Ein Blutbad und Melancholie

Textauszug mit freundlicher Erlaubnis von Autor und Verlag:
Friedemann Hahn: Matadero. Roman Noir. Luzifer Verlag, Cyprus Ltd. 352 Seiten, 14,95 Euro.
Friedemann Hahn, Maler und Dichter, geboren 1949 nahe der Schweizer Grenze in Singen am Hohentwiel, wuchs im Schwarzwald auf. Dieser Landschaft widmete er seinen ersten Kriminalroman „Foresta Nera“ (siehe auch Schwärzer kann der Tann nicht sein, Besprechung von Alf Mayer). Nach seinem Schulabbruch 1969 versuchte Hahn sich kurzzeitig als Balletteleve, studierte dann aber Malerei in Freiburg im Breisgau, Karlsruhe und Düsseldorf. Als Maler wurde er mit den wichtigsten deutschen Kunstpreisen und Stipendien ausgezeichnet und ist berühmt für seine Filmbilder. „Matadero“ ist sein zweiter Roman, „Den toten Hunden gewidmet“.
Texte von ihm bei uns hier.
Kapitel 8
… This Is America … This Is America … Der Deutschlandfunk berichtet … Der amerikanische Präsident verkündet am4. August, um 11:37 Uhr: »Amerikaner, als Präsident und Oberster Kommandierender ist es meine Pflicht, dem amerikanischen Volk mitzuteilen, dass erneute feindselige Akte gegen Schiffe der Vereinigten Staaten auf hoher See im Golf von Tonkin mich gezwungen haben, heute den militärischen Verbänden der Vereinigten Staaten zu befehlen, diese zu beantworten. Der erste Angriff auf den Zerstörer Maddox am 2. August wurde heute von mehreren feindlichenSchiffen wiederholt, die zwei US-Zerstörer mit Torpedos angegriffen.«
John J. Herrick, Kommandant der USS Maddox, stand auf der Brücke und starrte in eine tiefe Dunkelheit … es war die Nacht des 2. August … etwas war da draußen … es war stockdunkle Nacht und verteufelt schwül … am Himmelkeine Sterne, kein Mond … seit Stunden verfolgten sie auf der USS Maddox zwei seltsame Echolotpunkte … dann meldete der Sonarmann ein drittes Echo … Turbulenzen und Torpedogeräusche …
Commander Herrick war verunsichert, wurde zusehends nervöser … am Himmel glaubte er Cockpitlichter undSuchscheinwerfer auszumachen … die junge Besatzung verfiel in Angst und Schrecken … brachte sich der Feind inStellung? … vor Tagen hatte die Südvietnamesische Marine Hòn Mè beschossen … stand heute Nacht ein Angriffnordvietnamesischer Torpedoboote bevor? … ein, zwei, drei Torpedoboote … Torpedoschnellboote der Hainan-Klasse… die USS Maddox feuert Torpedos auf einen unsichtbaren Feind …
»Wiederholte Gewalttaten gegen die Streitkräfte der Vereinigten Staaten müssen jedoch nicht nur mit wachsamer Verteidigung, sondern auch mit positiver Antwort erwidert werden. Diese Antwort wird gegeben, wenn ich heute Abendzu Ihnen spreche. Derzeit werden Luftangriffe gegen Kanonenboote und bestimmte Hilfseinrichtungen in Nordvietnam durchgeführt, die bei den feindlichen Operationen eingesetzt wurden.
Die Leistung von Kommandeuren und Besatzungen in diesem Einsatz erfolgt in der höchsten Tradition der United Navy.«
Commander John J. Herrick sendete kurz nach seinem ersten Telegramm an das Pentagon ein zweites: »VerrückteWetterphänomene, übereifrige Jungs am Sonar, Lage unklar, veranlasse weitere Überprüfung …«
Um 17.00 Uhr amerikanischer Zeit starteten die ersten Bomber vom Flugzeugträger USS Ticonderoga.
Krüger dreht an dem kleinen schwarzen Bakelit Knopf und würgt den Deutschlandfunk ab, sucht erfolglos einen anderen Nachrichtensender, dann schaltet er das Radio aus. Er ist etwas verwirrt. Jetzt bloß kein Gedudel. Musik will erjetzt nicht hören.
