
Kurzbesprechungen von Joachim Feldmann (JF), Sonja Hartl (sh), Alf Mayer (AM) und Thomas Wörtche (TW):
Jamey Bradbury: Wild
Frauke Buchholz: Blutrodeo
Naomi Hirahara: Clark & Division
Carlo Lucarelli: Léon
Jean Malaquais: Planet ohne Visum
Sally McGrane: Die Hand von Odessa
Valerie Wilson-Wesley: Der Ex-Lover
Matthias Wittekindt: Die rote Jawa

Erlebte Geschichte par excellence
(JF) „Die rote Jawa“ (50, Typ 555) ist eins von 327.323 Kleinkrafträdern, die zwischen 1958 und 1962 in der damaligen CSSR produziert und u. a. in die DDR exportiert wurden. Leider hat sie keine verlängerte Sitzbank. Also muss der junge Manz auf dem Gepäckträger sitzen, wenn ihn Maja, 19 und „ziemlich hübsch“, mitnimmt. Das kann auf Kopfsteinpflaster ziemlich unangenehm sein. Vor allem, wenn Maja absichtlich durch Schlaglöcher fährt. Warum sie das macht, kann Manz höchstens erahnen. So umfassend sind die Erfahrungen des Sechzehnjährigen mit dem anderen Geschlecht noch nicht. Aber das wird noch. Nicht umsonst erinnert sich Manz als alter Herr noch sehr lebhaft an einen fast 60 Jahre zurückliegenden Sommer, als er im mecklenburgischen Klein-Glevitz als Jung-Feuerwehrmann erprobte. Aber es bedarf eines Auslösers. In Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ übernimmt ein teegetränktes Gebäckstück diese Funktion. Für den pensionierten Kriminalisten ist es der Duft im Ofen schmorender Milchhähnchen, seit 1952 das traditionelle Weihnachtsessen von Familie Manz, der die „schillernd-fischschuppige Götting der Erinnerung“ heraufbeschwört.
Die rote Jawa ist der dritte alte Fall von Kriminaldirektor a. D. Manz, den der Berliner Schriftsteller Matthias Wittekindt auf seine unnachahmliche Art erzählend aufbereitet hat. Diesmal geht es erheblich weiter zurück in die Vergangenheit als in den ersten beiden Bänden der Reihe. Und im Unterschied zu diesen, darauf weist der Autor in einem Nachwort hin, basiert die Geschichte nicht auf einem tatsächlichen Gerichtsverfahren. Den jungen Manz hat es in die nordostdeutsche Provinz verschlagen, weil er wie sein bester Freund Richard Matrose werden will. Warum er deswegen zunächst zur Feuerwehr geht, ist kompliziert. Zumal aus seinen Berufsplänen nichts wird. Stattdessen zeichnet sich schon bald deutlich ab, warum aus dem abenteuerlustigen Halbwüchsigen eine der interessantesten Ermittlerfiguren der gegenwärtigen Kriminalliteratur werden wird. Denn als ein Brand auf einem kleinen Gehöft zwei Todesopfer fordert, entwickelt Manz kriminalistischen Spürsinn. Dabei stört ihn eigentlich nur, dass die überlebenden Töchter der Bauernfamilie direkt als verdächtig gelten. Doch nachzuweisen, dass die beiden Mädchen nichts mit dem Feuer zu tun haben, erweist sich als schwierig, denn dummerweise findet der hartnäckig recherchierende Nachwuchsdetektiv nur noch mehr belastendes Material. Dann taucht ein weiterer Verdächtiger mit starkem Tatmotiv auf, der allerdings nicht befragt werden kann. Und auch die politischen Umstände spielen eine Rolle. Denn während Manz sich in seine Nachforschungen verbeißt, plant die Führung der DDR – es ist der Sommer 1961 – drastische Maßnahmen, die auch das Leben in der bäuerlich geprägten Provinz verändern sollen. Auf einfache Erklärungen wartet man vergebens. Aber Manz, den der Fall zornig und empört zurücklässt, hat Klarheit über seinen weiteren Lebensweg gewonnen. So wird „Die rote Jawa“ Kriminal- und Entwicklungsroman zugleich.
