Geschrieben am 15. April 2017 von für Bücher, Crimemag

Roman: Gary Victor: Suff und Sühne

413doA+dzKL._SX312_BO1,204,203,200_Bildschön über Kotze schreiben

Von Katja Bohnet

Cold Turkey

Gott sei gelobt, Dieuswalwe Azémar ermittelt wieder! Der Mann hat wirklich einen Lauf. Zuerst der Suff, jetzt der Entzug. Niemand sagt, dass Kommissare es einfach haben. Ein Leben zwischen Pest und Cholera. Und das auf Haiti, einem von der Welt vergessenen Inselstaat, erdbebengeschüttelt, völlig verarmt. Doch die Umstände allein sind nicht schuld an seiner Qual. Der Inspektor wurde das Opfer seiner eigenen Leidenschaft. Ein etwas überdrehter Typ, von seinem Beruf besessen, fast gewissenhaft. Ihn umgibt die Korruption, man sagt das so, setzt es voraus, aber Azémar ist selbst kein Waisenkind. Was soll er tun? Fasten, beten, lamentieren? So trinkt er also, bis der Vorgesetzte sein unberechenbares Verhalten nicht mehr dulden kann. Als ob das noch eine Rolle spielen würde in einer Situation, in der Azémar sich selbst und seine Umwelt nur noch gut betäubt erträgt. Den Zuckerrohrschnaps Soro muss er in „Suff und Sühne“ gegen Pillen tauschen und Injektionen gibt es noch obendrauf. Man glaubt ja gar nicht, wie progressiv ein Entzug auf Haiti so vonstatten geht. In Azémars Wohnung, einem Saustall, dämmert der Inspektor Cold Turkey vor sich hin. Seine Haushälterin verabreicht ihm die vom Arzt verschriebene Medikation, während er die letzten Flaschenverstecke verlassen weiß. Er kotzt, er deliriert, die Tage schleppen sich dahin.

Lacan spiegelverkehrt

51UVWj+IQhL._SX312_BO1,204,203,200_Kein Wunder, dass der Gute etwas durcheinander gerät. Kaum kommt er zu einem Mandat, Privatauftrag einer solventen Frau, deren Vater, ein UN-General, mörderisch verstarb. Sie hat es zunächst auf das Leben des Inspektors abgesehen, aber der windet sich (pars pro toto) aus dem sicheren Ende hinaus. Schon ist die Aufgabe wieder weg, die Auftraggeberin obendrein noch tot. Jetzt soll er, Dieuswalwe, ein Mörder sein. Donnerlittchen, das hatten wir doch schon mal, als der Inspektor sich in dem Vorgängerroman „Soro“ selbst suchen sollte. Die Frau des Kommissars Solon ging fremd. Mit ihm, Dieuswalwe, selbst! Das muss man sich erst mal ausdenken. Wo er auch Mörder sucht, begegnet er immer nur sich selbst. Er erkennt sich im Spiegel und bleibt sich doch fremd: ein Vexierbild. Lacan zur Abwechslung mal spiegelverkehrt. Der Inspektor wird sich also aufraffen. Alkoholverbot hin oder her. Wenn man es genau nimmt, unterscheidet sich der Suff nicht grundlegend vom Entzug.

Gegensatz, Spiel und Tod

Begleiten wir Azémar also auf seinem Trip durch Port au Prince, aus der Stadt, zum Camp über den Strand, vom Berg zum Flughafen. Das schillert und das sprüht. Man muss Gary Victor lieben, denn er hat Mumm. Die Situationen, durch die er seinen Helden hetzt, sind extrem. Victor gibt sich nicht ab mit Mittelmaß. Ist dem Leser auch egal, denn er würde Azémar überall hin folgen. Die Sympathien begleiten den schielenden Ermittler, der doch mit seinen eigenen Dämonen schon genug zu kämpfen hat. Das ist Noir, spielt daher auch überwiegend in der Nacht. Jedes nur mögliche Verbrechen kommt hier vor. Mord, Entführung, Geiselnahme, Folter, ach, der Autor könnte ewig so weiter machen. Manche Schriftsteller würden sich am Eklektischen übernehmen, nicht so Victor. Er liebt das Spiel mit den Gegensätzen. Zum Beispiel in bildschöner Sprache bekotzte Teppiche zu beschreiben. Inwiefern unterscheidet sich Voodoo noch von der Sci-Fi-Implantationschirurgie? Was ist „Schuld und Sühne“, was „Suff und Sühne“ und wie spiegeln die beiden Romane sich? Heureka: Die Toten erstehen wieder auf. Dostojewski rührt sich im Grab und Raskolnikow tritt auf, weil diese weite Bühne, dieses wilde Spektakel es erlaubt.

Am Rande der Wahrscheinlichkeit

Wer sich beschwert, dass die Glaubwürdigkeit leidet, muss sich wieder setzen, weil die Realität so dehnbar ist, Grausamkeiten möglich sind und der Leser diesem Abenteurer des Verbrechens alles verzeiht. Passiert also ständig, dass man Verrückte trifft, denen Chips implantiert wurden und, naja, für die Konsequenzen ihres Verhaltens können sie dann nichts. Passiert doch ständig, dass man beim Militär gespritzt wird mit irgendeinem Teufelszeug, Gehirnwäsche. Für irrationales Handeln kann dann wieder keiner was. „Die Bourne Identität“ lässt grüßen. Pathos wird großgeschrieben in der Welt des Inspektor Azémar. Alle benehmen sich ziemlich überspannt. Moralisches Verhalten existiert hauptsächlich als Idee. Warum sollte der Inspektor sich denn besser als seine Feinde verhalten? Gleiche Waffen, gleiches Spiel. Auch sein Vorgesetzter, Kommissar Dulourdes, macht da keinen Unterschied:

„Ich habe Interessen, keine Freunde!“

So spricht ein Systemprofiteur lässig die Wahrheit aus. Der Autor erschafft diese Geschichte fieberhaft auf kleinstem Raum. 160 Seiten benötigt er nur für diesen Höllentrip. Nach dem Exzess ist der Kater vorprogrammiert. Gelungen auch der weitgehende Verzicht auf Dialoge. Nicht als Maßstab, sondern weil es funktioniert. Das Erzählmuster ist zwar bekannt, aber egal, weil Victor einfach sauber übersetzt ist und auch saugut schreibt.

Katja Bohnet

Gary Victor. Suff und Sühne (Cures et châtiments, 2013). Roman. Aus dem Französischen von Peter Trier. Litradukt Verlag, Trier 2017. 160 Seiten, 11,90 Euro.

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