Alltag. Wer die heutigen Zeiten für kompliziert hält, Verteilungskämpfe oder zu viel Flüchtlinge beklagt, kann erfahren, wie nachgerade paradiesisch es heute gegenüber den kompliziert-komplexen und armseligen Verhältnissen und den ungeheuren Wanderbewegungen der Nachkriegszeit zugeht. 

  • Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955. Rowohlt Berlin, Berlin 2019. Hardcover, durchgängig schwarzweiß illustriert, 480 Seiten, 26 Euro.

Vermintes Gelände

(AM) Das Szenario „Fremder, womöglich dunkelhäutiger Mann vergewaltigt deutsche Frau in dunkler Gasse“, mit dem heute die AfD so leicht Stimmen fangen geht, hat sich schon gleich nach dem Krieg tief im deutschen Kollektivbewusstsein eingenistet. Miriam Gebhardt macht das gegen Ende ihrer Studie Wir Kinder der Gewalt. Wie Frauen und Familien bis heute unter den Folgen der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende leiden klar. Sie weiß: „Krieg verdunkelt das Leben der Menschen – nicht nur ein Menschenleben lag, sondern über Generationen hinweg.“ Manche Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs, so ihre Erfahrung als Historikerin, könnten erst heute beleuchtet werden, weil Schuld und Leiden damals so eng verknüpft waren, dass kaum ein Blick darauf möglich war. Heute, wo die Generation der „Kriegskinder“ (Gebhardt bevorzugt „Kinder der Gewalt“) in ein Alter gekommen ist, wo Bilanz gezogen wird, sei das eher möglich. Für ihr Buch, den Nachfolgeband des tabubrechenden „Als die Soldaten kamen“, breitet sie fünf Lebensgeschichten aus, die von vier Frauen und einem Mann. Jedes Kapitel schließt mit einem allgemeinen Teil, der über das individuelle Schicksal hinaus Strukturelles beleuchtet, von Erziehung, Sexualmoral, Missbrauch, Sprachlosigkeit und Tabuisierung bis kollektiven Angstzuständen.

Der verlorene Krieg bestrafte, schreibt sie, „Millionen mit dem Verlust ihrer Heimat. Er erzwang ein Ausmaß an Mobilität, dass heutige Flüchtlingszahlen daran verblassen.“ Kinder damals lebten im buchstäblichen und übertragenen Sinn auf vermintem Gelände. Sie bekamen das rücksichtslose Verhalten der Erwachsenen beim Überlebenskampf mit, die allgemeine und die sexualisierte Gewalttätigkeit. Frauen wurden als mögliche Träger von Geschlechtskrankheiten herabgewürdigt, der sexuelle Umgang etwa von deutschen Soldaten mit Zivilistinnen in der Kriegszeit wurde auf ein Gesundheitsproblem reduziert, die sexuelle Kriegsgewalt nicht thematisiert. Zivilgesellschaft wie Besatzungsarmeen waren stattdessen besessen vom Thema Geschlechtskrankheiten, so ließen sich auch die Nazi-Themen „Volksgesundheit“ und „Reinhaltung des Volkes“ weiter lebendig halten.

In das Buch flossen – neben aller historischen Recherche – die Erzählungen von Dutzenden von Menschen ein, die sich erst in den letzten Jahren bei der Autorin gemeldet hatten, weil sie in der einen oder anderen Art von der Massenvergewaltigung in Deutschland nach dem Kriegsende betroffen waren. Miriam Gebhardt schätzt, dass solche direkte Gewalt damals mindestens 860 000 Menschen erfahren haben, betroffen waren aber viel mehr: die Familien, die Nachkommen, Nachbarn und sonstigen Mitwisser, Ärzte und Pfarrer, Behörden. Die sexualisierte Kriegsgewalt zeitigte letztlich Auswirkungen auf die ganze Nachkriegsgesellschaft, macht das Buch klar.

  • Miriam Gebhardt: Wir Kinder der Gewalt. Wie Frauen und Familien bis heute unter den Folgen der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende leiden. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 302 Seiten, 24 Euro.

