Geschrieben am 15. Oktober 2016 von für Crimemag

Bloody Chops: Oktober 2016

Bloody Chops 3

Bloody Chops im Oktober 2016

Gehackt, angerichtet und serviert von Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM), Alexander Roth(AR), Frank Rumpel (rum), Thomas Wörtche (TW).

Über: Friedrich Ani, Ellen Blumenstein, Max Bronski, Dietmar Dath, Todd Goldberg, Veit Heinichen, Andrew Michael Hurley Max Landorff, Jack London, Gunther Reinhardt, Alexa Rudolph, Oliver Jens Schmitt, Yrsa Sigurðardóttir, Peter Temple, Daniel Tyradellis, Carl-Johan Vallgren, Matthias Wagner K, Matthias Wittekindt, Slavoj Žižek.


51j-tll8tl-_sx313_bo1204203200_Pflichtlektüre

(AM) Seit 2008 ist Peter Temple verstummt, seit „Truth“ in Australien erschien und vielfach ausgezeichnet wurde (2011 bei uns als „Wahrheit“ und Platz 1. Deutscher Krimi Preis). Immer wieder hört man, dass er an etwas Neuem arbeitet, aber der Druck nach den beiden Ausnahmeromanen „The Broken Shore“ (2005, bei uns 2007 als „Kalter August“) und „Truth“ scheint enorm zu sein. Der Fluch der Höhe, auf der man schreibt.

Jetzt wird eine frühe Lücke geschlossen, sein letzter noch nicht übersetzter Roman, „Die Schuld vergangener Tage“ (An Iron Rose) von 1998, liegt nun endlich vor. Nach dem Erstling „Vergessene Schuld“ (Bad Debts), dem ersten Jack-Irish-Roman, war dies ein Stand-alone, fiel unter den Tisch. Überhaupt ist die deutsche Publikationsgeschichte von Peter Temple recht crazy, sie begann wegen Verlegersperenzchen erst 2007, als bereits acht seiner bis heute neun Romane erschienen waren und er down under schon fünfmal den Ned Kelly Award und drei weitere Preise gewonnen hatte.

Ich weiß noch, dass ich ihm damals mit „An Iron Rose“ begegnet bin und seitdem auf jedes seiner Bücher gewartet habe. Als ich es jetzt wieder las, lag da kein Staub. Das Ding ist immer noch knochentrocken, unter der Sonne gebleichtes hartgekochtes Noir. Mac Faraday, der Ich-Erzähler, ist Schmied in einem kleinen Provinzkaff in Victoria, war Bundespolizist in Melbourne gewesen, Drogenfahnder. Hat, wie sich irgendwann herausstellt, das Leben der Reichen kennengelernt. Jetzt will er in der Provinz zur Ruhe kommen, lebt im Haus seines Vaters, konfrontiert sich mit den Schatten einer heftigen Kindheit. Mit zwölf hatte er gelernt: „Vergiss die Fairness. Du willst gefährlich sein. Mach einen auf verrückt. Keiner will sich mit einem Verrückten schlagen. Keiner will Finger in die Nase gesteckt kriegen.“ Der, der ihm das beibrachte, ein Aborigine und guter Freund, ist tot. Damit fängt das Buch an, hammerhart. Ein Selbstmord soll es gewesen sein. Mac glaubt das nicht und stöbert, findet Zeitungsartikel. Ein nacktes Mädchen mit Genickbruch, irgendwann nach 1984 in einen Minenschacht geworfen. Ein nacktes Mädchen, geschlagen, neben einer einsamen Straße im Oktober 1985…

Peter Temple erzählt ungeheuer ökonomisch, unmittelbar, lakonisch und frisch. Manche Linien muss man selber ziehen, Faradays Vergangenheit schält sich erst langsam auf. Das alles hat einen starken Realismus, einen trockenen Witz, ausgeklügeltes Tempo, lässiges Auftreten, richtig Schmiss. Temple schreibt präzise und prägnant über Arbeitswelt, genauer: Handwerk, auch das trägt zu Glaubwürdigkeit und Realismus bei. Faraday bohrt sich immer tiefer. Und dann ist sein neues Zuhause nicht mehr sicher. Er hat aus seinem früheren Leben die richtigen Instinkte, aber auch einen Virus mitgebracht, einen Krankheitserreger, hat die Symptome verdrängt und wider besseres Wissen gehofft, dass sie verschwinden. „Aber dieses Leben war vorbei. Wenn Männer in Polizeiuniformen kamen, um einen am Straßenrand neben dunklen Kartoffelfeldern zu liquidieren, war das ein eindeutiges Zeichen, dass das neue Leben vorbei war.“

Die Actionszene am Schluss lässt einen atemlos. Und man kann (Seite 306 bis 317) sehen, wo Don Winslow, der 1998 noch völlig konventionell schrieb, seinen Stakkato-Stil gelernt hat. Bei Temple aber ist das keine Attitüde, sondern dramaturgisch bestens gesetzt. Zu vollem Effekt. Dieser Roman gehört zu den besten Zweitlingen der Kriminalliteratur. Schön, dass er  jetzt auch deutsche Leser finden kann.