»Da haben wir den Salat.« Würden die Sowjets die Situation ausnützen? Die Amis sind angeschlagen. Verletzt. Zutiefst. Sie werden alle Gemeinheiten aus dem Zylinder zaubern, zu denen sie fähig sind. Das werden nicht wenige sein. Und das werden nicht die Harmlosesten sein. Keine Nadelstiche, sie werden das ganze Arsenal auffahren. Das wird für uns nicht ohne Folgen bleiben. »Das ist die größte Scheiße, die mir je in die Hose gerutscht ist. Ja, vielenDank.« Wird die BRD mobil machen? Nicht allein natürlich, aber im NATO-Verband. Und wir werden zumAufmarschgebiet. Da geht es uns wie den Japsen. Da werden wir bei lebendigem Leib gegrillt. Gratis sozusagen undimmer feste druff.
»Na dann prost, Marie!«
Krüger sitzt ab. Legt die Hände flach auf die Tischplatte. Ich lass mir nicht alles nehmen, was mir lieb ist, dafür habe ich nicht … geht es ihm durch den Kopf, da tust du, was getan werden muss, da bist du auch mal nicht zimperlich …mit deinen Methoden … auch mit deinen Gefühlen … Nein, nein …! Ich lass mir doch nicht alles kaputtmachen.
Der Rhein, ein schwerer, ruhiger Strom. Der Rhein, der ewige Rhein.
Krüger verehrt diesen Strom. Ein Kraftquell. Heiliges Wasser. Jedes Volk muss solch einen Strom haben, geht es ihm durch den Kopf, ein Strom, der es durch die Jahrhunderte führt. Das Volk muss aber auch an seine Quellen glauben, an den Lauf, muss auch an das Delta glauben, in das er sich ergießt. Der Strom … Er denkt nach und nagt an seinem Stumpen. Deutsches Schwarzwild, seine Marke. Er bläst gleichmäßige Kringel gegen das Panoramafenster. Sein Panoramafenster.
»Meine Heimat, der BGS, der Grenzschutz«, murmelt er, und er schaut den sich auflösenden, hellblauen und leicht grauen Rauchkringeln nach, wie sie sich verflüchtigen. Man muss eins werden mit seiner Umgebung, sich auflösen wie ein Rauchkringel, dann kann einem keiner was.
»Du musst nur die Augen aufmachen und beobachten«, flüsterte er in die Stille seines Office, »die Augen aufmachen, sonst nichts, alle Erklärung liegt auf der Straße.«
Diagramm … Krüger ist fasziniert von diesem Wort. Was man damit nicht alles machen kann. Skizze, eine Skizze ist starr und steif … ein Diagramm dagegen flexibel.
Sehr früh, die Dienstzeit beginnt erst in zwei Stunden, sitzt Krüger an seinem Schreibtisch vor einem weißen Blatt Papier, das er mit geheimnisvollen, vielleicht aber auch mit belanglosen Zeichen füllt. Er hat einen Plan. Der Stratege in ihm ist erwacht. Die Morgenstunde, ja, da fliegen die Gedanken. Er schreibt Namen auf das Papier und verbindet die Namen mit geraden Linien. Das Tintenblei leckt er mit feuchter Zunge zwischen spitzen Lippen an und umkreist einenNamen mit heftigen Ovalen. Auch wenn er mit diesem Namen so gar nichts zu tun hat, er die Figur hinter diesem Namen so gut wie nicht kennt; vielleicht waren sie sich auch einmal über den Weg gelaufen, damals, im großen Krieg.Aber ist es nicht häufig so, dass gerade das Unbekannte zum Schlüssel wird, mit dem man die unbeantworteten Fragenaufschließen und beantworten kann? Dann malt er ungelenk einen Rollstuhl, setzt ein Strichmännchen darauf und kreuzt das Männchen und den Rollstuhl schnell wieder aus, als das Telefon läutet. Soll er den Hörer abnehmen, in dieserfrühen Morgenstunde? Er will in seinen Überlegungen nicht gestört werden, er will aber auch wissen, wer an einem Morgen so früh zu stören wagt.
Er nimmt den Hörer mit der linken Hand ab und brummt. »Ja …? Wer?«
»Proust, Alexis«, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung, »ich ahnte, dass du als guter Deutscher schon über deinem dicken Schreibtisch schwitzt.«
»Von Schwitzen kann keine Rede sein«, Krüger fühlt sich ertappt, »aber lass hören, was …« Jetzt kaut er leichtgenervt an seinem Stumpen, zerfasert den Zigarrenkopf, lutscht und schluckt den bitteren Saft.