Den Zweiten Weltkrieg angucken

(TW) Es fällt (mir wenigstens) immer schwerer, einzuschätzen, was „man weiß“ und was nicht. Insofern ist es schon eine blendende Idee, ein so hochkomplexes Gebilde wie den Zweiten  Weltkrieg  sozusagen auf seine Essentials zu reduzieren – mithilfe von Infografiken und ohne allzu ausufernde Texte. Die französischen Militärhistoriker Lopez, Aubin und Bernard haben zusammen mit dem Grafiker Guillerat versucht, die komplexen Zusammenhänge in Grafiken zu sortieren und möglichst griffig aufzuarbeiten, ohne allzu schlimme Reduktionismen zu riskieren. Das macht das Buch für beide Benutzergruppen sinnvoll: Für Leute, die keine oder wenig Ahnung haben. Die müssen sich nicht durch Berge von Literatur lesen, die meistens, bevor sie selbst zu ihren Interpretationen kommen, die Fakten endlos rekapitulieren. Für Leute, die sich in der Zeit auskennen, wiederum ist es sinnvoll, Common Sense-Thesen und populärmediale Mythen mit Fakten, die ansonsten dürr und langweilig daherkommen, gegenzuchecken.  Nur ein Beispiel: Die „Luftschlacht um England“ (1940): Die Abschuss- und Ersatzzahlen zeigen deutlich, dass die RAF niemals wirklich vor der Ausrottung stand, die deutsche Führung aber so ziemlich alle Statistiken missinterpretiert hat. Oder Kommando- und Befehlsstrukturen: Hier zeigen die Grafiken deutlich, wie überlegen letztendlich die westalliierten, demokratischen Prozesse der Entscheidungsfindung (bei allen Fehlern und Reibereien) den beiden totalitären Varianten überlegen waren.
Andrew Roberts, dessen brillanter Klassiker Feuersturm (von 2009) nach zehn Jahren endlich auch bei uns erschienen ist, brauchte 896 Seiten dichte Prosa, um nachzuweisen, dass die Nazis den Krieg verloren haben, eben weil sie Nazis waren. Die Grafiken von Lopez et al. bringen solche Diskussionen zunächst mal auf den Punkt, was ja nicht ausschließt, dass man nicht mehr zu vertiefenden Lektüren greifen soll.

Die Grafiken – Tortendiagramme, Karten, Flussdiagramme und alles, was kluges Kommunikationsdesign sonst noch zu bieten hat – sind auf den ersten Blick leicht verständlich, auf den zweiten Blick leicht verwirrend, weil manchmal die klassischen taktischen Zeichen durch phantasievolle Symbole ersetzt werden, die man aber auf den dritten Blick wieder gut versteht, wenn man, wie manchmal nötig, gute Augen oder eine gute Lupe hat.

Auf jeden Fall – so kann man das machen. Intelligente, auf den Kern heruntergekochte Information, sogar mit ästhetischem Eigenwert.

  • Jean Lopez, Nicolas Aubin, Vincent Bernard, Nicolas Guillerat: Den Zweiten Weltkrieg verstehen. 1939 – 1955 in Infografiken (Infographie de la Seconde Guerre Mondiale, 2019). Deutsch von Martin Bayer. dtv, München 2019. 187 Seiten, Großformat, 30 Euro.

Ergänzend: Andrew Roberts: Feuersturm. Eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs. (The Storm of War. A New History of the Second World War, 2009). Dt. von Werner Roller. C.H. Beck, München 2019. 896 Seiten, 39,50 Euro.

Große Leinwand

(AM) Manche Bücher schreiben sich über eine kürzere Zeit, andere sind das Ergebnis eines reichen Lebens und Studierens und brauchen viele Jahre. Peter Demetz, Jahrgang 1922, der sich selbst, höflich untertreibend eher als Literaturlehrer sieht, liefert solch ein in vieler Hinsicht pralles, dabei im Hauptteil nur 210 Seiten schlankes Werk mit Diktatoren im Kino. Lenin, Mussolini, Hitler, Goebbels, Stalin. Im Vorwort beschreibt er seine Kino-Kindheit in Brünn, der Hauptstadt Mährens, wo es 38 Filmtheater gab. Ilse Aichingers Kinonotizen gaben ihm ebenso Anschub wie eine 1992 vom Regisseur Renzo Renzi herausgegebene Anthologie über „Il cinema dei dittatori: Mussolini, Stalin, Hitler“, in dem Mussolinis Sohn Vittorio ausgiebig über die Kinoleidenschaft seines Vaters Auskunft gab.

