Geschrieben am 1. Juli 2023 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2023

Interview mit Friedemann Hahn zu „Matadero“

„Bilder und Szenen aus Comics und Filmen sind mir sehr wichtig, auch Gedichte und Lieder…“

Friedemann Hahn ist Maler, einer der bedeutendsten deutschen der Gegenwart. Mit „Matadero“ legt er nach „Forresta Nera“ (2018, Besprechung von Alf Mayer hier) seinen zweiten Roman vor. Rolf Barkowski hat bei einem Atelierbesuch auf Gut Falkenberg am 1. Juni 2023 ein Interview mit ihm geführt. Ein Textauszug aus „Matadero“ hier. Ein Beitrag von Hans-Dieter Huber mit Bildern einer aktuellen Friedemann-Hahn-Ausstellung in Berlin in dieser Ausgabe nebenan.

Frage: Wie viel Zeit ist vergangen von der ersten Idee, der ersten Seite bis zum Erscheinen des Romans?

Friedemann Hahn: Das ist schwer zu beantworten. Die ersten Motive tauchen schon in Texten 2007 auf. Also in einer Zeit, in der ich noch nicht an einen Roman Noir gedacht habe, aber sie haben sich gehalten und sind wichtig. 2016 kam dann, beeinflusst von Frank Göhre, die Idee auf, so etwas wie einen Kriminalroman zu schreiben. 2018 erschien „Foresta Nera“ und ist in veränderter Form voll und ganz in „Matadero“ eingeflossen. 2019 begann ich mit „Para Bellum“ als Fortsetzung von „Foresta Nera“; nachdem ich die Rechte zu „Foresta Nera“ zurückerworben hatte, baute ich die beiden Manuskripte zusammen. Anfang 2022 war das Manuskript zu „Matadero“ in seiner jetzigen Form fertig, im Oktober unterschrieb ich den Vertrag mit Luzifer-Verlag, Ende Mai 2023 ist das Buch nun erschienen.

Wie ist das Gefühl, wenn der Roman fertig vor einem auf dem Tisch liegt?

Erschöpft und zufrieden. Ein trauriger Umstand war, dass unser Hund, der schwarze Käpt’n, der ja eine wichtige Rolle im Roman inne hat, zwischenzeitlich verstorben war. In den beiden Country Songs zum Auftakt des Romans und zum Ausklang habe ich ihm ein Denkmal gesetzt. Seine Figur ist das Gewissen im Roman. Ich denke da immer an die Ballade „The Captain“ von Leonard Cohen und an Walt Whitmans Gedicht „O Captain! My Captain!“; beide sind äußerst wichtig für mich beim Schreiben, wie auch Bilder und Szenen aus Comics und Filmen sehr wichtig sind, und eben Gedichte und Lieder; sie tragen die Geschichte … ich denke da an „Les loups sont entrés dans Paris“ von Serge Reggiani und „Phoi Pha“ von Khanh Ly oder Heinrich Heines „Loreley“; das macht schon was aus, wenn du die Lieder im Kopf hast und den Text niederschreibst.

Du hast eben gesagt, Bilder aus Filmen oder Comics fließen als Motive in den Text ein. Kannst du das an einem Beispiel verdeutlichen?

Es gibt im Buch eine Stelle, die ich besonders liebe: Unzählige, sternförmige, weiße Blüten bedecken den Boden. Der Grabstein ist grob geschliffen, nach oben abgerundet. Cimetière de Saint-Vincent. Colmar besucht sein Grab. ‚Johann Meiers … 1902 – 1949’. Den Stein der Erinnerung zieren nur Name und Jahreszahl. Zwei Zeilen, gehauen in einen Klotz aus Beton. Colmar salutiert. Er hatte ihnen vieles beigebracht. Seinen Soldaten. Seinen Polizisten. Er hatte ihnen alles beigebracht. Das Gute, wie das Böse. Glaubt er an die Erlösung? An das Jüngste Gericht? „Es muss eine Erlösung geben …“, flüstert er. „Ein Gericht. Das Strafgericht.“

