Geschrieben am 1. April 2023 von für Crimemag, CrimeMag April 2023, News

Frank Göhre schaut Hanna Mittelstädt über die Schulter

Working for paradise

Frank Göhre liest „Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens“ – Aus dem Leben einer Verlegerin

Eine Frau erzählt. Sie erzählt ihre Geschichte, assoziativ, die Zeiten wechselnd, informativ und unterhaltsam.  Als Jugendliche schon stark politisiert bricht sie das Soziologie-Studium ab, hat mit 21 Jahren eine große Liebe, die sich zu einer dauerhaften Partnerschaft auf gegenseitiger Augenhöhe entwickelt. 1972 gründen Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenberg gemeinsam mit Pierre Gallissaires einen Verlag. Anlass sind die Schriften einer Gruppe anarchistisch-revolutionär geprägter Künstler und Theoretiker, die als „S.I.“ („Situationistische Internationale“) die Revolten der Achtundsechziger in Paris und Rom stark beeinflusst haben. Mit der Übersetzung und Veröffentlichung ihrer Texte beginnt die Geschichte des dann später als „Edition Nautilus“ etablierten Verlags. 

Die Kernaussage der Situationisten wird dann auch zur grundsätzlichen Programmatik des Hamburger Verlags: „Es geht uns weder darum, dem Aktualitätsfetischismus zu huldigen, noch diese puritanische Trennung zwischenherkömmlichen poetischen und politischen Texten zu vollziehen, sondern durch die Gesamtheit unserer Publikationen Gegenwart und utopischen Inhalt der Revolution zu propagieren.“ (Ein Briefzitat von Lutz  Schulenburg an die Redaktion „Buchreport“. Baustein für das gewünschte Verlagsporträt.)

Lutz Schulenburg stirbt 2013 nach einer Hirnblutung und einem Schlaganfall. 

Von den gut vierzig Jahren gemeinsamer Verlagsarbeit erzählt nun Hanna Mittelstädt in einem umfangreichen Packkarton-Paperback. Es ist eine nicht chronologisch angeordnete Chronik. Ein Buch der Erinnerung auf der Basis archivierter Materialien und subjektiver Erfahrungen und Empfindungen, komprimiert und mit Lücken.

Oft eröffnet eine aktuelle Situation (G20 Gipfel, Hamburg, eine Lesung, ein Kongress, eine Reise der Autorin) die Rückschau auf die verlegerischen, die politischen und persönlichen Aktionen. Da geht es dann um das Für und Wider bei der Sichtung von Manuskripten ebenso wie um die Solidarität linker und alternativer Verlage, um Übergriffe der Staatsgewalt, Beschlagnahmungen und den Protest gegen die Haftbedingung politischer Gefangener. 

Mit Christian Geissler, einem engagierter Unterstützer der Akteure im „politischen Kampf“ war die Zusammenarbeit bei geplanten Publikationen schwierig: „… und wir konnten uns nicht durchringen, dieses in gewisser Weise schreiende und schwere Werk zu schultern. Vielleicht waren wir uns gleichzeitig zu nah und zu fern“, schreibtHanna Mittelstädt. 

Immens zeit- und kostenintensiv ist dann allerdings die nach und nach erscheinende Werkausgabe des Ökonomen, Schriftstellers und 1918-Revolutionärs Franz Jung In 14 Bänden (u.a. „Der Weg nach unten“, „Der Torpedokäfer“). Eine verlegerische Großtat gegen das Vergessen. Die Liste der „Nautilus“– Autoren/innen ist lang, reicht von Manfred Ach, Uli Becker und Heidi Schmidt zu Anna Rheinsberg, Thorwald Proll und Peter Paul Zahl. Texte und Manifeste derDadaisten und Surrealisten sind ebenso vertreten, wie Biografien und Autobiografien von Inge Viett (Bewegung 2. Juni), Mesrine („Der Todestrieb“), Billie Holiday und dem legendären Jazz-Bassisten Charles Mingus. Für die Autoren Franz Dobler, Wiglaf Droste, Robert Brack und Ingvar Ambjørnsen, der 1989 mit „Stalins Augen“ seinen ersten Krimi vorlegt, wird „Nautilus“ zum Stammverlag. 

Parallel dazu erscheinen die Schwarze Trilogie von Leo Malet und weitere Kriminalromane. Ein Kriminalroman ist es dann auch, mit dem Verlag und Autorin (Anna Maria Schenkel, Tannöd) einen Sechser plus Zusatzzahl verbuchen können. 13 Auflagen innerhalb von zwei Jahren, Film- und Theaterrechte, Lizenzvergaben weltweit. Das ermöglicht neue Verlagsräume für die inzwischen mehr Mitarbeiter. Bringt aber letztlich auch Zwist über alte und neue Verträge. Dennoch bleibt es vorerst der einzige große Wurf in der Verlagsgeschichte. 

Angenehm bescheiden schreibt Hanna Mittelstädt sie weiter. Ihr unter den üblichen Verlagsdarstellungen herausragendes, weil persönliches Buch ist ein vorläufiges Resümee, ein Blick auf Literatur jenseits des Mainstreams, linke Projekte und Modelle und alternatives Leben und Arbeiten – Working for paradise. 

Frank Göhre

Hanna Mittelstädt: Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens. Edition Nautilus, Hamburg 2023. 360 Seiten,  Umschlag aus Archivkarton, 50 S/W-Abbildungen, 28 Euro.

Anmerkung der Redaktion: Es gehört zum Verleger*innen-Glück, wenn ein gewagtes und aufwendiges Projekt zu einem schönen Erfolg wird. Das ist der Edition Nautilus mit dem Exilroman „Planet ohne Visum“ gelungen. Bei uns hier besprochen von Thomas Wörtche: Einer der großen Romane des 20. Jahrhunderts und von Alf Mayer: Marseille oder Auschwitz

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