„Ich dachte mir, dass die Auswahl dreier historischer Figuren nicht genüge, und dass gerade das Vielfache eine einheitliche Perspektive als wünschenswert herausfordert. Die Diktatoren und ihre Dienstleute, auf einer Bühne agierend und aus einem einzigen Blickwinkel gesehen – nur so war es möglich, Kontraste zu betonnen und sachliche Unterschiede zu konstatieren.“ Gesagt, getan. Und so wurde daraus ein von viel Einsicht und Einblick gesättigtes Filmbuch, wie es eben nicht so schnell aus dem Ärmel geschüttelt geht. Viele kleine Porträts zeigen die Mit- und Gegenspieler der fünf Diktatoren in Sachen Filmkunst und Volkserziehung. Auch so kann man Geschichte beschreiben, und was in ihr Geschmack war. Hitler etwa erkannte sich in der Hauptfigur seines Lieblingsfilms „Pancho Villa“ wieder – als Volkstribun. Goebbels freilich fand den Film zu gefährlich, um ihn für die Kinos freigeben zu können.

  • Peter Demetz: Diktatoren im Kino. Lenin, Mussolini, Hitler, Goebbels, Stalin. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2019. 256 Seiten, 24 Euro.

 Auf dem Boden der Jahrhunderte

(AM) Am Anfang steht eine Schande. Jedes Mal schämt Schuldt sich für Hamburg, wenn er durch die „Hafencity“ kommt. Selbst in Neuwied oder den Orten der Weinstraße habe die Abhängigkeit vom Tourismus nicht zu einer Shanghaiallee, einer Singapur-, Yokohama- oder Hongkongstraße, Osakaalle oder zu Magellan-Terrassen geführt. Wohl aber in seiner Heimatstadt mit ihren Globalisierungsattrappen. Es folgt ein Petition an den Senat, „Flure und Straßen nach dem zu benennen, was sie waren oder was dort war, wo sie waren“. Angehängt sind zehn Seiten Namensvorschläge: Fern der Tide, Tauwerksrott, Gischtpier, Einstwasser, Dünnland, Luvblick, Trockenhude, Störtebeckers Ende, Statt Geleisen, Harte Hieve, Teepackerei, Fernwehsand und andere solchen Kalibers. 

Auf der größeren Hälfte des Buches folgt dann eine Hamburgische Schule des Lebens und der Arbeit, in alphabetischer Reihenfolge anhand einiger tatsächlicher Straßennahmen skizziert. Eine kulturhistorische Zeitmaschine tut sich auf, ein Bilderhagel, eine Welt aus verlorengegangenen, hochspezialisierten Berufen und Werkzeugen, rätselhaft gewordenen Wörtern und Lebensformen. Hafenkultur. Pralles Leben. Eine Arbeitswelt auf dem Boden der Jahrhunderte, Vergnügungen inklusive. Kneipen, Chansonettentitten, Kakerlaken-Wettessen. Man reibt sich die Augen bei diesen meisterhaften Miniaturen. Das Buch ist rundum eine Freude, auch in seiner Haptik. Schuldt selbst hat es gestaltet, Antje Haack den Satz besorgt. Berenberg ist eine Verlagsadresse, die gut einen Eintrag in diesem wunderbaren Musterbuch verdient hätte, läge sie in Hamburg. So kommt dieses Buch eben aus Berlin – von einem meiner Lieblingsverlage.

  • Schuldt: Hamburgische Schule des Lebens und der Arbeit. Berenberg Verlag, Berlin 2019. 136 Seiten, Halbleinen, fadengeheftet, 25 Euro.

Paris!

(TW) Es gibt immer wieder Zeiten, in denen sich Talent, Kreativität, Experiment und intellektueller, politischer und gesellschaftlicher Fortschritt an einem Ort bündeln: das Weimar von Goethe und Schiller, Wittgensteins Wien, das Berlin der 1920er Jahre. Und eben das Paris der 1940er und 1950er Jahre, Rive Gauche. Auch die Besatzungsjahre 1940 – 1944 gehören zu dieser mythischen Zeit, in denen klandestin das gedacht und gelebt wurde, was dann ab August 1944 explosionsartig hervorbrach und die europäisch/westliche Geisteslandschaft bis heute beeinflusst. Und dessen Konflikte auch in unseren Tagen immer noch oder schon wieder schwären. 