„Der Abschied“, 2012, Ölfarbe auf Leinwand, 200 x 140 cm

Wenn man das Bild betrachtet, das dieser Szene zugrunde liegt, kann man, wenn man Bilder lesen kann, links eine Gestalt erkennen, Schwarz mit Ocker und Rot, weißes Gesicht, schwarze, kantige Gesichtszüge, weiße Brust, die rechte Hand zum militärischen Gruß an die Stirn gelegt, den Grabstein kann man an der unteren, rechten Bildecke erkennen, ebenso weiße Blüten, das alles vor einem rosafarbenen Grund, durchzogen von schwarzen Vergitterungen und blauen und gelben scheinbar wirren Dschungelelementen. Ursprung meines Bildes „Der Abschied“ ist eine Abbildung, die ich in einem Begleitheft zu einem Video-Spiel gefunden habe; dargestellt ist die Figur des Snake in Rockstar North, Grand Theft Auto IV.

Bild versus Roman. Eine völlig andere Rezeption. Kann es dir passieren, dass du von Bildern, die du gemalt hast, nie mehr etwas hörst?

Von den meisten Bildern weiß ich, wo sie sind. Die Sammler, Käufer der Bilder sind meist Freunde, oder werden zu Freunden.

Die Rezeption findet auf einer anderen Ebene statt. Bekommst du davon etwas mit? Kritiken? Wo hast du mehr Reaktionen? Triffst du jemanden, der etwas wissen will? Ein Buch gelesen hat? Ein Bild gekauft hat? Das sind ja Unterschiede.

Wie ich schon sagte, wenn jemand Bilder von mir hat, haben wir sehr schnell Kontakt, da entstehen auch Freundschaften. Mit dem einen oder anderen, der mein Buch gelesen hat, entsteht so etwas wie ein Austausch; das kann schon interessant werden. Meistens habe ich mit Lesern keinen Kontakt.

Seit wann fühlst du dich als Autor?

Ich bin ja kein professioneller Autor. Ich bezeichne mich als Maler und Dichter. Das ist die Profession, die ich seit Anfang der siebziger Jahre betreibe, das habe ich gelernt, und das kann ich.

Okay, aber du hast ja schon vor 30, 40 Jahren geschrieben.

Ja, ich habe schon als Schüler geschrieben. Noch in den letzten Jahren der Schulzeit entdeckte ich über Texte von Bukowski, auf die mich ein Mitschüler – Thomas Schultze-Kraft – aufmerksam machte, oder über Frank O’Hara und natürlich Rolf Dieter Brinkmann, auf die mich Henning von Gierke und Hannes Hatje aufmerksam machten, dass es wohl so schwer nicht sei, zu schreiben, sich auszudrücken, und nicht ständig an Goethe oder Thomas Mann zu denken. 1969 begann ich erste Gedichte zu veröffentlichen; 1970 erschien bei Klaus Bär „Fick in Gotham City“; 1971 „Anarcho – Er kannte kein Gesetz“ … ich war also recht früh schon mit kleinen Beiträgen dabei.

Wie sieht dein Schreiballtag aus? Gibt es überhaupt so etwas?

Wenn ich im Atelier an meiner Malerei arbeite, schreibe ich nicht. Und wenn ich am Schreibtisch sitze, male ich nicht. Ich habe jetzt fast ein Jahr nicht geschrieben, also nicht an einem Roman, lediglich Kleinkram, Gedichte und Texte zur Kunst; alles Dinge, die auch wichtig sind für meine Arbeit. Diese Dinge helfen mir nachzudenken über das, was ich tue, ich vergewissere mich damit, ob es noch Sinn macht weiter zu arbeiten, und wenn ja, dann wie.

Zurzeit sitze ich an „Coup de Grâce“, die ersten 100 Seiten liegen jetzt gut ein Jahr herum, ich war im Atelier beschäftigt, das braucht seine Zeit, bis ich da richtig zum Malen reinkomme. Und mit dem Abschluss von „Matadero“ war ich erst mal erschöpft, ich bin ja kein Profischreiber. Das heißt, ich musste für einen weiteren Roman einen neuen Einstieg finden und überhaupt auch neues Interesse.

Dann ist erst mal die Energie auch raus …?

Ja, ich muss dann auftanken und auch gar nichts tun. Aber jetzt zum Schreiballtag. Wenn ich an einem längeren Text, einem Manuskript zu einem Roman arbeite, schreibe ich zu jeder Tageszeit … aber nie lange, vielleicht eine Stunde, und dann zu späterer Zeit wieder eine Stunde, aber konzentriert so lange, bis ein Stück, eine Szene, zu einem Abschluss kommt.

