Geschrieben am 1. Juni 2023 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2023, News

Fünf Sterne Bagdad – von Anna Hoffmann

Die Reisevorbereitungen für das internationale Babylon-Festival, das von der UNESCO gefördert wurde und nun zum 10. Mal stattfinden würde, waren getroffen, die ausgewählten Gedichte von Fouad Al-Auwad übersetzt, meine Ängste, sprich Reisedaten, im ELEFAND Programm des Auswärtigen Amtes hinterlegt, der Koffer für respektable 30 °C gepackt, fehlten nur am Freitag die Informationen und Flugtickets für Sonntag oder Montag. Ruhe bewahren und Tee trinken, kein leichtes Vorhaben im Land der Checklisten und Terminplaner. Natürlich kamen die Ticketinformationen, die Deutsche Bahn von Berlin nach Frankfurt fiel nicht aus, sondern traf pünktlich ein, was zu einem erheblichen Koffeinkoller führte, um die Zeit totzuschlagen. Dann ein Zwischenstopp in der neuen Istanbuler Luxusmall mit integriertem Flughafen und weiter ging es über die nachts wie antikes Geschmeide funkelnde, türkische Metropole nach Bagdad. Die Maschine spuckte uns im alten „Saddam International Airport“ jetzt „Baghdad International Airport“ aus, bzw. dessen, was nach dem amerikanischen Bombardement am 4. April 2003 davon übriggeblieben war und noch funktionierte. Aber: die Visa waren da und der Festivalleiter Dr. Ali Al-Shala holte uns fünf DichterInnen: Fouad Al-Auwad, Monika Littau, Jürgen Nendza, Birgit Kreipe und mich persönlich ab und im Hotel Al-Mansour waren die Zimmer vorbereitet, es war 2 Uhr nachts, vor 23 Stunden hatte mein Wecker in Berlin geklingelt.

Das Al-Mansour wurde 1980 im Auftrag der spanischen Melia Group am westlichen Ufer des Tigris im Zentrum Bagdads erbaut. Es verfügt über 293 Zimmer auf 14 Etagen. 2007 sprengte sich in der Lobby ein Selbstmordattentäter in die Luft und riss 12 Menschen in den Tod, darunter den bekannten irakischen Dichter Rahim al-Malaki. Das Hotel beherbergte damals Sheiks, die eine Front gegen Al-Kaida bilden wollten, auch die chinesische Botschaft und zahlreiche irakische Regierungsbeamte wohnten dort. Als ich in Nummer 822 einzog wusste ich das alles nicht. In dem geräumigen Zimmer, schien mir, war die Zeit eingefroren, 1980 for ever, der gleiche Teppich mit der Chronik dessen, was seitdem verschüttet wurde, usw. usf., aber der Ausblick über den Tigris auf die Stadt war immer noch 5 Sterne. 

Am nächsten Tag, als ich mit dem linken der drei Fahrstühle hoch in die 8 Etage fahren wollte, zog mich einer der beiden Männer, die gegenüber dem Fahrstuhl an einem kleinen Tisch saßen, unsanft heraus und gab mir zu verstehen, dass der Fahrstuhl defekt sei. Dieser seltsame Arbeitsplatz der Herren war Tag und Nacht besetzt und ich fragte mich schon, wozu. 

Von einem spanischen Festivalteilnehmer erfuhr ich später, dass der linke Fahrstuhl ausschließlich und direkt zum Roma-Puff in die elfte Etage fährt. Währenddessen fanden in der Lobby große glitzernde Hochzeitsfeiern statt. Auch darauf ist das Al-Mansour spezialisiert. 

Einen Tag später hob sich der Vorhang ein weiteres Mal, als zwei Frauen in traditionellen schwarzen Abayas aus dem besagten Fahrstuhl traten. Beim Gehen öffnete sich das lange Gewand unter dem sie nichts als einen Tanga trugen. Trotzdem empfehle ich das Al Mansour wärmstens jeder und jedem. Es ist immer noch 5 Sterne Bagdad, the place to be. 

In der Lobby wird köstlicher Mokka mit Kardamom serviert, ein Segen während der vielen Stunden des Wartens auf den Bus, der wiederum jeden Tag mehrere Stunden für die 120 km von Bagdad nach Babylon fuhr. Zeit zum Fotografieren und um die Dichterinnen und Musiker aus der Türkei, Spanien, Marokko, Ägypten, Frankreich und Iran kennenzulernen, sich zu unterhalten, falls und sobald man eine gemeinsame Sprache gefunden hatte. 

