Geschrieben am 1. Februar 2023 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2023

Joachim Feldmann zu Wilhelm Genazinos Notizen

Zuschauen, während man sich selber hinterherfliegt

Joachim Feldmann über Wilhelm Genazinos Aufzeichnungen 1972 – 2018 „Der Traum des Beobachters“

Frankfurt 1972: Im Augustheft der satirischen Monatszeitschrift „pardon“ wird Literaturgeschichte geschrieben. Ein Autor, so heißt es in dem Artikel von Redakteur Bernd Rosema, wolle „einen Roman im Auftrag seiner Leser“ verfassen. Für nur zehn Mark könne man sich ein Exemplar eines bereits konzipierten „historischen Romans aus dem Jahre 1972“, der in der Frankfurter Kulturszene spiele, sichern. Das Buch werde „Die Vollidioten“ heißen, und das bezeichne mitnichten die Romanfiguren, sondern sei eine Anspielung auf Dostojewski, dessen humoristisches Potenzial der Autor erst jüngst in einem Artikel für die Frankfurter Rundschau gewürdigt habe.

Der „knapp kalkulierte“ Zehner war allerdings damals, als die Zwanzigerschachtel Roth-Händle keine zwei Mark kostete, kein Schnäppchenpreis. Es wundert also nicht, dass statt der erhofften 2.000 Subskribenten nur etwa 300 Literaturinteressierte das Geld überwiesen. Der Autor, Eckhard Henscheid sein Name, brachte das Buch trotzdem heraus. Der Rest ist Legende. 1978 nahm sich der Versand 2001, betrieben von dem ehemaligen „pardon“-Mitarbeiter Lutz Reinecke (später Kroth), des Romans an und machte ihn zum Bestseller. Bis Henscheid von der Literaturkritik als ernstzunehmender Autor wahrgenommen wurde, sollte es allerdings noch dauern. Aber das ist eine andere Geschichte.

Unter den 300 Bestellern der Erstausgabe von „Die Vollidioten“ befand sich auch ein weiterer „pardon“-Mitarbeiter, der seit einem halben Jahr notgedrungen als „freier Schriftsteller“ firmierende Wilhelm Genazino. In einem Leserbrief, abgedruckt in der nächsten „pardon“-Ausgabe, erklärte der notorisch klamme Autor vollmundig, in den nächsten Tagen gleich „knallhart DM 20,-„ auf das „Roman-Konto“ zu überweisen, damit jeder ersehen könne, dass er „gleich zwei Exemplare dieses Werkes (…) absahnen“ wolle. „Jetzt kann ich nur noch hoffen“, heißt es weiter, „dass Henscheid romanmäßig durchhält und recht viele Leser wissen, was sie zu tun haben“.

Was die Redaktion zu der Annahme veranlasste, Genazino habe den Brief nur verfasst, weil er „auf günstige Erwähnung seiner Person in den ‚Vollidioten‘“ hoffe. Und tatsächlich taucht im Roman ein Herr Domingo („nicht zu verwechseln mit dem hervorragenden italienischen Tenor“) auf, der in der Zeichnung F. K. Waechters auf der gegenüberliegenden Seite unschwer als Wilhelm Genazino zu erkennen ist. Und die Charakterisierung durch den Erzähler ist durchaus schmeichelhaft: „Aber vielmehr ist Herr Wilhelm Domingo ein stämmiger, ruhiger und sachlicher Mann aus Baden, der überhaupt nicht singt, sondern sich darauf spezialisiert hat, von seiner Wohnung aus das treibende Straßenleben zu beobachten. Jedesmal, wenn ein gelber oder grüner Lieferwagen eilig um die Ecke kurvt, so daß die Reifen quietschen, muß Herr Domingo lachen. Offenbar kann er ganz gut davon leben.“ (Die Vollidioten. S. 54f.)

In Wirklichkeit sollte es natürlich noch etliche Jahre dauern, bis Wilhelm Genazino gut von seinem Hang zur Beobachtung, nicht nur von um die Ecke kurvenden Lieferwagen, sondern von Begebenheiten jeder Art, leben konnte. 1972 galt es, von den Einkünften aus Rundfunk- und Zeitschriftenbeiträgen immerhin zwei Wohnsitze zu finanzieren und eine kleine Familie zu ernähren. Denn Genazinos Frau Ursula lebte mit Töchterchen Julia im Schwarzwald, während der 29-jährige Schriftsteller die Woche über in Frankfurt blieb. Diese Pendlerexistenz verarbeitete er viele Jahre später in dem Roman „Mittelmäßiges Heimweh“ (2007), dessen Ich-Erzähler an jedem Freitag den IC von Frankfurt Richtung Süden nimmt, um das Wochenende bei seiner Familie zu verbringen, wobei er es nach Möglichkeit vermeidet, das Ticket abstempeln zu lassen, um später den Preis erstattet zu bekommen. Dass der Protagonist, wie viele von Genazinos Figuren, unter seinem eigenen Verhalten leidet, versteht sich von selbst.