Agnès Poiriers An den Ufern der Seine erzählt extrem unterhaltsam, oft heiter beschwingt von diesen Zeiten – von Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Samuel Beckett, Arthur Koestler, Juliette Gréco, Pablo Picasso, Miles Davis, Édith Thomas, Janet Flanner und vielen anderen großen und kleineren Namen der Zeit. Es geht um das Ausprobieren wenig bürgerlicher Lebensformen, um die Neudefinition der Geschlechterverhältnisse, um künstlerische, sexuelle und intellektuelle Freiheit, die sich sowohl in der Lebenspraxis als auch in den Büchern, Gemälden, Filmen und jeder Art von Kunst niederschlugen. Das Buch ist vollgepackt mit Anekdoten, Geschichten von Exzessen, Suff und Genialität, ein gewaltiges Wer-war-mit-wem-in-der-Kiste (so ziemlich alle mit allen), von Kühnheit und Innovation, von Konventionsbrüchen, ideologischen Schlachten, Jazz (& Crime à la Boris Vian) und savoir vivre. Und natürlich auch von Opportunismen, Lavieren und Taktieren, von Herzschmerz und Verzweiflung. 

Aber keine Sorge – Poirier liefert kein Yellow-Press-Panorama der Zeit, das ist alles sehr klug und kenntnisreich notiert und elegant beschrieben. Es ist allerdings in der Tat keine tiefenscharfe Analyse des Verhältnisses von Existentialismus und Marxismus (beispielsweise) oder anderer geistesgeschichtlicher Konstellationen. Glücklicherweise nicht. Durch die unendlichen Facetten von Kontexten, die Poirier aufruft, wird sehr deutlich sichtbar, wie die Suche nach dem berühmten „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus (der nach dem Wegfall der Klammer „Antifaschismus“ seine nackte, stalinistische Fratze zeigte) ungeheure intellektuelle Produktivkräfte freisetzte, auf allen Ebenen der menschlichen Existenz. Und wie dieser Drang nach Freiheit unter ideologischen Beschuss geriet, wobei gerade die hedonistisch-libertären Lebensformen der Protagonistinnen und Protagonisten die moralisch verbrämten Angriffsflächen ideologisch-politischer Angriffe von allen Seiten boten. Und genau an dieser Stelle ist Poiriers Buch brandaktuell. Der kleinbürgerlich-piefige Hass gegen alles „Andere“ (egal, ob Lebensformen oder Kunstwerke, die vom angeblichen common sense abgelehnt werden) kommt zurück. Vermutlich ist deshalb auch die von Poirier heraufbeschworene Zeit wenn auch keine Utopie, aber ein Panorama dessen, was dringend erhaltens- und verteidigenswert erscheint. 

Natürlich, auch dieser intellektuelle locus amoenus war nach ein paar Jahre Geschichte, verkommen zur Touristenattraktion und schicker Kulisse. Aber der Esprit lebt. Und Poiriers Buch feiert ihn.

  •  Agnès Poirier: An den Ufern der Seine. Die magischen Jahre von Paris 1940 – 1950 (Left Bank. Art, Passion and the Rebirth of Paris 1940 – 1950, 2018). Aus dem Englischen von Monika Köpfer. Klett-Cotta, Stuttgart   2018. 506 Seiten, 25 Euro.

Hörbuch auch noch, bitte

(AM) „Mader seufzte. Hyänen saßen in der Heimat und saugten am Mark des Volkes.“ Blurbs von Alexander Kluge und Elfriede Jelinek auf dem Buchumschlag, Verbindung zu Karl Krausens ganz aus Zeitungszitaten montierten „Die letzten Tage der Menschheit“ über den Ersten Weltkrieg inklusive, bekommt Herbert Kapfer für 1919. Fiktion. Anders als Kraus aber oder Kempowski mit seinen Realien im „Echolot“ (Heeresberichte, Tagebuchauszüge, Nachrichtentexte) montiert Kapfer sein Buch bis auf ein paar Zeilen Heiner Müller ganz und gar aus zerschnittener und neu zusammengesetzter Fiktion der Jahre 1919 bis 1938, Belletristik also, dazu Auszüge aus einem Lustspiel, Zeitungskommentare sowie Glossen aus einer Zeitschrift namens „Bücherwurm“. Knappe 50 Wörter, alles Überschriften, fügte er selber ein, alles andere ist Samplermaterial. Orthographie, Interpunktion und Grammatik wurden unverändert beibehalten. Auslassungen, Umstellungen, auch innerhalb einzelner Sätze, nicht gekennzeichnet.

