Geschrieben am 1. Juli 2020 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2020

Katja Bohnet: Als Schriftstellerin in Corona-Zeiten

Warum Sie von mir hier keine Besprechung lesen

… und Was Sie schon immer über Mütter wissen wollten, aber nicht zu fragen wagten – von Katja Bohnet.

Es gibt derzeit viele Fragen. Steigen die Infektionszahlen weiter? Nur im Prekariat der Massenfleischproduktion oder auch bald wieder hier bei mir? Wie ist diese US-amerikanische Tragikomödie überhaupt noch auszuhalten? In welchem Maße sind wir alle Rassist*innen? Buche ich Mallorca oder nicht? 

Im Meer der noch unbeantworteten Fragen möchte ich mich heute einer Randgruppe widmen, nämlich mir. Und damit der Frage: Warum lesen Sie hier von mir keine Besprechung?

Wieso Randgruppe?, fragen Sie, wenn ich doch nur eine bin. 
Sie irren, denn ich bin viele. 
Frau, Mutter, zwangsabgeordnete Lehrerin.

Bis vor Kurzem trug ich noch „Schriftstellerin“ in der Rubrik „Beruf“ ein. Aber das bin ich aktuell nicht mehr, darf es nicht sein. Wieder einmal verfügen Staat und Land über meine Arbeitskraft. Mag der Gewohnheitsfaktor sein. Dass ich neben zwei Berufen drei Kinder großziehe, mich um Wohnraum und Grünfläche kümmere, war schon immer entgeltfrei gesetzt. 

Man könnte hier schon abschweifen: Ist doch freiwillig. Egal, ob Garten, Kinder oder Haus. Nicht ganz. Wer Rente beziehen will, braucht meine Kinder. Wenn diese Gesellschaft wachsen und gedeihen will, zählt sie auf meinen Nachwuchs. Gesellschaft basiert auf Solidarität. Familie war demnach schon immer sowohl öffentlichkeitsrelevant als auch ein ganz privates Ding. Aber ich will nicht abschweifen. Eine Frage steht im Raum. Eigentlich sind es gleich mehrere:

Wollte ich jemals unterrichten? Nein.
Eigne ich mich als Pädagogin? Nein.
Eignen sich Eltern als Lehrer ihrer Kinder? Meistens nicht.
Werde ich für meine Zwangstätigkeit bezahlt? Nein.
Erhalte ich für meinen selbstlosen Einsatz eine Verbeamtung auf Lebenszeit? Nein.
Teilen Lehrer*innen ihr Gehalt mit mir, seitdem ich ihre Arbeit mache? Leider nein.

Einige von Ihnen mögen sich beschweren: Wir alle mussten in Corona-Zeiten Opfer bringen. Haben wir nicht jeden Abend für Pfleger*innen und Supermarktverkäufer*innen geklatscht, die in diesen Tagen Überstunden machten? Niemand ist bis heute für die Eltern, hauptsächlich Mütter aufgestanden, die jetzt jeden Werktag unterrichten „dürfen“.

Zu viele mögen schärfer formulieren: „Ey, Schlampe, hast die Kinder doch gewollt! Was jammerst du?“
Wer das hier „Jammern“ nennt, verkennt die nackten Tatsachen. Und überhaupt: Lesen Sie nie die Kommentare!

Abgeholzte Regenwälder

Waren die Kinder vormittags betreut, konnte ich mich wie so viele Werktätige an den Schreibtisch setzen. Ich verfasste Manuskripte, Kurzgeschichten, Essays und Besprechungen. Noch einen anderen Beruf übe ich aus, weil die Schriftstellerei allein mich nur selten vollständig finanziell getragen hat. Aufenthaltsstipendien haben nie Mütter im Fokus, interessante Arbeitsstipendien gibt es vermehrt in deutschen Großstädten und besonders überall in Österreich. 

Seit Mitte März verbringe ich meine Vormittage damit, schulische Arbeitsaufträge zu sichten und auszudrucken. Auch hier nur Rückschritt. Auf den Schreibtischen der Kinder liegt mittlerweile ein kompletter abgeholzter Regenwald. Nicht so tragisch, wir sind ja in den vergangenen Monaten weniger Auto gefahren und haben damit den CO2 Ausstoß reduziert. 

Kittel und Kopftuch

Gestern fragten mich zwei Freundinnen: „Woran arbeitest du?“
„An nichts.“
„Wie? Aber du schreibst doch an deinem nächsten Manuskript.“
„Nein. Nicht mehr.“

Ich versuche also, einen klaren Gedanken zu fassen, während ich Arbeitsblätter ausdrucke,
Fragen beantworten, 
Aufgaben erkläre,
bei technischen Problemen helfe, 
Frustrationen angesichts der Aufgabenberge bei Kindern und mir bewältige,
Stoff erkläre,
auf Fehler hinweise.

Und Schwups! sind wir wieder in den fünfziger Jahren. Ich trage Kittel und Kopftuch und bettele darum, ein eigenes Leben zu haben. 

Kleine Mengenlehre für Familien: Wenn eine/r den Löwenanteil des gemeinsamen Geldes verdient — und glauben Sie mir, das sind nur in den wenigsten Fällen die Schriftsteller*innen —, stellt sich die Frage nicht, wer die Kinder unterrichtet und wer arbeiten „darf“. Lassen Sie ein mit komplett neuen Anforderungen überfordertes Kind allein? Wohl kaum.
In den ersten Wochen stehe ich noch um fünf Uhr auf, um zwei Stunden schreiben zu können, bevor das Homeschooling beginnt. Aber auch meine Arbeit als Schriftstellerin wird erschwert. Die Buchläden sind zu. Das neue Buch säuft ab. Lesungen sind abgesagt und Honorare fallen weg. Auch die Verlage kaufen jetzt nicht haufenweise Bücher ein. Zum Rettungsfond: Betriebsausgaben retten Schriftsteller*innen und Musiker*innen nicht die Existenz.