Wie die vorhergehenden Romane spielt auch dieser dritte Band auf zwei Zeitebenen, durch Präsens und Präteritum voneinander unterschieden. Matthias Wittekindt versteht sich auf eine subtile Form auktorialen Erzählens, die den alten Manz und sein erinnertes jüngeres Selbst plastisch werden lässt, ohne dass die Handlung an Komplexität verliert. Das ist erlebte Geschichte par excellence.
Matthias Wittekindt: Die rote Jawa. Ein alter Fall von Kriminaldirektor a. D. Manz. Zürich. Kampa Verlag 2022. 218 Seiten, 19,90 Euro.

Marseille oder Auschwitz
(AM) „Das Melodram ist überfrachtet mit suggestiven Bildern: Expresszüge, Antriebsräder in Großaufnahme, zischende Dampffontänen, Pullmanwagen, Spione reisen ja nur im Pullman, heiße Nächte, Halbmonde, Minarette … Die Handlung schnurrt dahin, wie vorgesehen und vorberechnet, es fehlt nur noch der letzte Akt, die Szene mit dem Champagner, Spione trinken ja nur Champagner, die Heldin hat bereits das Geheimfach in ihrem Siegelring aufschnappen lassen, sie hat bereits das Gift in den Kelch des Verräters gestreut … aber im letzten Moment gibt es ein Erdbeben in Anatolien, der Champagner wird auf dem Teppich verschüttet, und die Spionin, die sich nie, nie, nie vor irgendetwas fürchtet, sinkt ohnmächtig in die Arme des Verräters, der daraufhin erkennt, dass er die Heldin immer, immer, immer geliebt hat; und als sie aus der Ohnmacht erwacht, da sagt er…“
Im Schnelldurchlauf persifliert hier Jean Malaquais, des Broterwerbs wegen selbst gelegentlicher Drehbuchautor und ausgerechnet zu Hochzeiten des HUAC (Komitee für unamerikanische Umtriebe) zusammen mit dem jungen Norman Mailer an den Pforten Hollywoods rüttelnd, einen Film Noir wie etwa Jacques Tourneurs „Berlin Express“. Überhaupt lässt in diesem Roman zum Beispiel auch „Casablanca“ an mancher Straßenecke grüßen, nur ein Lidschlag liegt zwischen screwball comedy, Kolportage, Thesenroman, Reportage, Bewusstseinsstrom, Chronik, Essay, Rhapsodie und großer Literatur, so oft wechseln die Tonlagen. Was für ein wildes, modernes Buch. 75 Jahre alt.
Der 1908 in Warschau geborene Autor, keiner körperlichen Arbeit fremd, selbst ein Flüchtling und Staatenloser, ein unbehauster „Internationaler“ und einer jener „Menschen, die niemand sieht, Menschen ohne Pass und Heimat“, verdichtet im Marseille des Jahres 1942 mehr als zwei Dutzend Flüchtlingsschicksale, porträtiert Verzweifelte und Stoische, Aktivisten der Résistance, Vertreter internationaler Hilfsorganisationen, Devisenschieber, Spitzel und Mitläufer und Militärs. Zum Teil sind sie an historische Figuren wie Victor Serge, Walter Benjamin oder Varian Fry angelehnt, das Nachwort der Übersetzerin geht auf manche dieser Verästelungen ein. Zwei Tore, so David Rousset („Das KZ-Universum“), gab es damals aus Europa: Marseille oder Auschwitz.
Planet ohne Visum (Planète sans visa) ist ein Meisterwerk der französischen Exilliteratur, das wunderlicher Weise jetzt erst erstmals auf Deutsch vorliegt und dessen großartig flüssige Übersetzung wir Nadine Püschel zu verdanken haben. Mit diesem Juwel kann sich die Hamburger Edition Nautilus auf Jahre schmücken – echtes Verleger*innen-Herzblut.
Jean Malaquais: Planet ohne Visum (Planète sans visa, 1947, vom Autor überarbeitet 1999). Aus dem Französischen von Nadine Püschel. Edition Nautilus, Hamburg 2022, 661 S.eiten, Hardcover, 32 Euro.