Erfahrung, große Erfahrung hat Kapfer mit dieser Methode. Er hat Musils „Mann ohne Eigenschaften“ als Remix veranstaltet, seit 1980 Hörspiele, Theaterstücke und literarische Collagen publiziert, war Dramaturg in der Hörspielabteilung des Bayerischen Rundfunks, leitete elf Jahre lang die Abteilung Hörspiel und Medienkunst, hat den Dadaisten Richard Huelsenbeck herausgegeben (der durch den Roman von Christian Y. Schmidt wieder etwas präsenter geworden ist, CulturMag dazu hier), hat die Reihe „intermedium records“ gegründet und das Webprojekt „Die Quellen sprechen“ koordiniert. Gemeinsam mit Lisbet Exner zitierte er für die Bücher „1914“ und „1915-1918“ aus über 240 verschiedenen Tagebüchern. So wie Peter Przygodda, der bedeutendste (Film)Schnittmeister der Nachkriegszeit sich von keinem exzessiven Drehverhältniss etwa von Wim Wenders in die Knie zwingen ließ (Normalfall 8:1), so findet auch Kampfer in jedem Materialberg Rhythmus und Struktur. Sein Hörspiel von 1991, „Harte Schnitte, ungezähmte Worte, Stimmen hört jeder“, ist ihm sozusagen Programm.

In fünf Teile und 128 Kapitel gegliedert, erzählt das Buch vom ersten Nachkriegsjahr in Deutschland: Matrosenaufstand 1918 in Kiel, Arbeiter- und Soldatenräte im Deutschen Reich, Räterepublik in Bayern, Ermordung Kurt Eisners, Rosa Luxemburg und Karl Liebknechts, andere Morde. Die Dadaisten Hugo Ball und Richard Huelsenbeck kommentieren und erzählen, Oskar Maria Graf, Ernst Toller, Erich Mühsam, der Freikorpskämpfer Karl-Matthias Buschbecker, der Reaktionär Ernst von Salomon ebenso wie der anarchistische Räuberhauptmann Max Hoelz. Und immer wieder der„Bücherwurm“. Von diesem Buch möchte ich unbedingt auch die Hörversion haben.

  • Herbert Kapfer: 1919. Fiktion. Verlag Antje Kunstmann, München 2019. 424 Seiten, Hardcover, 25 Euro.

Wer hat uns verraten… ?

(AM) Es ist eine Geschichte ohne Happy End, doch nicht ohne Hoffnung, meint ihr Autor. Klaus Gietinger erzählt in Blaue Junge mit roten Fahnen. Die Volksmarinedivision 1918/19 von einem kurzen und heftigen, blutigen und verdrängten Kapitel jüngerer deutscher Geschichte. Er musste dafür tief in die Archive. Im Westen Deutschlands ist nie ein Buch über die Matrosen in Berlin geschrieben worden, in der DDR waren nur zwei, 1957 und 1988, also gut 60 und 30 Jahre her. Das von 1957 fand Gietinger vor 30 Jahren per Fernleihe, es stammte aus einer Bundeswehrbücherei und trug einen roten Aufkleber: „Achtung! Kommunistenbuch!“

Die Volksmarinedivision war eine bewaffnete Formation der Novemberrevolution in Deutschland, der „Volksmarinerat von Groß Berlin und Vororten“ stellte sie auf Vorschlag des Obermaats Paul Wieczorek am 11. November 1918 auf. Die Revolutionären Matrosen der ehemaligen Kaiserlichen Marine sollten die neue Regierung der Volksbeauftragten schützen und dem neuen Polizeipräsidenten als bewaffnete Ordnungsmacht zur Verfügung stehen. Vier Monate später war alles zu Scherben, nach offiziellen Angaben waren 1200 Menschen, darunter auch Frauen und Kinder erschossen, gegenüber 70 toten Regierungssoldaten während der Märzkämpfe in Berlin. Es war das Gründungsmassaker der Weimarer Republik und der Ursprung der geflügelten Frage: „Wer hat uns verraten …“ Hier erfahren wir die blutigen Einzelheiten. Die SPD macht dabei keine gute Figur.

„Wer hat uns betrogen?“, diese Frage eines Matrosen an Friedrich Ebert am 23. Dezember 1918 stellt Klaus Gietinger seinem Buch voran, das den Toten und ihrer Idee Ehre und Erinnerung zu erweisen sucht. Die Matrosen wurden hintergangen, verleumdet und verfolgt. Sie waren keine Bolschewisten, doch sie ließen sich spalten, so wie die SPD gespalten war. Schließlich wurden die Blaujacken mit den roten Bändchen gejagt und ermordet. „Dabei standen führende Sozialdemokraten nicht nur Schmiere, sondern erließen die Mordbefehle“, sagt Gietinger. Ein Verzeichnis der wichtigsten Person und umfangreiche Quellenangaben sind hilfreich. Gietinger, Autor eines Dutzends Sachbücher, gelernter Soziologe, erfahrener Dokumentarist, Tatort- und TV-Autor, außerdem als Co-Autor des Allgäufilms „Daheim sterben die Leut“ zu rühmen, erzählt schnörkellos, ohne Mätzchen und Effekte. Die Volksmarinedivision war für ihn „die einzig wirklich demokratische Truppe in der Geschichte Deutschlands“.