Babylon, das antike, jedenfalls kurz über dem Erdboden, echt alte Babylon, begann der deutsche Architekt und Bauforscher Robert Koldewey 1899 auszugraben, 1917 endeten die Arbeiten mit dem Einmarsch der britischen Truppen in Bagdad im Zuge des Ersten Weltkrieges. 10 % der Anlagen wurden bisher freigelegt. Die gut erhaltenen über zweitausend Jahre alten Ziegel trugen Einheimische gern zum Bau eigener Häuser ab in den vier Dörfern rechts und links vom alten Babylon, ein anderer großer Teil des antiken Materials wurde in den Bau von Staudämmen integriert, erzählte mir ein Babylonier. Und Saddam Hussein ließ die antiken Funde aufmauern, natürlich nicht ohne, analog zum König Nebukadnezar II. im Ischtar-Tor, eine Inschrift mit seiner Ruhmestat in etlichen der neuen Ziegel reinzuklotzen.

Die Kopie des Tors, das echte steht ja im Pergamon-Museum in Berlin, wurde von Norden nach Süden verlegt, als Eingang für die Besucher des Südpalastes. Trotz aller Gedanken über echt-alt-neu-und-Kopie ist Babylon ein erhabenes, majestätisches und faszinierendes Zeugnis alter Hochkultur. Und tatsächlich kann man auf dem Gelände einfach so tausende Jahre alte gemusterte Scherben finden und Stücke mit der schwarzen Glasur von Vorratsbehältern, umso schwerer diese kleinen Wunder nicht in die Hosentasche gleiten zu lassen. Es ist aber keine gute Idee, dafür irakisches Gefängnis zu riskieren. Ich habe die beiden Stücke fotografiert und nicht mehr auf den Boden gekuckt. Es war mir arg. Der Guide, ein Babylonier, schenkte mir als Trost ein Souvenir. Einen Behang von dem Kronleuchter aus Saddams Schlafzimmer des gestürmten Palastes, der in Sichtachse zur antiken Fundstätte steht. Ein seltsames Souvenir, es lag mir in der Hand wie ein vergammelter Backenzahn.

Zunächst wurden wir zu einer Buchmesse geleitet und entdeckten auf den Covern ab und an bekannte Gesichter: Virginia Woolf, Marx, Camus, Sartre, Orwell und Brecht. Ansonsten war es schwierig zu erkennen, um was für Bücher es sich handeln mochte. Im Anschluss daran gab es im selben Gebäude eine Podiumsdiskussion zu einem mir unbekannten Thema. Etwa 100 Zuhörer und etwa ein Dutzend Filmteams, viele Fotografen und Journalisten waren gekommen, nicht zu vergessen die Mitarbeitenden verschiedener Geheimdienste – und das alles fand in Saddams ehemaligen Hühnerstall statt. 

Die bezaubernde Dämmerung bespielte die Bühne der Eröffnungsfeier bereits, als wir, die fünf deutschen Ehrengäste des Festivals, einen guten Platz gefunden hatten. In dem griechischen Theater, das in die Zeit Alexander des Großen datiert wird, d.h. 323 vor Christus, später mehrmals verändert wurde und sehr schön nach Koldeweys Plänen rekonstruiert worden ist, fanden mehrere Tausend Besucher Platz. Auf zwei Großbildschirmen wurde die irakische Dichterin Nazik al-Malai’ka (1922 – 2007) geehrt, die Grande Dame der modernen arabischen Lyrik, abwechselnd mit den Förderern und Sponsoren.

Ein Abend voller Musik, Laserlicht, Drohnen, einigen sehr langen Reden, mit dem Roten Teppich und Miss Irak, den berühmtesten Irakischen SchauspielerInnen, Regisseuren, AutorInnen. Und darüber war es Nacht geworden und die Sterne schienen und nur wenige Kinder waren müder als wir. Mit den Familien um uns herum hatten wir Süßigkeiten und Getränke ausgetauscht und Selfies gemacht.

Überhaupt wurde pausenlos fotografiert. Wohin wir auch kamen, baten uns freundliche Teenager, Frauen, Männer, Familien um Selfies mit ihnen. Manche Leute legten uns ihre Babys in den Arm zum Fotografieren. Anstrengend fand ich es nicht, weil es immer sehr höflich und respektvoll angetragen wurde. Außergewöhnlich war es allerdings. 

Bagdad. Vom Bus aus: Der Verkehr halsbrecherisch chaotisch (Rom hoch Zehn) und bewaffnete willkürliche Kontrollen außerhalb der grünen Zone. Immer was los in dieser wachsenden Stadt, die am 30. Juli 762 als Madīnat as-Salām „Stadt des Friedens“ gegründet wurde. 