Ausflug zur Serienmörderei
(JF) Warum wird ein Serienmörder aus der geschlossenen Psychiatrie in eine Wohngruppe überstellt? Das fragen sich nicht nur die ermittelnden Kriminalbeamten, als ein als „Leguan“ bekannter Psychopath zwei Mitbewohner umbringt. Was führt er nun im Schilde? Schwebt die Ermittlerin, die ihn vor vielen Jahren verhaftet hat, in Lebensgefahr?
Carlo Lucarellis Thriller Léon, der sechste Band seiner Reihe um die taffe Polizeiinspektorin Grazia Negro, präsentiert eine überraschungs- und wendungsreiche Variante eines bekannten Plots. Allerdings in einer ungewöhnlichen Erzählform, fragmentiert, zersplittert, multiperspektivisch. Vom inneren Monolog über die erlebte Rede bis zur klassischen Dialogstruktur ist alles dabei. Der 1960 geborene Autor zeigt, was er kann. Und lässt sich dabei von Musik inspirieren, wie er in seinem Nachwort erläutert. Das war offenbar schon in seinem 1999 auf Deutsch erschienenen Roman „Der grüne Leguan“ (Almost Blue. 1997), als dessen Fortsetzung „Léon“ konzipiert ist, so. Und ist vielleicht die einzige ästhetische Rechtfertigung für diesen literarisch avancierten Ausflug in ein inzwischen ziemlich abgeschmacktes Genre.
Carlo Lucarelli: Léon (Léon, 2021). Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag, Wien/ Bozen 2022. 214 Seiten, 20 Euro.

Horror meets Country
(sh) Ganz in seiner schroffen, eisigen, rauen Welt verankert ist Jamey Bradburys unheimlicher Spannungsroman „Wild“. Nur draußen in Natur von Alaska ist die 17-jährige Tracy in ihrem Element. Sie muss durch den Wald rennen, den Boden und den Wind spüren, nur dann fühlt sie sich wohl. Doch seit dem Tod ihrer Mutter ist ihr ganzes Leben nicht mehr so einfach: Gerade erst wurde sie von der Schule verwiesen, ihr Vater will, dass sie mehr im Haushalt hilft und verbietet ihr die geliebte Arbeit mit den Schlittenhunden. Als sie heimlich im Wald ist, wird sie von einem Fremden angegriffen. Sie traut sich nicht, ihrem Vater die ganze Wahrheit zu erzählen – und dieser Vorfall wird alles ins Wanken bringen.
Der Schnee, die Kälte, die Wildness sind essentielle Bestandteile der Handlung, die Hauptfigur und diese Geschichte wäre an keinem anderen Ort als Alaska vorstellbar. In Tracy steckt etwas Unverstelltes, Animalisches – ein tiefer Blutdurst, der die Trauer um die Mutter noch existentieller werden lässt. Mit Tracy als Ich-Erzählerin taucht man tief ein in ihre Welt, in der sie auf ihren Instinkt vertraut. Und genau der bringt sie und andere Menschen in sehr große Gefahr. Es gibt einige Symbole und erklärende Gedanken zu viel in diesem Roman, auch ahnt man, wohin Bradbury mit ihrer Geschichte steuert. Aber sie nimmt diese faszinierende Welt und Hauptfigur ernst – und verweigert sich glücklicherweise manchen Erklärungen.
Jamey Bradbury: Wild (The Wild Inside, 2018). Übersetzt von Lydia Dimitrow. Lenos Verlag, Basel 2022. 390 Seiten, 26 Euro.

Erzählte Geschichte
(TW) Clark & Division ist eine Kreuzung in Chicago, titelgebend für Naomi Hiraharas Roman. Dort landet, während des 2. Weltkriegs, die us-japanische Familie Ito, die nach ihrer Internierung in Kalifornien dorthin „umgesiedelt“ wurde. Aki Ito, die Heldin, will sich nicht damit abfinden, dass ihre große Schwester Rose sich selbstmörderisch vor die U-Bahn geworfen hat – und beginnt, die Umstände dieses Todesfalls genauer zu ergründen. Aber diese eher dünne Kriminalhandlung dominiert den Roman nicht.
