
Thomas Wörtche liest „Planet ohne Visum“ von Jean Malaquais
„Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen“ heißt es in Bertolt Brechts „Flüchtlingsgesprächen“ von 1940/41. Ohne Pass und ohne Visum dem Nazi-Terror in Europa zu entkommen, wenn man ein jüdischer Mensch war oder sonstwie einer verfolgten Gruppe angehörte, war schwierig bis beinahe unmöglich. Viele Menschen haben es geschafft, viele nicht, viele blieben im Limbo hängen. In Lissabon etwa oder eben in Marseille, das bis November 1942 noch zur „freien Zone“ Frankreichs gehöre, in die die Deutschen aber bald auch einmarschieren sollten. Wobei „freie Zone“ Vichy-Frankreich meint, mit allen unappetitlichen Implikationen. Wir kennen die Geschichten von Anna Seghers (besonders aus ihrem Roman „Transit“), von Hannah Arendt, von Lionel Feuchtwanger, von Alfred Döblin, den Manns, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin et al., meistens autofiktiv oder aus Tagebüchern und Korrespondenzen.
Was die meisten von uns vermutlich (noch) nicht kennen, ist Jean Malaquais´ Roman „Planet ohne Visum“, der eben diese Situation in Marseille zum Thema hat. Malaquais´ Buch basiert ebenfalls auf eigenen Erlebnisse – er hing mit seiner Lebensgefährtin, der Malerin Galina Yurkewitch 1941/42 in Marseille fest, versuchte, an die nötigen Papiere zur Ausreise zu kommen und konnte am 8. Oktober 1942 endlich den Kontinent verlassen.
Aber das autobiographische Substrat dominiert „Planet ohne Visum“ nicht, zumal diese Episode in dem extrem komplexen Leben Waldimir Malackis, so hieß der 1908 in Warschau geborene Autor ursprünglich, nur eine begrenzte Rolle spielte. Schon als junger Mann begann er, durch die Welt zu ziehen, bereiste Rumänien und die Türkei, Palästina und Ägypten, saß in Dakar im Gefängnis, jobbte in südfranzösischen Bergwerken, nahm am Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der POUM teil, was er aber als nicht-stalinistischer Sozialist nicht lange durchhielt, wurde zu Kriegsbeginn in die französische Armee eingezogen, geriet in Gefangenschaft, aus der er entfloh, und beschloss, schnellstens aus Europa zu verschwinden, um, nach Stationen in Venezuela und Mexiko, in den USA ein neues Leben als Übersetzer (u.a. von Norman Mailer) und Literaturdozent zu führen. Malaquais nannte Malacki sich, weil Robert Denoël, sein Verleger, einen französischen Namen für opportuner hielt, ab 1939, als sein erster Roman, „Les Javanais“ erschien, der seine Erfahrungen als Minenarbeiter verarbeitete, und der Leo Trotzki zu einer Hymne hinriss. Allerdings war Malaquais kein Trotzkist und kein Kommunist, sondern eher freischwebender Sozialist, Anarchist im positiven Sinne, nach eigenem Verständnis ein „métèque“, ein Außenseiter, ein Immer-Fremder aus eigenem Willen und Entschluss.
Gefördert hatte ihn André Gide, den Malaquais in „Planet ohne Visum“ als Steven Audry sehr liebevoll porträtierte, so wie er auch andere Personen der Zeitgeschichte in dem Roman mehr oder weniger verschlüsselt auftreten lässt – so wird aus Marc Chirik (ein nicht-linientreuer russischer Kommunist) Marc Laverne, wobei Laverne auch realiter dessen offizieller nome de guerre war; aus Varian Fry, dem Chef des American Rescue Committees in Marseille wird John Smith, aus Victor Serge (ebenfalls ein anti-stalinistischer Kommunist) wird Ivan Stépanoff … und so weiter. Das sehr informative Nachwort von Nadine Püschel, die „Planet ohne Visum“ großartig übersetzt hat, gibt weiter Hinweise in Hülle und Fülle über reale Bezüge und vor allem über die spannende Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Romans, den wir hier in einer von Malaquais selbst mehrfach überarbeiteten Fassung von 1999 lesen. Natürlich geben die historischen Ereignisse in Marseille 1942 (obwohl Malaquais auch von der geschichtlich exakten Chronologie abweicht) die Thematik und das Personal des Romans zwingend vor, aber sie machen nicht per se das Außergewöhnliche und Originelle des Buchs aus.