»Aber dicker Schreibtisch trifft es doch. Wie sagt Ihr Deutschen dazu? Gelsenkirchener Barock, ein schönes Wort füreine klobige Architektur.«
»Ein Möbel … ist ja nur ein Möbel …«
»… und was bedeutet das …? Gelsenkirchener Barock?«
»Da fragst du mich zu viel, mein Lieber … und das am frühen Morgen. Du wolltest mir aber irgendetwas mitteilen,Alexis, oder?«
»Sag mir, was du treibst, und ich sage dir, was ich weiß.«
»Ich denke an die Toten … es lässt mich nicht in Ruhe, ich kann nicht schlafen. Mit Menger fing alles an … ichbekomme es nicht zusammen … der Wald …« flüstert er, »der Wald …« So muss es gewesen sein. Die Landschaft prägt das Geschehen. Weiter sagt er nichts. Er steht angespannt hinter dem Schreibtisch und denkt nach.
»Bist du noch dran, Felix?«, will Proust wissen.
»Ich bin in Gedanken«, sagt Krüger, »die Toten quälen mich.«
»Lass die Toten ruhen, Felix. Das ist ein Rat. Sonst wirst du nicht überleben.« Proust spricht es mit einer solchenKlarheit aus, dass er selbst von seinen Worten ergriffen wird.
»Wir wissen nichts. Warum? Warum die und nicht andere … warum nicht ich? Und jetzt noch diese Flieger.«
»Flieger?«
»Ja, Flieger«, sagt Krüger, »Flugzeuge, Piloten eben … tauchen auf am Firmament und verschwinden wieder … das ist eine lange Geschichte. Ich berichte ein anderes Mal. Heute muss ich …«
»Vergiss es Felix. Sag, was tust du in so früher Stunde?«
»Habe ich etwas gesagt? Du hast gute Laune, wie ich höre … also, Alexis. Ich schreibe Namen auf ein Blatt Papier, ziehe Strecken, Verbindungslinien, kleine Zeichnungen …«
»Felix, du fertigst ein Diagramm an. Das ist eine nützliche Beschäftigung. Kleine Zeichnungen?«
»Ein Rollstuhl mit einem Männchen drauf.«
»Felix, das Schicksal ist ungerecht … wir wissen das … streich das Männchen durch. Nenne seinen Namen nicht.Der arme Hund ist so gut wie tot. Und die anderen Namen will ich auch nicht wissen. Wie sagt ihr Deutschen doch …?Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.«
»Habe sie schon durchgekreuzt. Irgendwann, vielleicht in zwei Stunden schon, wird das Männchen hier herumsitzen,am Eingang und macht den Portier.«
»Eine ehrenvolle Aufgabe und ein gewichtiger Name für eine leidige Position.«
»Diagramm klingt ja wohl nicht weniger gewichtig. Aber jetzt bist du an der Reihe. Was weißt du, was ich nicht weiß? Warum störst du mich?«
»Habe ich dich gestört, Felix?«
»Man stört immer, Alexis.«
»Wir müssen uns sehen, Felix, dann spricht es sich leichter.«
»Ja, natürlich … und sehr bald.« Krüger wirft den Hörer auf die Gabel. Telefonieren macht heute keinen Spaß. Ermuss sich etwas einfallen lassen. Gedankenverloren schreibt er sechs Buchstaben auf ein neues Blatt Papier: ein R, einA, ein M, ein L, ein O, ein C … und ohne zu verstehen, was er da tut, und ohne zu bemerken, dass er es tat, liest er vonhinten nach vorne: COLMAR. Er schiebt das Blatt beiseite und steht auf. Er tanzt rüber vor sein Panoramafenster, wiegt sich hin und her, vor und zurück und beginnt eine Melodie zu summen.
… ich weiß nicht, was soll das bedeuten … die Luft ist kühl und es dunkelt und ruhig fließt der Rhein …
»Alter, deutscher Strom«, brummelt er mit verträumtem, doch eiskaltem Blick über den Rhein hinweg nach Ostenund etwas lauter: »Wen schert ’s schon, dass er in der Schweiz entspringt und sich in Holland in die Nordsee ergießt, wen schert ’s, sind doch beides alte deutsche Landschaften. Und das Elsass … keine weiteren Worte!« Die letzte Phrase brüllt er und wirft strenge Blicke auf das französische Ufer. Alte deutsche Landschaften, denkt er, haben nicht selbst die Franzosen unserem großen Karl den Namen Charlemagne gegeben – der deutsche Karl? … Oder? … Deutscher Karl?… Charlemagne? … deutsch? … oder nur groß? … oder: Großdeutsch? … egal, egal!