„Clark & Division“ erzählt vielmehr sehr eindringlich vom Umgang der amerikanischen Gesellschaft mit ihren japanischstämmigen Bürgerinnen und Bürgern nach Pearl Harbour: Internierung, Exklusion, Bespitzelung, inmitten einer sowieso rassistischen Gesellschaft. Naomi Hirahara erzählt aber auch vom stillen Selbstbewusstsein, vom würdevollen Überleben und Leben und von Widerständigkeit und Solidarität vor allem von Frauen, über ethnische Grenzen hinweg. Die nüchterne sprachliche Inszenierung und der eher biedere, überraschungsfreie Plot lenken nicht sensationalistisch von einer extrem unschönen Episode der amerikanischen Geschichte ab, die die tiefe Verwurzelung rassistischer Denkmuster in dieser Gesellschaft illustriert. Ich kann schlecht einschätzen, wie bekannt die Ereignisse um die japanischstämmige Community nach 1941 bei uns sind. Insofern ist Hiraharas Roman ein wichtiges Stück erzählter Geschichte.
Naomi Hirahara: Clark & Division. Deutsch von Karen Witthuhn. Ars Vivendi, Cadolzburg 2022. 336 Seiten, 24 Euro.

Auf den Straßen von Newark
(sh) Auch der zweite Band mit der Privatdetektivin Tamara Hayle bringt wieder gepflegte Krimi-Unterhaltung: In „Der Ex-Lover“ Tamara Hayle wird von dem dubiosen Geschäftsmann Lincoln Storey beauftragt, ausgerechnet ihren (titelgebenden) Ex-Lover zu beschatten. Der hat nämlich mit Storeys Stieftochter angebändelt – und Storey glaubt, er habe es nur auf sein Geld abgesehen. Bevor die Beschattung aber richtig losgehen kann, wird Storey ermordet.
Dieses Buch ist eine Wiederauflage, im Original ist „Devil’s gonna get him“ bereits 1995 erschienen, drei Jahre später erschien er unter „In Teufels Küche“ bei Diogenes. In diesem zweiten Teil der Reihe wird noch deutlicher, dass es vor allem die Figur Tamara Hayle ist, die diese Reihe bemerkenswert macht: Als alleinerziehende Mutter eines Teenagersohnes lebt sie in Newark, New Jersey, und hat ihre Polizeimarke abgelegt, weil sie die Nase voll davon hatte, sich von ihren Kollegen rassistisch beschimpfen zu lassen. Seither hat sie zwar ständig Geldsorgen, ist aber ihre eigene Chefin. Mit ihr fährt man durch das wenig glamouräse Newark und erfährt viel über dessen Geschicht sowie das Leben der Schwarzen Mittelschicht. In ihren Ermittlungen wird zudem sehr deutlich, wie internalisierter Rassismus funktioniert und wirkt – und nicht zuletzt das Verhältnis von Müttern, Töchtern und Frauen untereinander beeinflusst.
Valerie Wilson Wesley: Der Ex-Lover (Devil’s gonna get him, 1995; erstmals unter „In Teufels Küche“, 1998). Übersetzt von Gertraude Krueger. Diogenes, Zürich 2022. 320 Seiten, 16 Euro.

Liebesgrüße an Odessa
(TW) Ein Polit-Thriller mit Katzen als Hauptfiguren? Kann das gutgehen? Eigentlich nicht, im Falle von Sally McGranes „Die Hand von Odessa“ aber doch. Sehr gut sogar. Odessa, kurz vor dem russischen Angriffskrieg. Der leicht abgehalfterte Ex-CIA-Mann Max Rushmore wird nach Odessa geschickt, um von einem Kongress über hybride Kriegsführung zu berichten. Aber vor Ort, und manchmal tief in den berühmten Katakomben versteckt, tun sich weit interessantere Themen auf. Anscheinend ist es jungen Forschern gelungen, menschliche Körperteile zu züchten, was nicht nur nette Investoren anlockt. Zudem will ein alter Gangster den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland zu Eskalation treiben. Und alle Machinationen und Intrigen werden von dem beinharten Kater Smiley misstrauisch beobachtet, der, wie es Katzen nun mal tun, sein Revier als Boss aller Katzen eifersüchtig schützen will. Das sind nur einige Handlungsstränge eines irrwitzigen Romans, der sich sehr virtuos (und von Diana Feuerbach großartig übersetzt) aus allem bedient, was Odessa als Stadt der Literatur und kosmopolitischem Melting Pot an der Schwarzmeerküste zu bieten hat. Vor allem Gogol und Isaak Babel sind omnipräsent, die phantastischen Elemente bewahren den Roman vor einem banalen Realismus. Für die harte Realität indes sorgt die aktuelle politische Situation, die im Roman jederzeit schon aufscheint. Aber vor allem ist das Buch eine große Liebeserklärung an eine wahnsinnig faszinierende Stadt.