  • Klaus Gietinger: Blaue Jungs mit roten Fahnen. Die Volksmarinedivision 1918/19. Unrast Verlag, Münster 2019. 304 Seiten, Softcover, mit zahlreichen historischen Abbildungen, 18 Euro.

Ende mit Demokratie

(AM) „Von einem Krieg weiß man immer nur, wie er anfängt“, meinte Charles de Gaulle einmal, steigt der Zürcher Journalist und Historiker Ignaz Miller in seine Untersuchung 1918. Der Weg zum Frieden. Europa und das Ende des Ersten Weltkriegs ein. Diesem Weltkonflikt hatte er sich 2014 bereits schon einmal angenähert: „Mit vollem Risiko in den Krieg: Deutschland 1914 und 1918 zwischen Selbstüberschätzung und Realitätsverweigerung“ hieß das Buch. Jetzt konzentriert er sich darauf, das Ende des Großen Kriegs zu erklären. Die Hauptthese in seinem nicht nur äußerlich schwergewichtigen Buch lautet: Das parlamentarisch-demokratische System, wie es zum Beispiel damals Frankreich und England kannten, war dem Kaiserreich in dieser Krisenzeit überlegen. Der britische Premiere David Lloyd George und der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau seien absolut zentral für den Friedensschluss gewesen, „beide reine Erzeugnisse des in Deutschland damals verachteten parlamentarischen Systems … Der Krieg fing militärisch an und hörte politisch auf.“

Deutschland war – das belegte Miller bereits 2014 – als Opfer seiner eigenen Propaganda in den Krieg gezogen, und als solches beendete es auch den Krieg, entwickelt der Autor überzeugend und detailreich. Das Angebot der Alliierten zum ersehnten Waffenstillstand ersparte dem Reich die Kapitulation. Keine vier Wochen später begrüßte der nachmalige Reichspräsident Friedrich Ebert die paradierenden Truppen mit den Worten „Unbesiegt im Felde!“, trug damit zur Dolchstoßlegende bei.  Einer seiner Hinweise gilt ausdrücklich den „demokratischen Leistungen der ‚Roten Marine’“, ein Kapitel, das Klaus Gietinger nebenan in diesen Histoy-Chops bearbeitet hat.

Ein Anliegen Millers, der von sozusagen neutralem Boden aus argumentiert, ist es, verschiedene seit 1918 aufgebaute und noch heute zirkulierende Mythen zu dekonstruieren. Etwa die vom angeblichen schlimmen Versailler Friedensvertrag, die sich noch bis Hans Magnus Enzenberger und seinem „Hammerstein oder der Eigensinn“ hält. „Dass der Friedensvertrag auch ein Chance war, wollte Deutschland nicht wahrhaben“, – will es in Teilen bis heute nicht.

  • Ignaz Miller: 1918. Der Weg zum Frieden. Europa und das Ende des Ersten Weltkriegs. NZZ Libro/ Schwabe Verlagsgruppe, Basel 2018. 464 Seiten, 9 Abbildungen, 39 Euro.