Übrigens halte ich es mit dem Malen auch so. Ich bin kein Langstreckenläufer.

Zu den Themen des Romans. Wie kommst du auf deine Geschichten? Hat das mit dir zu tun … und wie viel?

Ja, hat alles mit mir zu tun. Es ist meine Landschaft, die ich beschreibe. Der Wald, der Schwarzwald, der Rhein, der ewige Schnee und der Regen, der Nebel. Allerdings bin ich kein Jäger, war nie Soldat oder Polizist oder Gangster. Ich wäre ja alles gerne gewesen, doch Vater und Mutter waren sehr dagegen, und gegen alles wollte ich dann nicht opponieren. Ich habe mir die entsprechenden Kenntnisse angelesen, Erzählungen und Erfahrungen meines Vaters sind eingeflossen … die Karl May-Methode sozusagen.

Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen haben meine Eltern traumatisiert, das hat sich natürlich auf die Kinder übertragen. `41 hat ein russischer Scharfschütze meinem Vater durch den Kopf geschossen, ein deutscher Hirnforscher, der sich Köpfe von KZ-Häftlingen zur Untersuchung, oder was weiß ich alles, hat schicken lassen, hat meinem Vater sehr geholfen mit den Folgen seiner Verwundung zurecht zu kommen. Diese Zusammenhänge sind so schrecklich, so fatal. Die Frage an den Vater, wann hast du zum ersten Mal von den KZs und von den Morden, den Massakern und von der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung erfahren? Die Frage an mich, wie hätte ich mich verhalten? Hätte ich mich unter den sogenannten Kriegshelden getummelt? Hätte ich Menschen erschossen? Wäre ich mit Halsschmerzen dem Ritterkreuz hinterher gehechelt? – Wie verhältst du dich, wenn du in eine böse Zeit hineingeboren wirst? Die Frage nach der Schuld kann ich mir auch stellen, wenn ich nicht zum Täter geworden bin. Solche Fragen stellen sich immer, wenn man sich mit Geschichte befasst.

Spannend war dann für mich, wie man so etwas schreiben kann. Für mich ging das nur mit einer fiktiven Geschichte, natürlich mit dokumentarischen Einblendungen. Und nie geschrieben mit dem erhobenen Schulmeisterfinger. Aber so, dass es den Leser betroffen macht.

Was gerade in der Welt stattfindet, verleiht ja diesen Themen eine ungewollte Aktualität …

Die Aktualität drängt sich geradezu auf, was mir auch beim Schreiben bewusst war. Nicht zufällig blende ich Dokumentarisches aus dem Vietnamkrieg ein, wenn ich es gebraucht habe, um zu zeigen, was so alles an anderen Orten abläuft, auch wenn es in den zeitlichen Rahmen nicht immer genau passt (der Roman ist ja kein geschichtliches Werk) … ja, und alles ist noch schrecklicher und erdrückender und auswegloser, als es in einem Roman aufgezeigt werden kann. 

Du sagst, die Geschichte ist fiktiv, sagst aber auch, sie habe viel mit dir zu tun. Es fließt also von dir Erlebtes ein?

Die Geschichte ist erdacht, speist sich aber und setzt sich zusammen aus Realem, geschichtliche Ereignisse, der schon erwähnte Vietnamkrieg, Begebenheiten, die zwar nicht so, aber so ähnlich sich abgespielt haben, Zitate aus Literatur, so Büchners Lenz, aus der Kunst, Vincent Van Gogh, dann die genaue Beschreibung der Uniformen, des Materials, ich finde Charaktere drücken sich sehr wohl aus durch die Stoffe mit denen sie sich umgeben, oder durch die Dinge, die ihnen wichtig sind, Orden, Waffen usw. Das habe ich alles sehr genau beschrieben. In den frühen Jahren meiner Kindheit in Singen am Hohentwiel zogen wöchentlich Zigeuner mit ihren Pferdewagen am Haus meines Opas vorbei; meine Mutter beschwor uns, bleibt im Haus, die klauen kleine Kinder, ich dachte, wenn du nicht nett bist, Mama, gehe ich mit den Zigeunern.