Sally McGrane: Die Hand von Odessa (Odesa at Dawn, 2022). Übersetzt von Diana Feuerbach. Volandt & Quist, Berlin 2022. 197 Seiten, 24 Euro.

Tote Männer und hohe Berge
(TW) „Blutrodeo“, der Titel des zweiten Romans von Frauke Buchholz, bezieht sich auf die „Calgary Stampede“, das größte Rodeo der Welt, das seit 1912 in der kanadischen Provinz Alberta stattfindet. Dorthin, in den dünn besiedelten, aber ölreichen Westen, kommt der freischaffende Profiler Ted Garner, eingeladen von der lokalen Polizei, um eine Mordserie an sehr alten, schon eher moribunden Männern aufzuklären, denen man die Kehle durchgeschnitten hatte. Auch Garners Vater, ein knochenharter Ex-Colonel und Vietnam-Veteran lebt in dieser Gegend. Zusammen mit Samantha Stern, der jüngsten Chief Superintendent der Royal Canadian Police von Alberta, macht sich Garner an die Arbeit. Die Verbrechen scheinen mit der Stampede zu tun zu haben, mit dem Öl-Business und mit dem Vietnam-Krieg. Deswegen gerät auch Garners Vater in Gefahr, während der Profiler und Samantha Stern eher zunächst ein Hund-und-Katz-Verhältnis haben. Klar ist, dass Rache bei den Morden eine wesentliche Rolle spielt. Weniger klar, ob die Machenschaften eines gigantischen Öl-Konzerns der Auslöser für die Untaten sind oder ob die Wurzeln des Dramas nicht noch tiefer liegen.
Strukturell gesehen ist „Blutrodeo“ also ein fast klassisch zu nennender Ermittler-Roman plus Buddy-Motiv, der auch von einer nordamerikanischen Autorin stammen könnte. Zeitgeistig ist dabei Samantha Stern der dominantere Teil des Gespanns, während Garners muchomacho-Pose zwar nicht radikal dekonstruiert wird, aber zunehmend bröckelt. Samantha Stern, aus Israel eingewandert, wo sie in der Armee gedient hatte, ist die letztlich taffere Komponente des Duos, dessen gegenseitiges Angezicke durchaus unterhaltsam ist. Einen wichtigen und beeindruckenden Hintergrund für die Geschichte bilden die Schilderungen der ungeheuerlichen Umweltschäden, die die Ölindustrie in diesem Teil der Welt anrichtet und selbst die unendlichen Weiten von Zentralkanada an den Rand der Vernichtung treiben. Mit schlimmsten Folgen, auch für die Menschen, die dort leben und arbeiten. Noch erheben sich majestätisch und erhaben die Rocky Mountains am Horizont, „erhaben“ im Sinn der Ästhetik, irgendwo zwischen Burke, Kant und Schiller, gleichzeitig furchterregend und schön.
Es wäre unfair, „Blutrodeo“ in die Reihe der zur Zeit boomenden „Destination-Krimis“, also Krimis, die an beliebten Touristenzielen spielen, zu stellen. Frauke Buchholz hat lange in Kanada gelebt und sich mit den dortigen Kulturen beschäftigt. Ihr Blick auf Land und Leute ist scharf und präzise, ganz sicher nicht folkloristisch. Dass sie für ihre Geschichte einen Standard-Plot und eine Standard-Inszenierung gewählt hat (verschiedene Erzähler auf verschiedenen Zeitebenen, aber deutlich für Haupt- und Nebenfiguren gewichtet) ist clever, weil sie das kommunikative Potenzial solcher Romane nutzt, die dem Lesepublikum vertraut vorkommen und keine Zumutungen als Rezeptionsblocker aufbauen. Feines, traditionelles Handwerk – ein Buch, das man gerne liest.
Frauke Buchholz: Blutrodeo. Pendragon Verlag, Bielefeld 2022. 263 Seiten, 18 Euro.