
Alf Mayer über das frühe Hauptwerk „Der magische Pfad“
Bevor Gary Victor seinen Inspecteur Dieuswalwe Azémar schuf (beginnend mit „Schweinezeiten“, 2009; respektive 2016 dann auf Deutsch), unternahm er bereits 1996 in seinem dritten Roman eine gewaltige tour d’horizon durch Geschichte und Kultur seiner Heimatinsel Haiti und damit durch seine Themen. „La Piste des sortillèges“, jetzt im kleinen Verlag Litradukt auf Deutsch als Der magische Pfad erschienen und von Verleger Peter Trier höchstselbst begeisternd übersetzt, ist so etwas wie ein frühes Hauptwerk, 509 Seiten stark in der französischen Ausgabe, im übergroßen deutschen Format sind es immer noch 368, eine wirklich volle Pulle Voodoo. Die Kriminalromane sind nur halb so dick.
Bei Gary Victor – ein Porträt von Frank Göhre hier – wuchern und blühen nicht nur Korruption, Verbrechen, Dschungelpflanzen und Aberglauben, sondern auch die Erzähltraditionen des 19. Jahrhunderts, besonders die der großen Sozialromane. Bei ihm verbinden sich realitätstüchtige Sozialkritik und religiöse Mythen zu einem schillernden, oft grotesken, bitterbösen und subversiven Amalgam. Seine Romane sind Heldenreisen der besonderen Art, seine Hauptfiguren „gemeine Kerle von üblem Lebenswandel“, so die Übersetzung des spanischen Worts „picaro“, das seit dem 1554 anonym erschienenen „Lazarillo de Tormes“ der Gattung den Namen gibt.
Zu den Urvätern des pikaresken oder Schelmenromans zählen auch Simplicissimus, Don Quichote, Till Eulenspiegel. Aus der Perspektive eines ungebildeten, aber bauernschlauen Helden, erleben wir in dieser Literatur, wie er sich durch allerlei brenzlige Abenteuer schlägt.
Hier bei Gary Victor heißt er Sonson Piprit und will seinen Freund Persée Persifal retten, der von einem korrupten Politiker vergiftet, zum Zombie zu werden droht. Entschlossen, ihn aus dem Reich der Untoten und offenen Gräber zurückzuholen, durchwandert Piprit in einer einzigen Nacht zwei Jahrhunderte haitianischer Geschichte, nimmt es mit Geistern und Dämonen auf, schlägt und redet sich durch das insel-eigene Gestrüpp von Geschichten, Mythen, Voodoo-Zauber und Unterweltslegenden, legt sich sogar mit Bawon Samedi an, dem Geist, der über die Friedhöfe wacht, und erringt dessen Respekt. Persée Persifal selbst schon ist ein symbolgesättigerter Name, lehnt sich an Perseus, den Sohn des Zeus und Medusenschlächter an, und dann noch der Gralssucher Parsifal …

Seit der „Handschrift von Saragossa“ habe ich kein solch zaubergetränktes, phantasmagorisches Buch mehr gelesen. Stark, dass der Litradukt Verlag Autorenpflege auf solche Art betreibt. Von Gary Victor gibt es bisher übersetzt die vier Dieuswalwe Azémar-Kriminalromane:
Schweinezeiten
Soro
Suff und Sühne
Im Namen des Katers
sowie die Erzählbände
Der Blutchor (siehe bei uns „Kein Traum, überhöhte Realität„)
Dreizehn Vodoo-Erzählungen.
„Der magische Pfad“ ist die volle Dröhnung.
Gary Victor: Der magische Pfad (La piste des sortilèges, 1997). Aus dem Französischen von Peter Trier. Litradukt, Trier 2023. 368 Seiten, 24 Euro.