Wie geht es jetzt weiter? Was sind die Pläne für den Sommer, den Herbst?

Im Atelier muss ich noch einiges fertig machen. Dann vor allem am Manuskript „Coup de Grâce“ weiterschreiben. Handelnde Personen sind die, die „Matadero“ überlebt haben. Ich will nicht viel verraten, wichtig sein wird ein Schauspieler, der die Orientierung verliert, der seine Filmrolle im wirklichen Leben fortsetzen will. Wie die Geschichte sich weiterentwickeln wird, weiß ich noch nicht genau; manchmal ist es auch keine Geschichte, eher eine Abfolge von Szenen, mit Worten gemalte Bilder.

Warten wir erst mal auf die Reaktionen zum neuen Roman. Vielleicht gibt es Lesungen …

Das weiß ich nicht. Da bin ich gespannt, was sich entwickelt.

Was nach einer Lesung stattfindet, ist oft viel spannender als die Lesung selbst, die Reaktionen, die Fragen die kommen.

„Matadero“ wird neben dem Bild zum Roman in Berlin an die Wand genagelt

Ich finde ja eine Ausstellung mit Lesung spannend, da hat man auch etwas zum Gucken und Zeigen, das öffnet neue Fenster. Wenn die Bilder einer Ausstellung auf den Text abgestimmt sind, ergibt sich eine enorme Breite für ein Gespräch.

Frage: Stehen Ausstellungen an? Du hast einen Termin erwähnt in Berlin.

Ja, Ende jetzt Juni in den Grzegorzki Shows mit dem Titel „Noir. UND Luna, der Mond über Sehringen. ODER Der Tod des Malers. – Fick in Gotham City. ODER Die gescheiterte Hoffnung. UND Painting & Guns.“

Letzte Frage – die Crossroads-Frage bzw. die Faust-Frage – sprich: Du stehst auf der Crossroad, um Mitternacht. Satan erscheint auf der Kreuzung und im Tausch gegen deine Seele hast du einen Wunsch frei. Seele hin, Seele her – wie sähe dieser Wunsch aus?

F.H.: Ich bin schon zu alt geworden …

Also keine Wünsche mehr?

Wünsche schon, aber den letzten großen Wunsch …? Doch. Ich würde mir eine richtig große Ausstellung wünschen, wo ich richtig zeigen kann, was ich alles gemacht habe. Eine wirkliche Retrospektive. Meine Wünsche für den Aufbau müssten berücksichtigt werden. Die Räume müssten es hergeben. Das Werk müsste in seiner ganzen Breite gezeigt werden. Man könnte durch die Räume wandeln, die Bilder und Skulpturen betrachten, meine Texte hören, alles wohl abgestimmt, von mir ausgesuchte Musik, Songs hören, die für das Entstehen der Werke entscheidend waren. Das wäre schon scharf.

R.B.: Vielen Dank! 

Anm. d. Red.: Siehe in dieser Ausgabe auch den Beitrag von Hans-Dieter Huber über die Bilder von Friedemann Hahn. Eine Ausstellung von Friedemann Hahn – „Noir. UND Luna, der Mond über Sehringen. ODER Der Tod des Malers. – Fick in Gotham City. ODER Die gescheiterte Hoffnung. UND Painting & Guns“ – ist noch bis 1. August 2023 im Projektraum Grzegorzki Shows im Berliner Stadtteil Wedding – und nun auch im Internet – zu sehen. „Der Künstler Gregor Hildebrandt betreibt das ehemalige Pförtnerhäuschen seit mehreren Jahren, ganz gezielt mit der Idee, Dinge sichtbar zu machen, die im breiten Berliner Kunstgeschehen nicht abgebildet werden… Gregor Hildebrandt, längst selbst Professor, hat diesmal seinen eigenen Professor aus der intensiven Anfangszeit seines Studiums an der Kunstakademie in Mainz eingeladen“, schreibt die Kunstzeitschrift Monopol. In der Ausstellung sind Friedemann Hahns Krimis neben seinen Gemälden an die Wand geschraubt. Konsequent. Ein paar Polaroids des Malers gibt es auch zu sehen. – Bilder davon hier in dieser Ausgabe nebenan, im Beitrag von Hans-Dieter Huber.

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