Ein Hobo zieht umher

(AM) Auf über 600 Titel in gut 30 Jahren kann der aus der Neuen Sozialen Bewegung der 80er Jahre entstandene Unrast Verlag aus Münster zurückschauen. Aktuell dort: Klaus Gietingers Studie zur Volksmarinedivision, aber auch Wobblies. Politik und Geschichte der IWW. Das kompakte kleine rote Buch, von Daniel Kuhn als 28. Band der Reihe Klassiker der Sozialrevolte herausgegeben, gibt einen Einblick in die Ursprünge und Geschichte der Industrial Workers of the World (IWW), eine der legendärsten Kampforganisationen der Arbeiterklasse. 1905 in den USA gegründet, hatte die IWW bald Sektionen auf fünf Kontinenten. Die Wobblies, wie man die Mitglieder der Organisation nannte – angeblich auf einen chinesischen Restaurantbesitzer zurückgehend, der mit Doppel-W Probleme hatte -, sind untrennbar mit der Geschichte des revolutionären Syndikalismus verbunden. Sie vereinen das Prinzip der Arbeiterselbstverwaltung mit direkter Aktion und dem Ziel einer klassenlosen Gesellscha­ft. In ihrer Prinzipienerklärung verpflichten sie sich „den Kapitalismus zu zerstören“ – was unter anderem in „Blutige Ernte“ Dashiell Hammetts (halbfiktiven) Continental Op in „Blutige Ernte“auf den Plan rief (Details dazu hier) und auch Sterling Haydens Mammut-Roman „Voyage“.
Der erstaunlich gehaltvolle kleine rote Band hat ein kluges Vorwort von Gabriel Kuhn. Die Wobblies waren umherziehende Hobos, Klassenkämpfer und Künstler, wie etwa der Barde Joe Hill. Sie machten auch die Rede zur Kunst, trugen „Free-Speech-Kämpfe“ aus. Ein Hobo war weder ein Landstreicher, ein tramp, noch ein Penner, ein bum. „Der Hobo zieht umher und arbeitet; der tramp zieht umher und träumt; der bum zieht umher und säuft.“
Erstmals übersetzt, bietet der mit Henry McGuckins „The Memoirs of a Wobbly“ eine anschauliche Beschreibung des Wanderlebens. Es gibt die Prinzipienerklärung von 1904, einen Text des Arbeiteranführers Vincent St. John von 1917, dazu historische Dokumente und Abbildungen und auch Liedtexte aus dem Little Red Songbook. 

  • Gabriel Kuhn (Hg.): Wobblies. Politik und Geschichte der IWW. Klassiker der Sozialrevolte Band 28. Unrast Verlag, Münster 2019. 152 Seiten, Softcover, 13 Euro.

„Es gab keine Unbeteiligten“

 (AM) Masha Gessen, gerade mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet, ist wie der Fotograf Misha Friedman in der Sowjetunion geboren. Beide sind sie Exilanten, beide waren sie oft zurück in Russland, reiben sich an ihnen verlorengegangen Heimat. Ihr Vergessen. Stalins Gulag in Putins Russland ist die Summe vieler Interviews, Reisen und Recherchen, kunstvoll verdichtet. Den über 50 extrem breiten, ja oft doppelseitigen Schwarzweiß-Fotos lässt das querformatige Hardcover Platz zum Atmen. „Kirkus Reviews“ fand, dass das Buch in jedes Regal neben Solschenizyns „Der Archipel Gulag“ gehöre.
In der Tat ist es ein gelungener Versuch, sich ästhetisch angemessen der ambivalenten russischen Erinnerungskultur an den Gulag – eine der größten Tötungsmaschinen des 20.  Jahrhunderts – zu nähern. „Der Gulag ist nirgendwo. Aber er warüberall.“ Das Wort ist eine Abkürzung und steht für  Glawnoje uprawlenije isprawitelno-trudowych lagerej i kolonij, sinngemäß „Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien“, also für das Netz von Straf- und Arbeitslagern in der Sowjetunion, für die Gesamtheit des sowjetischen Zwangsarbeitssystems. Auch in Putins Reich existieren solche Straflager weiter (siehe etwa die CrimeMag-Besprechung von Michail Chodorkowskis „Meine Mitgefangenen“). Gessen und Friedman reisen durchs Land, sprechen mit Überlebenden, mit Menschenrechtlern, Revisionisten und Reaktionären, sie rekonstruieren Schicksale, suchen zum Beispiel nach immer noch verschollenen Raoul Wallenberg.

Zunächst der Geheimpolizei GPU zugeordnet, waren 1930 bis 1953 in den Lagern mindestens 18 Millionen Menschen inhaftiert. Rund  30 Millionen Menschen hatten in der Sowjetunion Zwangsarbeit zu verrichten. „Die Gewalt des Staatsterrors haben die Russen gegen sich selbst ausgeübt… Die Millionen anonymer Toten des Gulags waren nicht zwangsläufig Angehörige einer ethnischen oder religiösen Minderheit oder Homosexuelle. Die Insassen der Lager entsprachen im Großen und Ganzen der Bevölkerung des Landes, die meisten Häftlinge waren also Russen, die ganz normale Leben geführt hatten, ehe man sie willkürlich als „Volksfeinde“ etikettierte. Die Russen konnten keine andere Nation für ihren Alptraum verantwortlich machen … In Russland waren die meisten sowohl Opfer als auch Täter. Es gab keine Unbeteiligten.“

  • Masha Gessen: Vergessen. Stalins Gulag in Putins Russland (Never Remember. Searching for Stalin’s Gulag in Putin’s Russia, 2018). Mit Fotos von Misha Friedman. Aus dem Englischen von Sven Koch. dtv, München 2019. Hardcover, Querformat, 160 Seiten, 25 Euro.