1965 hatte Bagdad etwa 1,5 Millionen Einwohner, 2018 waren es rund 6,7 Millionen. Nach der Verstaatlichung der Ölunternehmen 1972 und dem Anstieg des Ölpreises 1973 wurde die Infrastruktur (Kanalisation, Wasserleitungen, Autobahnen) massiv modernisiert und ausgebaut und immens ins Gesundheits- und Bildungswesen investiert. Wirtschaft, Handel und Tourismus wurden angekurbelt, die Stadt wuchs, auch durch Zuwanderung schiitischer Araber. Wir fuhren täglich an den Slums der Vororte Bagdads vorbei. Riesige Areale des Elends in einer zerschossenen Stadt voller Betonblockaden, einer Stadt, deren BewohnerInnen durchschnittlich 20 Jahre alt sind.

Die Rückfahrt wurde unterbrochen durch den Halt an dem Fastfood Restaurant, das uns täglich zwei Mal mit Fleisch, Salat und Pommes versorgte. Dazu Ayran oder in Plastikwürfel abgepacktes Wasser, je nachdem was man bestellt hatte oder was die Kellner einem so brachten. Es war auch egal, letztlich waren es immer Fleisch, Salat und Pommes und Ayran oder Wasser. Nachts um 3 Uhr waren wir zurück im Al-Mansour, manche von uns rauchten eine Shisha-Pfeife, andere eine Zigarette zum Runterkommen, in anderthalb Stunden würde der Chor der Muezzin Bagdad mit seinen Melodien durchdringen. Jetzt gab es nur nächtliches Gezwitscher und Wind. Der Wind ließ die Herzen in den Palmen tanzen. 

Am nächsten Tag, so hieß es, würden wir lesen, wann und wo war nicht rauszukriegen. Ruhe bewahren und Mokka trinken und auf den Bus warten. Irgendwann war es dann so weit, die fünf Minuten, für die ich 3.300 km gereist waren und einen miesen CO2 – Fußabdruck hinterlassen hatte, begannen. Der Mond stand über dem offenen Südpalast, etwa 150 ZuhörerInnen hatten sich, ohne ein Programm, eingefunden, die Bildende Künstlerin Khamail stand mit mir am Mikrofon, im Anschluss las sie die Übertragungen auf Arabisch. Ich atmete ein, ich atmete aus „salam aleikum“.

Im Publikum fand ich Dr. Nagih Al-Obaida wieder, der für die Deutsche Welle arbeitet und in einem der vier Dörfer um Babylon herum wohnt und in Berlin. Er flüchtete 1974, als der Druck auf die Studentenbewegung immer unerträglicher wurde, aus dem Irak in die DDR, lebte in den 80er Jahren im Jemen und kam nach der Wende mit seiner jungen Familie nach Deutschland zurück. Der habilitierte Wirtschaftswissenschaftler begann 2002 als Quereinsteiger für die Deutsche Welle zu arbeiten und nun pendelt er zwischen seinen Häusern in beiden Welten. 

Für die Rückfahrt brauchte der Bus geschlagene vier Stunden und wir stöhnten, als das Fast Food Restaurant in Sicht kam und der Bus einbog. Gegen 3 Uhr morgens erreichten wir das Al-Mansour. Mittlerweile schätzten wir das Hotelzimmer immer mehr, vor allem die fliegenlosen Sitz-WCs in den Bädern. Am nächsten Morgen wollten Jürgen Nendza, Birgit Kreipe und ich allein und zu Fuß zum Nationalmuseum. Übermüdet waren wir ohnehin, manche kämpften mit Magenproblemen. 

In Bagdad zu Fuß. Was erschließt sich von einer Stadt, wenn man nur einige Straßenzüge weit läuft, wenn man den Gesang, das Murmeln, die Sprachfetzen, die durch die Luft wehen, nicht zu deuten vermag, wenn es kein Gedächtnis für ein Vorhertableau gibt? 

Die trockene warme Luft zum Atmen ist angereichert mit Kohlenmonoxid, den Abgasen des dahinkriechenden wild um sich hupenden Verkehrs und mischt sich mit ätzenden Nitrophenolen der Möbeltischlereien entlang der Nasir Street. Man braucht keinen Echtzeit-Luftverschmutzungsindex prüfen, um sicher zu sein, dass Atmen ein Gesundheitsrisiko darstellt. Für ein paar Stühle und Tische mit Tee und Teetrinkern ist hier überall ein guter Platz. Die Baghdadi haben keine Wahl. Auch eine erstaunliche Anzahl von Hühnern lebt mitten in dieser Großstadt. Die Tiere laufen in und aus den Werkstätten, scharren im Sand im Schatten der Bäume oder auf dem Trottoir vor den Betonblockaden, die seit der „Operation Blitz“ 2005 zu Hunderten die Stadt abriegelten. Von den Kontrollposten sind immer noch die meisten besetzt und schwer bewaffnet. Die Drohkulisse richtet sich gegen verbliebene IS-Kämpfer, Selbstmord-Attentäter, bewaffnete, auf Entführung spezialisierten Milizen und gegen kleinere Verbände von Warlords, und doch empfand ich es, als wäre ein Target-Zeichen auf meinem Rücken befestigt. In einer schönen Gartenanlage in der Nasir Street befindet sich das Nationalmuseum, das 1923 erbaut und 2003 zu Beginn der Invasion geplündert wurde. Einige Tausend, von den schätzungsweise 15.000 gestohlenen Objekten, wurden bislang „wiedergefunden“. Eine kleine, winzige Vorstellung der überwältigen Schätze, die nun wieder im Nationalmuseum in Bagdad gezeigt werden, gewinnt man im Berliner Pergamonmuseum, das noch bis Oktober 2023 geöffnet ist, um dann für mehrere Jahre der Renovierung seine Tore zu schließen.