Tatsächlich interessierte sich Malaquais, wie er im Januar 1942 notiert, für die „Schilderung eines kollektiven Schicksals“, eine Methode, die er schon 1939 mit dem Minenarbeiter-Roman „Les Javanais“ benutzt hatte. Dieser schriftstellerische Ansatz erklärt zunächst einmal das riesige Figurenensemble, das er auftreten lässt. Wir begegnen in „Planet ohne Visum“ Geflüchteten jeder Couleur, solche, die vor den Nazis fliehen, solche, hinter denen sowjetische Agenten her sind, solche, die sich vor der willfährigen Vichy-Administration verstecken müssen, jüdische Menschen sowieso, wir begegnen Kollaborateuren, Kriegsgewinnlern, der französischen Elite auf der Seite von Petain, Resistance-Leuten, blank Kriminellen, naiven Menschen, hoffnungsvollen und hoffnungslosen. Welchen mit Chuzpe und dumpfen Schlägern, die allesamt in Marseille festsitzen, wenn sie noch nicht in das berüchtigte Sammellager „Les Milles“ verschleppt worden sind oder bald dorthin verschleppt werden. Und alle sind mehr oder weniger locker miteinander verbunden – ein Kollektiv des Schicksals, der konkreten Zeitgeschichte eben.
Auch wenn der Roman passagenweise in die französische Provinz und nach Paris mäandert, Bezugspunkt bleibt stets Marseille, genauer der Vieux Port, wo „die in Jahrhunderten aufgestauten Ausdünstungen sämtlicher Menschengeschlechter (…) an die Oberfläche der Gegenwart zu treten (schienen), als wäre das Hafenviertel von Marseille die Sammelgrube aller Widerwärtigkeiten der Welt“. Ein Bild von Marseille also, das die Noir-Tönung, die später Jean-Claude Izzo in seiner Marseille-Trilogie wieder aufnehmen wird, schon präfiguriert. Allerdings wird dieses Bild im Lauf des Romans modifiziert – bei Hitze, Wind, Gewitter, Regen ändern sich die Farben und Stimmungen, dennoch, Noir dominiert, wenn auch in verschiedenen Aggregatzuständen. Aber der tinge of noir, den die Darstellung von Marseille zweifelsohne hat, heißt keinesfalls, dass „Planet ohne Visum“ ein roman noir ist. Denn die oben zitierte Beschreibung des Rotts stammt nicht von einem auktorialen Erzähler, sondern von einer Figur, dem Colonel, der kein Oberst ist, sondern ein alter Italiener namens Colona, ein schlitzohriger Gauner, der, zu jeder Schandtat bereit, dennoch ein treuer Geldbeschaffer für eine Fluchthelferinstitution ist. Und so zeigt schon der Anfang des Romans seine Methode, denn die „Schilderung eines kollektiven Schicksals“ verlangt geradezu nach polyphonem Erzählen auf allen Ebenen des literarischen Bedeutungsaufbaus eines Textes.

Zum Beispiel das „Hitze“-Kapitel: Der Sohn des oben erwähnten Ivan Stépanoff, Youra Stépanoff (im richtigen Leben der Maler Wladimir `Vlady` Kibaltschisch), der sich schon auf dem rettenden Schiff befindet, muss erleben, dass sein Vater anscheinend entführt wird – von wem, ist unklar. Von der Gestapo, der Vichy-Polizei oder von NKWD-Schergen? Er möchte mit dem Kommissar Espinasse reden – ein besonders gnadenloser und erfolgreicher Jäger flüchtiger Personen einerseits, ein übler Kollaborateur, der andererseits meint, er sei immer noch die bessere Option als die Gestapo oder der SD, und dessen eigener Sohn in der Résistance aktiv ist. Man lässt Youra warten, stundenlang und länger. Erst brennt „eine verflüssigte Sonne von einem glühenden kalkweißen Himmel“, später wird die „Luft ölig-süß“, der Himmel „gelb, wie von flüssigem Honig überschwemmt“, dann donnert eine „Säule aus heißer Luft in den Hof“ und erzeugt ein Vakuum, bevor der Himmel „bleiweiß“ wird und die Luft „die Konsistenz von Schlacke“ annimmt. Diese meteorologischen Zustände werden in einer langen Passage zu strukturierenden Elementen von Youras Erinnerungen, während er auf Espinasse wartet: Die Zeit wird zu einer zähen Masse, schließlich zur Schlacke, die Vorgeschichte von Häscher und Opfer – Espinasse will aus sehr eigenen Gründen dringend an Laverne heran und versucht, Youra zu erpressen – erweist sich angesichts des Verschwindens von Ivan Stépanoff ebenfalls als Schlacke in der historischen Entwicklung. Dies aber nur als ein Beispiel unter vielen für die Komplexion, mit der Malaquais einfache Situationen – ein Mann wartet in der Hitze – aufladen kann.
Diese zwanzig Seiten (S. 274 – S. 294) lange Szene, in der dieser Mann wartet, bietet auf der Wort- und Satzebene retrospektiven, inneren Monolog des wartenden Mannes, rüden Soziolekt anwesender Polizisten, ironische bis konstatierende Kommentare einer auktorialen Erzählinstanz, die sich auch der „fremden Rede“ bedienen kann („Der hinter dem leichenkammerartigen Schreibtisch fläzende Beamte war gerade dabei, sich am Oberkörper zu kratzen, und wetterte, er sei ja wohl nicht das Kindermädchen des Kommissars, Himmel noch mal“). Dazu, auf einer anderen Zeitebene die direkte maliziöse Rede des Kommissars, die verführerische Stimme von Youras Freundin Yvonne und auf einer weiteren, anderen Zeitebene anonyme Stimmen aus einem sowjetischen Gefängnis – zusammengenommen ein Musterbeispiel für das, was Michail M. Bachtin die „soziale Redevielfalt“ nennt, also ein Kennzeichen eines Textes aus der „zweiten Linie des europäischen Romans“, wenn sie „zu einem Bestandteil des Textes“ sui generis wird.