Von diesem (nicht unwichtigen) Detail abgesehen, trifft Henscheids Darstellung den Kern der Autorschaft Wilhelm Genazinos präzise, wie die Lektüre des gerade erschienenen Buches „Der Traum des Beobachters“ zeigt, in dem die Literaturwissenschaftler Jan Bürger und Friedhelm Marx Aufzeichnungen von 1972 bis 2018 zusammengestellt haben. Die letzte der abgedruckten Notizen(„Engelartig herabsegelnde Blätter“) verfasste er nur wenige Monate vor seinem Tod am 12. Dezember des Jahres, nicht ohne sie zu nummerieren und ordentlich abzuheften. Denn der gelernte Kaufmann Wilhelm Genazino war nicht nur ein genauer Beobachter seiner Umgebung, sondern auch ein gewissenhafter Buchhalter seiner schriftstellerischen Arbeit.

38 Aktenordner umfasst sein „Werktagebuch“, alle „sorgfältig mit Buchstaben und Zahlen nummeriert und datiert“. „Wie in einer Büro-Ablage“, staunen die Herausgeber, „finden sich die ältesten Aufzeichnungen jeweils am Ende und die jüngsten am Anfang der Konvolute.“ Was scheint, als hätte er bereits als junger Autor an die Archivierung seines Nachlasses gedacht, war die Basis seiner literarischen Projekte, deren ästhetisches Programm sich vielleicht am besten durch eine hintergründige Fabel veranschaulichen lässt, die der Angestellte Abschaffel, Protagonist von Genazinos gleichnamiger Romantrilogie, zu seinem Lieblingswitz erklärt:

„Drei kleine Mäuse sitzen vor ihren Löchern auf dem Feld und sind traurig. Sie schauen wortlos den Vögeln zu, die munter von Baum zu Baum schwirren. Nach einer Weile sagt die traurigste Maus: Wie schön wäre es, wenn ich ein Vogel wäre und auch so wunderbar durch die Luft fliegen könnte. Über diesen Wunsch müssen alle drei Mäuse lange nachdenken, und dabei werden sie noch trauriger. Bis schließlich die zweittraurigste Maus sagt: Es wäre natürlich schön, wenn man ein Vogel wäre und fliegen könnte. Aber noch viel schöner wäre, man könnte zwei Vögel sein, denn dann könnte man hinter sich herfliegen. Über diesen Wunsch müssen die Mäuse noch länger nachdenken, und sie werden noch trauriger dabei. Bis die dritte Maus sagt, die am allertraurigsten war: Am schönsten wäre es, wenn man drei Vögel sein könnte. Denn dann könnte man zuschauen, wie man hinter sich herfliegt.“

Biografische Nachträge:

1 Als unsere Literaturzeitschrift „Am Erker“ vor dreißig Jahren ihr fünfzehnjähriges Bestehen feierte, druckten wir Abschaffels Lieblingswitz auf der Einladungskarte ab. Natürlich mit Erlaubnis des überaus großzügigen Autors, der freundlicherweise 100 dieser Karten signierte. 

2 Kennengelernt hatten wir Wilhelm Genazino anlässlich eines Gespräches, das wir im Herbst 1989 für Am Erker Nr. 21 führten. Der Text des Interviews wurde von ihm nicht nur autorisiert, sondern auch fachmännisch redigiert. Auch der Titel „Die Hälfte der Menschheit besteht aus Sachbearbeitern“ stammt von Genazino. 

3 Wilhelm Genazinos erster Romanerfolg „Abschaffel“ (1977) stand 2011 im Mittelpunkt der Kulturaktion „Frankfurt liest ein Buch“. Drei Jahre später erhielt Eckhard Henscheids „Die Vollidioten“ diese Auszeichnung.

4 Wilhelm Genazino schrieb seit seiner frühen Jugend literarische Texte. Und er war durchaus erfolgreich. Sein Romandebüt „Laslinstraße“, später von ihm als „Jugendsünde“ deklariert, erschien 1965 im Verlag Middelhauve, der auch die ersten Bücher Heinrich Bölls herausgebracht hatte. Und schon im Januar 1962 konnte er seine kafkaeske Kurzgeschichte „Der Hauptmann“ in der trendsetzenden Jugendzeitschrift „Twen“ veröffentlichen.  

Die Texte von Joachim Feldmann bei uns hier. Seit 1977 macht er zusammen mit Michael Kofort und anderen die Literaturzeitschrift Am Erker. Zudem ist er bei so gut wie jeder Lieferung unserer Bloody Chops dabei.

Wilhelm Genazino: Der Traum des Beobachters. Aufzeichnungen 1972-2018. Hanser Verlag, München 2023. 464 Seiten, 34 Euro.

Wilhelm Genazino: Abschaffel. Roman-Trilogie. Hanser Verlag, München 2021. 574 Seiten, 25 Euro.

Eckhard Henscheid: Die Vollidioten. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1972. Mit einem neuen Nachwort des Autors. Schoeffling Verlag, Frankfurt am Main 2014. 280 Seiten, 19,95 Euro.

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