Es gäbe viel zu erkunden im ganzen Irak, nicht nur in Bagdad. Sehr gern hätte ich das einzige irakische Institut für zeitgenössische Kunst BAIT TARKIB besucht, gegründet in den 2010er Jahren von der Berliner Kuratorin, Kulturvermittlerin und Theatermanagerin Hella Mewis. Gern wäre ich durch die berühmte Straße Al-Mutanabbi geschlendert, die nach den Zerstörungen durch Bombenanschläge wieder renoviert wurde und seit 2022 wieder aufblüht. Dort wo sich jeden Freitag (am arabischen freien Tag) die Kunstszene trifft, die Studenten, jungen Menschen, die Intellektuellen und die Liebhaber der Buchkunst. Al-Mutanabbi, eine schmale Straße voller Buchhandlungen, Galerien und Cafés wurde 1932 von König Faisal I. eingeweiht und nach dem berühmten Dichter Abul Tayeb al-Mutanabbi (10. Jh.) benannt. 

Ich möchte wiederkommen … und ich kann sogar Hella Mewis verstehen, die trotz ihrer Entführung 2020 wiedergekommen ist und ihre Arbeit mit den jungen Menschen des Künstlerkollektivs Tarkib fortsetzt. 

An unserem letzten Tag in Babylon hielt Fouad Al-Auwad, der aus Syrien stammende Dichter, Künstler und Betreiber des deutsch-arabischen Lyrik-Salons einen Vortrag über die arabische Literatur in Deutschland. Er war es auch, der auf uns zugekommen ist und Ansprechpartner der Festivalleitung von Babylon war.

Seit der Lyrik-Salon 2005 ins Leben gerufen wurde, sind zahlreiche zweisprachige Anthologien erschienen, jedes Jahr finden Lesungen der beteiligten Autoren des Lyrik-Salons in verschiedenen deutschen Kultureinrichtungen statt. Verständigung und kultureller Austausch auf Augenhöhe mit AutorInnen wie: Ilma Rakusa, SAID, Joachim Sartorius, Adonis, Ulrike Draesner, Marwan Makhoul, Raoul Schrott, Saadiah Mufarreh, Ludwig Steinherr, Siham Bouhlal und Dinçer Güçyeter und wunderbaren KollegInnen, die ich leider nicht alle aufzählen kann. Ein so wichtiger Teil unserer gelebten Kultur des Dialogs mit der arabischen literarischen Welt sollte endlich organisatorisch wie finanziell unterstützt werden und die ehrenvolle Anerkennung durch staatlichen Kulturinstitutionen erhalten, die ihm gebührt. Einladungen zu Lesungen des Salons in Häusern der Poesie, in Literaturhäusern, Bibliotheken Buchhandlungen, Cafés, an den Universitäten und auch in den vielen kleineren Städten, um das uns alle Verbindende zu stärken und Ängste und Vorurteile abzubauen, zusammen zu kommen und die Poesie zu feiern. 

Was wird von dieser Reise bleiben außer meinen Erinnerungen? Ein Netzwerk, die Freundschaft mit der spanischen Schriftstellerin Eugenia Rico, Einladungen zu kommenden Festivals und Übersetzungen und Veröffentlichungen meines Buches VLUST ins Arabische und Persische. 

Einige starke Gedichte des iranischen Dichters Saber Sadipur habe ich ins Deutsche übertragen für eine Publikation in der Kunst- und Literaturzeitschrift Herzattacke, und ich hoffe, darüber hinaus auf das Interesse anderer Literaturzeitungen für diesen hier noch unbekannten Dichter. 

Zurück aus Babylon flog ich am nächsten Tag von Berlin nach Albanien und reiste mit der freundlichen Unterstützung des Goethe-Zentrums Tirana nach Korça zu den 28. Poetry Nights, aber das ist eine andere Geschichte.

Anna Hoffmann

Siehe auch: Anna Hoffmann: Pristina, eine Momentaufnahme, CulturMag März 2023

 

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