… die Luft ist kühl und es dunkelt und ruhig fließt der Rhein … der Gipfel des Berges funkelt im Abendsonnenschein …
»Ich brauche Klarheit!« Und es sind noch so manche Dinge nicht erklärt. Dinge? Morde! Was ist mit Menger? Nach drei Jahren nur Vermutungen. Auch die anderen hinterhältigen Anschläge sind nicht geklärt. Korsische Banditen, wenn es denn so einfach wäre. Der Mörder trägt das Ritterkreuz.
»Wer spricht?« Krüger dreht sich um sich selbst. Plötzlich verharrt er wie versteinert. Schweiß auf der Stirn. DerAtem rast. »Wer da?«
Krüger betrachtet den silbernen Ring an seiner rechten Hand.
Sterling-Silber, exquisit … englisch … dieses Silber … dafür hatte nicht nur ein braver Soldat sein Leben lassen müssen … auch gut.
»Das alte Albion, perfides Albion.«
Er fuchtelt mit beiden Händen vor der Scheibe herum und versucht das Panorama, das Bild der Rheinlandschaft, zu zerstören.
Was für eine Welt.
… er schaut nicht die Felsenriffe, er schaut nur hinauf in die Höh …
»Doch, so könnte es gewesen sein. Hingerichtet wie Schlachtvieh.« Er sagt es mit Bestimmtheit, auch wenn leichte Zweifel aufkommen. Viele Möglichkeiten gibt es. So oder so ähnlich … Ich war ja nicht dabei … Krüger schweift ab … jedenfalls tot … sonderbar, wie er gestorben ist, ist mir so scheißegal wie sonst was … tot ist tot.
»Ich will es nicht wissen!«
Die heutige Gefahrenlage ist mit der nach dem Dreißigjährigen Krieg zu vergleichen. Damals wurde ein drastischer Anstieg der Wolfspopulation verzeichnet – so auch jetzt. Krüger versucht einen Zusammenhang herzustellen … Wölfe, Wölfe, reißende, tollwütige Wölfe, wohin man auch schaut. Mörderbanden, Diebe, betrügerische Beamte, Heckenschützen – schlimmer als im Alten Testament.
Es ist doch dieser Meiers gewesen, »Meiers, Gott hab ihn selig«, der ihn darauf hingewiesen hatte … damals inVillingen im Schwarzwald … ja, dass ein enger Zusammenhang zwischen bestimmten Wolkenformationen und einemAnstieg des Verbrechens besteht.
Bilden sich Wolken zu Formen und Figuren schwarzer Hunde, gibt es kein Entrinnen – das Weltenende naht. Undwenn der schwarze Regen kommt …? Krüger ist von seinen Überlegungen beinahe überwältigt. Es war doch Meiers …? Oder …?
Er brummt: »Nur nicht übertreiben, sich nicht ins Bockshorn jagen lassen, so schnell steht der Weltuntergang nicht vor der Tür, aber vorsehen müssen wir uns. Bereit sein!«
Bedenkliche Zeichen sind erschienen, im Elsass. Schwarzer Regen fällt vom Himmel. In dem Ort Landser ist ein missgebildetes Schwein geboren worden, auf dessen Rücken, gewachsen aus ein und derselben Wirbelsäule, wie spiegelbildlich, ein Schweineleib mit zwei Vorderbeinen ragt. Ebenso hört man, dass die Franzosenkrankheit, die schwarzen Blattern, sich in Windeseile verbreiten, ein geradezu epidemieartiges Auftreten verzeichnen die amtlichenBerichte, und das Elsass ist nicht weit, gerade mal über dem Fluss. Unappetitlich, denkt Krüger, geradezu eklig. Proust soll aufpassen … venerische Krankheiten, schwarze Blattern … wie unangenehm!