Unter der „zweiten Linie des europäischen Romans“ versteht Bachtin solche Texte die mittels ihrer konstitutiven „sozialen Redevielfalt“ Zentralperspektiven, erzählhierarchische Strukturen und monologisch-autoritäre Erzählinstanzen aufbrechen und (verkürzt gesagt) „demokratisieren.“ James Joyce hat dies am „Weltalltag“ des 16. Juni 1904 in Dublin vorgeführt, Malaquais transponiert das grundsätzliche Verfahren ins Politische. Mit literarischen Mitteln, um nicht in die Gefahr zu geraten, die George Orwell – interessanterweise in einem Aufsatz von 1948: „Writers and Leviathan“ – als Falle für explizit politische Literatur beschreibt. Literatur, so Orwell, sei´s in der besten Absicht, zu politisieren, führe meist zu einer „mental dishonesty“, weil in jedem ideologischen Bezugsrahmen und in jeglichen „höheren“ Zielen automatisch Ketzerei und Lüge stecken. Genau diese „höheren Ziele“ und einen festen ideologischen Bezugsrahmen verweigert Malaquais mit seiner Erzähltechnik.

Was ja keine relativistische Indolenz gegenüber den erzählten Ereignissen bedeuten muss. Malaquais liefert erschütternde Szenen von Razzien, bei denen Familien brutal auseinandergerissen werden, er schildert bedrückend die furchtbare Situation in den Lagern, berichtet von der Paranoia, die das Leben unter der Besatzung unerträglich für die einen, profitabel für die anderen macht – und erst recht das Leben im Widerstand, das Menschen anderen Menschen so entfremdet, dass sie „nur noch Pistolen in den Augen“ haben. „Planet ohne Visum“ erzählt auch von gescheiterten Hoffnungen – vom alten Ehepaar Haenschel etwa, das sich schon in Sicherheit wähnte und in letzter Sekunde, von einer perfiden Bürokratie und einem niederträchtigen Bürokraten erlegt, wohl Hand in Hand in den Tod gehen wird. Aber Malaquais Methode lässt eben auch Optimismus zu – gerade wenn Frauen (man könnte fast sagen: die eigentlichen Heldinnen des Romans, inmitten einer Herde oft eher jämmerlicher Männlein) wie die tapfere, nicht umsonst so heißende Marianne, einen Nazi-Offizier austrickst, oder die ungarischen Hochstaplerin Karen Trinyi einen eitlen französischen Aristokraten aus der Vichy-Hierarchie um sein ergaunertes Geld betrügt.
Auch die großspurige, breitbeinige Männlichkeit des faschistischen Schergen Mélodie, der der minderjährigen Gastwirtstochter Josette, genannt „Daddy“ sexuell nachstellt, wird ihrem verdienten Schicksal zugeführt. In solchen Passagen ist der Roman ausgesprochen komisch, ohne sein grundsätzliches Prinzip der „sozialen Redevielfalt“ aufzugeben, das eben alle menschlichen Schattierungen innerhalb eines erzählten Kollektivs zulässt, ohne Hierarchien aufzubauen. Zudem machen die diversen Textsorten, die Malaquais aus dem Effeff beherrscht – Parodie, Karikatur, Satire, Slapstick, Bühnen- resp. Filmdialoge, Invektiven, Gedankenprosa, Diskurs, Tagebuch etc. – den Roman zu einer extrem unterhaltsamen Lektüre (für ein Werk der literarischen Avantgarde ein kostbares Gut, der die kreuzblöde Rubrifizierung nicht wegschlabberbarer Texte als „schwierig“ ad absurdum führt), ohne je seine zutiefst humanistische-demokratischen Grundhaltung aufzugeben, die sich eben nicht nur auf der Ebene der Erzählinhalte zu beweisen hat, sondern die meaning of structure konstitutiv und zwingend miteinbezieht.
Deswegen gehört „Planet ohne Visum“ zu den „großen“ Romanen des 20. Jahrhunderts, ein Stück Zeitgeschichte und ein Stück Literaturgeschichte gleichermaßen, und ebenfalls mit einer Menge Anschlussmöglichkeiten im aktuellen Hier & Jetzt. Kein Museumsstück, sondern wundersamerweise thematisch und formal state of the art.
© 02/2023 Thomas Wörtche
Jean Malaquais: Planet ohne Visum (Planète sans visa; 1947/1999). Deutsch von Nadine Püschel. Edition Nautilus, Hamburg 2023. 664 Seiten, 32 Euro.
Internetpräsenz der Société Jean Malaquais. Mit Norman Mailer pflegte er einen freundschaftlichen Umgang, übersetze dessen „Die Nackten und die Toten“ und anderes.