Geschrieben am 1. Juni 2019 von für Crimemag, CrimeMAg Juni 2019

Kurzgeschichte von Robert Rescue (11)

Ostern vor mehr als vierzig Jahren 

Mein Bruder hat mir eine Message geschickt: „Dieses Ostern ist so wunderschön wie das Ostern vor etwas mehr als vierzig Jahren, als ich versucht habe, dich (versehentlich) im Mühlbach zu ertränken. Oh Gott, ist das so lange her.“

Meine Güte, was ist denn mit dem los? Steht er gerade an einem warmen Ostersonntag auf der Terrasse seines Hauses, sinniert über das Leben und die Vergangenheit und alles, was ihm einfällt, ist das? Woher weiß er das so genau? Das mit Ostern? Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass es passiert ist und weiß die Stelle. Aber mein Bruder ist quasi der Archivar unserer Familie. Wenn ich ihn mal spreche, dann erzählt er mir Anekdoten von früher. Nicht so wie der nervige Angehörige, der bei Familienfesten immer das gleiche erzählt. Jedes Mal Dinge, die ich nie gewusst habe und die mich meist schockieren. Zum Beispiel, das die Firma drei neue Leute einstellen musste, um das Arbeitspensum zu schaffen, an dem mein Vater sich totgearbeitet hat. Oder die Geschichte von dem Nazi-Opa, der nach dem Krieg Alkoholiker wurde und sich im Winter 1946 besoffen auf einen Acker legte und im Frühjahr 1947 gefunden wurde. Meine Oma weigerte sich, seine Überreste zu bestatten, also gaben die Behörden das Skelett an eine Universität weiter, wo es einen Platz im Lehrsaal für Medizinstudenten gefunden haben soll.

Und jetzt die Sache mit dem Mühlbach. Ich war vielleicht fünf Jahre alt und konnte noch nicht schwimmen. Meine Mutter stand am Ufer und wir Kinder vergnügten uns in einem Schlauchboot. Mein Bruder kam auf die glorreiche Idee, Sturm zu spielen und schwang sich von einer Seite zur anderen. Ich bilde mir ein, damals gewusst zu haben, dass das nicht gut ausgehen konnte, zumal ich ja einen gewissen Malus mitbrachte, was den Aufenthalt im Wasser anging. Der Mühlbach hat eine durchschnittliche Wassertiefe von 15 Zentimetern, aber an dieser Stelle, kurz vor der Einmündung in die Lahn, muss es wohl mehr, viel mehr gewesen sein. Das Schlauchboot kippte um und ich versank im Wasser. Dieses Bild habe ich noch genau vor mir. Alles voller Wasser, ich hatte die Augen und den Mund starr geöffnet, strampelte mit Armen und Füßen und sah Luftblasen, die nach oben stiegen. Letzte Gedanken gingen mir durch den Kopf, Gedanken an Dinge, die ich noch in meinem Leben vorhatte. Ich wollte noch die Playmobil-Burg aufbauen, freute mich auf die Spaghetti Bolognese abends und die allwöchentliche Folge von Raumschiff Enterprise vor dem Schlafengehen. Vielleicht saß am Grund eine wunderschöne Wasserhexe, eine Botin des Todes, und reichte mir die Hand. Ich streckte meine aus und wollte ihre ergreifen, als mich plötzlich etwas packte und nach oben zog. Am Ufer musste ich erstmal kotzen, Wasser kotzen.

Meinen Bruder muss das Geschehen sehr beeinflusst haben. Das zeigt sich allein daran, dass er offensichtlich noch weiß, wie das Wetter damals gewesen ist. 

Wäre ich ertrunken, dann hätte mein Bruder sein Leben lang eine Schuld mit sich herumgetragen. Er hätte sich Vorwürfe gemacht, hätte mit dem Trinken angefangen, wäre völlig abgestürzt und hätte mit 22 Jahren Suizid begangen, vielleicht an der gleichen Stelle im Mühlbach? Mag es sein, dass der Termin seit damals in einem geheimen Kalender drinsteht und er jedes Jahr eine Kerze anzündet und dem Schicksal dankt, dass es ihn verschont hat? Vielleicht hat er Tagebuch geführt? Das würde erklären, warum er sich so gut in der Familiengeschichte auskennt. Er hat bei jedem Kaffee und Kuchen und jedem Besuch bei den Tanten, Onkeln und Omas genau zugehört und wie ein Agent alles notiert, während ich gelangweilt von den alten Leuten mit dem staubigen Spielzeug ihrer längst ausgezogenen Kinder gespielt habe. Das rächt sich heute, denn er könnte Bücher über verkorkste und absurde Familienverhältnisse der Wirtschaftswunderjahre und später schreiben, während ich nur über die Brotkrumen berichten kann, die er mir gönnerhaft zukommen lässt.

Was mich allerdings verwirrt an seiner Message, ist das Wort versehentlich. In Klammern. Hätte er es weggelassen, dann wäre das ein deutlicher Hinweis darauf, dass zwischen uns, zumindest damals, etwas sehr verkorkst gewesen sein muss. Eigentlich will ich darüber nicht weiter nachdenken, aber vielleicht war das gar kein Unfall? Der genau ausgearbeitete Plan eines boshaften Elfjährigen, der es nicht ertragen konnte, dass der kleine Blondschopf von der Mutter mehr Aufmerksamkeit erhielt als er? Die tiefste Stelle im Bach, ein Schlauchboot, dessen Verhalten bei Schaukelbewegungen vorhersehbar war, ein kleiner Bruder, der nicht schwimmen konnte. Die Zutaten für einen perfekten Mord. Und meine Mutter als Mitwisserin, die ihn nicht ausschimpfte, weil er nicht auf mich aufgepasst, sondern weil er es vermasselt hatte? Rührte die allzudeutliche Erinnerung meines Bruders nicht von Schuldgefühl, sondern von Ärger über die misslungene Tat?

Ich schüttele den Kopf. Die Nachricht macht mich ganz kirre. Was gegen all diese Gedanken spricht, ist der Umstand, dass er mich aus dem Wasser gerettet hat. Ganz einfach. Und dass ich mit ihm bis heute ein gutes Verhältnis pflege. Er hat halt seinen ganz eigenen Humor, den ich bis heute nicht verstehe.

Aber hat er mich vielleicht nur aus dem Wasser gezogen, weil in dem Moment Fußgänger vorbeikamen? Mein Handy gibt einen Ton von sich. Eine Nachricht von meinem Bruder. „Das war schon irgendwie lustig“, schreibt er. 

Ja, denke ich, aus heutiger Sicht betrachtet war das wirklich irgendwie lustig.

Weiter möchte ich mich mit dem Thema nicht beschäftigen.

Ich schicke ihm ein Smiley zurück. 

Robert Rescue bei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

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