Und war es nicht ebenfalls Meiers gewesen? Johann Meiers?, der nach Fünfundvierzig wie vom Erdboden verschluckt und dann plötzlich als ein anderer, als Colmar, als der COLMAR, aufgetaucht war. »Gott hab dich selig, alter Hund, wenn du tot bist … aber leck mich im Arsch, wenn du noch leben solltest!« Habe ihn ja nur kurz kennengelernt, diesen Korvettenkapitän, Polizeioffizier … die Jüngeren sprechen immer wieder von ihm, auch Cremer … eine charismatische Persönlichkeit, wie man so sagt … ja, dieser Colmar soll berichtet haben, dass der schwarzeHund, die einzig wirkliche Rettung vor Tod und Gefahr darstellt.
Und wie kommt ein anständiger deutscher Polizist zu so einem Namen? Colmar? Hans Cremer hatte ihn einmal aufgeklärt. Er hatte ja mit diesen vaterlandslosen Gesellen nichts zu schaffen. Die französische Fremdenlegion war für alte Kämpfer und ewige Polizisten das Gebot der Stunde. Wer nicht den Säuberungen der Franzosen zum Opfer fallen oder in den Hungerlagern auf den Rheinufern an Entkräftung und Ruhr zugrunde gehen wollte, suchte sein Heil im Schwur auf eine neue Fahne. Der Zeigefinger des Rekrutierungsoffiziers schwebte über dem Elsass und stieß wie ein Stuka-Bomber nieder auf die Stadt Colmar. Wie aus der Pistole geschossen hatte Meiers »Meiers!« gerufen, doch dasließ man nicht gelten. Der Name war verbrannt. Die Legion verlangte eine gefärbte Identität. Sie forderte eine neue Seele. Colmar hieß die neue Seele. Für diesen Menschen wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen.
Ja, so wird’s wohl gewesen sein. Colmar und der schwarze Hund. Krüger denkt lange nach.
Er verliert sich in Gedanken.
Über dem Rhein braut sich ein gewaltiges Unwetter zusammen. Man muss kein Prophet sein, um dies zu erkennen.Sodom und Gomorrha. In einer halben Stunde Weltuntergang.
Niemand weiß genau, wie es beginnt, irgendwie fängt es harmlos mit Zigarettenschmuggel an, es werden zig Millionen Dollar verschoben.
Banden, Terroristen, Gangster, Mafia von allen Seiten, aus allen Ecken.
Schon in den frühen Fünfzigerjahren wird es klar, dass unter einer mythischen Oberfläche das Grauen, dasmitleidlose Verbrechen zur nackten Realität wird. »Ja ja … ja ja, Weisheiten.« Was als Wahrheit gilt, kann Stunden später schon überholt sein. Ohne Verräter und windige Informanten läuft nichts, rein gar nichts. Bevor sie einen grausig Verstümmelten verstecken, tätowieren sie dem Leichnam mit Ruß und Urin, einen Totenkopf zum Beispiel, oder das Herz Jesu mit und ohne Dornenkrone, mitten auf die Brust. Bei fast allen diesen Verrückten lässt sich ein paranoides Elend feststellen, das zu Verunsicherung und Wahnsinn führt. Aber auch die Seelen der Ordnungshüter bleiben nicht ungeschoren. Verdammt! Die Truppe war noch nie ein Primaner-Chor gewesen. Jetzt verroht sie oder wird schlapp, verliert den Rest ihrer Katholizität. Was nützt es, den Krieg zu überdauern …? Was nützt es? Und wem? Wer weiß eine Antwort?
»Frage ich Cremer, was an der alten Mühle am Doubs geschah, sagt er: Ich habe keine Erinnerung.«
Krüger setzt sich, dann steht er wieder auf. Er spricht zu sich. Er zieht die Hose stramm, schiebt die Daumen unter die Hosenträger, dehnt sie und lässt sie schnappen. »Quäl dich, Cremer! Quäl dich und streng dein Hirn an! Ich will wissen, ob der Kerl, was sage ich, die Kerle tot sind!«
Die Wolken brechen auf, und ein schweflig grelles Licht ergießt sich über den düsteren Fluten des Rheins. Eine letzteschwarze Wolke, die in ihrer Form und Gestalt an einen Hund erinnern könnte, setzt sich einen Strahlenkranz aus goldgelbem Licht auf. Honiggolden ergießt sich der frühe Morgen über dem Elsass, über dem Fluss und das deutsche Ufer.
Doch auf einmal verdunkelt sich das Firmament, und es wird so finster, als sei die Welt noch nicht erschaffen. Der reine Wahnsinn.