Zwei Klassiker

(AM) Was kann die Graphic Novel? Nach diesen zwei Bänden muss man es wieder einmal deutlich sagen: Alles, einfach wirklich alles. Mit Hitler und Auf in den Heldentod! von Shigeru Mizuki erweckt der avanciert operierende Verlag Reprodukt zwei Manga-Klassiker zum (deutschen) Leben. Die Bände stammen aus den Jahren 1971 und 1973, sind Meilensteine der Antikriegskunst – und sie rücken uns einen hierzulande nahezu unbekannten Manga-Großmeister in den Fokus: Shigeru Mizuki (1922 bis 2015) starb im Alter von 93 an den Folgen eines Sturzes, eigentlich hätte er schon als zwanzigjähriger Soldat tot sein müssen. Der Linkshänder verlor damals im Dschungelkrieg auf Papua-Neuguinea seinen linken Arm. Er wurde ein Künstler, der die Schrecken des Krieges hautnah miterlebt hatte. Seine Karriere verbrachte er damit, sich all jenen entgegenzustellen, die den Krieg verherrlichten. 

Sein größter Erfolg waren die zwischen 1959 und 1969 erschienenen Geschichten um einen Monsterjungen namens Kitarō, Superhelden-Stories der etwas anderen Art, mit denen die klassischen japanischen Erzählungen und ihre mythologischen Wesen in die moderne Welt befördert wurden. Die daraus entstandene populäre Schwarzweiß-Anime-Fernsehserie brachte es 1968/69 auf 65 Folgen, immer wieder wurde das Manga danach als Anime, Videospiel und Realfilm adaptiert. Mizuki beschäftigte sich oft mit Yōkai (Monstern und Geistern), zeichnete Lexika über Dämonen, Hexen und andere Wesen aus der Sagenkultur. 

Sein „Auf in den Heldentod!“ jedoch beruht „zu 90 Prozent auf Tatsachen“, wie er angab, er beschreibt darin, basierend auf eigenen Erlebnissen, die Schreckenserlebnisse japanischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg auf der südpazifischen Insel Neubritannien. Zwei fallende Bomben sind das erste Bild dieses Comics, tatsächlich gibt Splitterwirkung genug. Wenn er Geschichten über den Krieg erzähle, packe ihn eine unbändige Wut, sagte Mizuki. Und er frage sich dann oft, ob das die Wut der Geister seiner gefallenen Kameraden sei. Die einfachen Soldaten hätten im Wertesystem noch unter den Pferden rangiert; dass es in diesen Selbstmordkommandos Überlebende gab, deute er nicht als Feigheit, sondern als menschlichen Widerstand gegen solch ein System.

Einen endlosen Trümmerhaufen sieht, wer Mizukis Charakterstudie „Hitler“ aufschlägt, natürlich ist dies das Ende der uns allen bekannten Geschichte. Die beiden Mizuki-Bände sind in japanischer Leserichtung veröffentlicht, in Japan wird von hinten nach vorn und von rechts oben nach links unten gelesen. Mit vielerlei produktiven Irritationen zeichnet Shigeru Mizuki Hitlers Werdegang bis zu seinem Selbstmord 1945 nach. Mizuki: „Mein Schicksal wäre ein anderes gewesen. Mein Leben wäre nicht im Krieg ruiniert worden, und ohne Hitler hätte ich immer noch meinen linken Arm. Wie also könnte ich nicht an ihm interessiert sein, und an der Frage, was für ein Mensch er wirklich war?“

Shigeru Mizuki: Hitler. Aus dem Japanischen von Jens Ossa. Lettering von Michael Möller, Font: Kevin Huizenga. Mit einem Vorwort von Jens Balzer. Reprodukt, Berlin 2019. Klappenbroschur, 288 Seiten, schwarzweiß, Format 14,8 × 21 cm, 18 Euro.

Shigeru Mizuki: Auf in den Heldentod! (Sōin Gyokusai Seyo!, 1973). Aus dem Japanischen von Jens Ossa. Lettering von Michael Möller, Font: Kevin Huizenga. Nachwort von Noriyuki Adachi. Reprodukt, Berlin 2019. Klappenbroschur, 384 Seiten, schwarzweiß, Format 14,8 × 21 cm, 20 Euro. 

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