Kurz vor dem Verlieren des Krieges

Warum Sie hier keine Besprechung von mir lesen?
Weil ich nicht schreiben kann. Verzeihen Sie, ich muss jetzt unterrichten. Ich bin die Flugzeugpionierin, die Maid auf dem noch zu beackernden Feld. Ich bin die Kriegswitwe, die kurz vor dem Verlieren des Krieges noch Munition produziert. Außerdem bin ich die billigste Lehrkraft, die das Land Hessen je besaß. Ich fungiere als verlängerter Arm der Lehrer*innen. Sie schicken Arbeitsaufträge, ich vermittele. Mir wäre es lieber, die Aufgaben würden zentral vom Ministerium an die Familien ausgegeben. Wir könnten die Schulen einfach überspringen. 

Zugegeben: Willige Helferin absurder Lehrplanvollstreckende/r zu sein macht immer unglücklich. Ich bin jetzt, wenn auch unfreiwillig, Fachfrau geworden. Wenn ich selbst Unterricht gestalten müsste, sähe dieser anders aus. Aber zu konstruktiver Gestaltung, Auseinandersetzung kommt es nicht in dieser Zeit. Zu schnell folgen in bis zu acht Fächern wieder neue Aufgaben. Ist doch prima, sagen Sie. Manche Lehrer*innen machen nichts! Zu alt, Risikopatient*in, Nebenfach … Und ich beschwere mich, dass meine Kinder Aufgaben kriegen?! Das Zauberwort heißt „Unterricht“. In Corona-Zeiten nennt man ihn „digital“. Hatten Ihre Kinder digitalen Unterricht? Sie Glückliche/r! Wir nicht. 

Gelegentlich werden wir mit seitenweise Material gleich für die kommenden zwei Wochen versorgt. Die App verkommt zum Briefkasten. Warum nicht gleich ein Paket fürs nächste Halbjahr schnüren? Die Kinder sollen sich die Arbeit selbst einteilen. Gelernt haben sie das nie. Außerdem müssen die Kinder ihre Fehler auch selbst noch korrigieren. Schon lustig, wie manche Lehrkräfte sich selbst überflüssig machen. 

Ein gutes Buch

Natürlich haben manche Eltern auch gute Erfahrungen gemacht. Lehrer*innen, die Videokonferenzen initiieren, die digitalen Unterricht tatsächlich auch zu den regulären Schulzeiten abhalten, die helfen, unterstützen und regelmäßig mit selbst gedrehten Videos Sachverhalte erklären. Die die Kinder technisch einweisen, die nach ihren Nöten und Sorgen in Corona-Zeiten fragen. Die ihre eigenen Lehrplan-Ambitionen zugunsten der Kinder zurückstellen. Die wissen, dass die Eltern, die noch Arbeit haben, auch arbeiten müssen. Die sich den schon viel zu lange an Schulen vernachlässigten digitalen Unterricht aneignen und auch vermitteln. Diese Lehrer*innen soll es geben. Irgendwo zumindest, munkelt man. 

Und natürlich sind nicht alle Kinder gleich. Gleich engagiert, gleich fit, gleich alt, gleich gut organisiert. Manche kommen super allein klar. Zu viele jedoch nicht. Was passiert eigentlich mit denen, die wir in dieser Zeit verlieren?

Darum

Ich habe übrigens seit Mitte März einige Bücher gelesen. Und damit meine ich keine Schulbücher, sondern Romane. Das lasse ich mich von Staat und Schule nicht nehmen. Aber darüber zu schreiben, das müssen jetzt andere machen. Die, die es sich leisten können, Schriftstellerin oder Kritikerin zu sein. 

Erinnern Sie sich noch, was im April 2020 nach den Kontaktbeschränkungen am Besten funktionierte, wenn Sie zu Hause „eingeschlossen“ waren? Ein gutes Buch. 

Ich habe ein paar davon geschrieben. Niemand hat für mich und meine Kollegen und Kolleginnen geklatscht. Wir produzieren das kulturelle Wasser, das immer aus der Leitung kommt. Wasser ist für alle da. Es soll möglichst nichts kosten. Genau daran leidet unsere Gesellschaft. Genauer gesagt die Schreibenden, also wir. Denn ich bin nicht nur eine, wir sind viele. Während der nächsten Infektionswelle können Sie vielleicht nur noch zu Shakespeare oder Goethe greifen, weil Schriftstellerinnen dann immer noch unentgeltlich unterrichten müssen. Ist noch gar nicht lange her, da galt es als gegeben, dass nur die Werke alter, weißer Männer in den Buchregalen stehen.

Funfakt zum Schluss: Normalerweise stellen die Schulen das Arbeiten drei Wochen vor den Sommerferien ein. Die Noten sind vergeben, und aufreiben kann man sich auch anderswo. Raten Sie mal, was vor Kurzem über Teams auf den Schreibtisch geflattert kam? Haufenweise Aufgaben für die letzten beiden Schulwochen.

Kein Thema. Wir Mütter machen das.

Von Katja Bohnet gibt es derzeit aktuell im Buchhandel „Fallen und Sterben“, den vierten Fall für das Duo Lopez & Saizew, sowie als Hazel Frost den Thriller „Last Shot“. Ihre Texte bei CrimeMag hier.
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