»Verdammt!«, murrt er, »Frankreich verdammt! Wenn Proust kommt, lass ich Speck und Bier auffahren, und Kirschwasser, eine zünftige Brotzeit für den galanten Franzosen.«
Auf dem Hof steht eine Alouette-Astazou SA 318. Zwei Werkmechaniker übernehmen noch die Wartung. In einemMonat machen wir das selber. Krüger ist stolz.
»Noch …«, flüstert er, »… noch …« Die ersten Flugstunden hat er in Frankreich absolviert. Alouette, Alouette … welch ein Name … Lerche, Vögelchen. Die ganze Welt fliegt mit diesem Vogel. Keine Armee, keine Polizei will auf die Lerche verzichten. Fliegen nach Augenmaß, Fliegen mit Gefühl.
»Ja, es kommt immer darauf an, andere ins Feuer zu schicken, während man selbst vom Hügel des Feldherrn herab oder aus der Alouette den Verlauf der Ereignisse beobachtet und leitet, meine Herren … besser gesagt: führt, meine Herren.«
Krüger blickt ein weiteres Mal über seine linke Schulter. Ein verflixter Morgen. So ruhig. So klar. Es ist zumwahnsinnig werden.
Jemand da?
»Den Überblick behalten, beobachten, rechtzeitig reagieren, sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen … ja, ja, ja«,sagt Felix Krüger, so will ich das machen, denkt er, beobachten und führen. »Ja ja, meine Herren … genau, meine Herren.«
Und er steht schon wieder vor dem Panoramafenster und stiert über den Rhein. Der Himmel ist aufgerissen. Die Sonne wirft ihr Feuer durch die Wolkenwand.
Morituri te salutant.
Sie haben nichts zu verlieren.
Morituri te salutant.
Die Republik hat sie zum Teufel gejagt.
Der Staatspräsident hat ihnen sein Vertrauen entzogen. Ein einsamer, verwundeter Wolf hält das Kommando. Er war in Acht und Bann geschlagen.
Jetzt ist er wieder da.
»Wer alles verloren hat …« Krüger murmelt es und hängt seinen Gedanken nach. Bläst den Rauch seines Stumpen gegen das Fensterglas. Sieht ihm lange nach, wie er sich an der Scheibe bricht, wie er sich verteilt.
Ein Schuss durchbricht die Stille.
Ein dumpfer Schlag gegen die Scheibe. Der General …?, durchfährt es Krüger.
Der General? Er sitzt in Baden-Baden. Seine Truppen stehen bereit, diesseits der Grenze. Auch jenseits. Überall in der Grande Nation.
Auch in unseren Reihen. In Baden. In Alemannien. Legionäre. Die Prätorianer des Generals. Seine Paras.
Morituri te salutant. Krüger war in Träumen. Unachtsam.
Jetzt duckt er sich, wie automatisch. Geht auf die Knie.
Er sieht nach oben. Eine kleine Macke. Da, wo er stand. Nicht größer, als wenn ein großer Vogel gegen die Scheibe donnert. Er springt auf.
Ist das nicht ein Schlauchboot? Dort drüben?
Über dem Wasser?
Das Boot verschmilzt mit der flirrenden Morgenwärme. Mit einem Außenbordmotor?
Sieht er eine Gestalt? Ein Fischer? Ein Jäger? Ein Gewehr? Nicht zu erkennen … zu weit weg … wie im Nebel … nichts ist klar.
»Keine Panik«, flüstert er, »sie wollen mir ans Leder. So ist das nun mal. Das Leben ist ein Jammertal. Was soll ich tun?«
Nach einer Weile: »Wer war das? Wer steckt dahinter? Es gibt kein Vertrauen mehr. Keine Sicherheit. Schon lange nicht mehr.«
Macht er sich etwas vor?
Mit Menger hat alles angefangen. Das Gift breitet sich aus. Nein, es hat schon Besitz ergriffen von seinen Organen, von seinem Blut, von seinem Geist.
»Ich bin vergiftet … das ist …«, er wagt es nicht auszusprechen. War er zu gutgläubig? Alt geworden, fahrig?
»Ich werde mir fremd. Verdammt!«
Ist er ein Fremder? Gehöre er nicht mehr dazu …? Dieser Gedanke lässt ihn nicht los.
Er verliert sich.
Alles ist flüchtig … alles vergänglich.
… ich glaube, die Wellen verschlingen am Ende Schiffer und Kahn …