Peter Temple: Die Schuld vergangener Tage (An Iron Rose, 1998). Deutsch von Hans M. Herzog. Penguin Verlag/ C. Bertelsmann, München 2016. 332 Seiten, 10,- Euro.


51qf7qgeh5l-_sx297_bo1204203200_Rachefeldzug in Heiligsheim

(rum) Ludwig Dragomir ist ein von Hass getriebener. Seit er im süddeutschen Heiligsheim aufgetaucht ist, verschwinden dort alte Männer. Sie werden tot aufgefunden. Es könnten Unfälle gewesen sein. Doch so ganz sicher ist sich die Kommissarin Anna Darko da nicht. Sie hat Ludwig Dragomir in Verdacht, einen Zugezogenen Mitte Fünfzig. Mit den Eltern sei er früher jedes Jahr in Heiligsheim gewesen, kenne den Ort und die Menschen noch von damals, behauptet er.

Derweil verrät der Ich-Erzähler Dragomir schon früh, weshalb er zurückgekommen ist, er, der mit 14 nach Berlin floh, abstürzte, die Unterwelt streifte, einen Plan schmiedete. Er würde jene zur Rechenschaft ziehen, die damals reihenweise Jungen des Dorfes missbraucht, einen gar getötet hatten. Im Ort schauten einige weg, andere sahen tatsächlich nichts, die Opfer, acht-, neunjährige Jungen wurden mit einem System aus Belohnung und Bedrohung ruhig gehalten. Die Täter von damals sind bei Dragomirs Rückkehr alte Männer, respektierte Bürger, die ein Geheimnis teilen und sich gut eingerichtet haben. Einen nach dem anderen zieht Dragomir aus dem Verkehr.

Wie Friedrich Ani seinen Protagonisten vom Dorf aus Kindertagen, von einer verlorenen Jugend, von einem skrupellosen Pädophilenring erzählen lässt, ist in den Details, den Bildern immer wieder überraschend. Es ist ein Abgrund, der sich in diesem Ludwig Dragonir auftut, einem Geschundenen, dessen Zukunft bereits in jungen Jahren in Trümmern lag und der die bösartigen Kräfte, die da lange nur nach innen wirkten, nach außen richtet. Das ist nun nicht direkt luftiger Gutelaunestoff, sondern ein nachtschwarzes Stück Literatur, das präzise und emphatisch, mit einer gewissen Westernhaftigkeit von einem Opfer erzählt, das zum Täter mutiert. Ani schickt keinen seiner Kommissare los, um das Schicksal dieses Dragomir auszuloten, sondern lässt diesen emotional völlig Deformierten seine Rachegeschichte lieber gleich selbst erzählen. Und das macht der keineswegs forsch, sondern sacht und tastend, getrieben von einer stillen, nicht zu sättigenden Wut, auch gegen sich selbst. Ein ungewöhnlicher Ani-Roman und einer seiner besten.

Friedrich Ani: Nackter Mann, der brennt. Roman. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2016. 223 Seiten, 20 Euro.


51zqbo8fv2l-_sx299_bo1204203200_Sinnfragen

(TW) Die Tradition, in der Matthias Wittekindt auch mit seinem dritten Roman um den netten, dicklichen Lieutenant Ohayon im ebenso idyllischen wie fiktiven Fleurville, unweit der deutschen Grenze, steht, ist evident: Georges Simenon und seine Maigret-Romane. Das ist sowieso eine sehr sinnvolle Tradition, denn Simenons Poetik garantiert viel Komplexität auf engem Raum. Wittekindt konzentriert sich auf eine Gruppe beautiful people um die 30, die es schaffen wollen, in Fleurville, die nach oben wollen. Und deswegen „Freunde“ sind … oder auch nicht. Als einer von ihnen bei einem Autounfall mit seinem 2002er BMW zu Tode kommt, viviseziert Ohayon, der einen bestimmten Verdacht nicht loswird, die ganze Clique und ihr Umfeld.

Wittekindt bleibt dankenswerterweise auf dem Teppich. Es kommen keine ungeheuren Geheimnisse zum Vorschein, kein Komplott zur Vernichtung der Welt, kein irrer Killer (obwohl sich in der Peripherie eine sehr seltsame Gestalt mit deutschem Namen herumtreibt). Was Ohayon versucht zu enträtseln, sind menschliche Beziehungen, rätselhafte Relationen, das Gegenteil eines Masterplans oder Masterplots. Letztendlich eine Enquete, die sich mit der Kontingenz von Geschehnissen nicht abfinden will. Bei Simenon hatte man den Eindruck, er hätte dieses Problem menschlichen Dasein für sich gelöst – deswegen ist er einer der eisigsten Autoren der Literaturgeschichte.

Matthias Wittekindt ist noch auf der Suche, die fraglose Autorität der detection über eine bestimmte Wahrheit hat er immerhin schon dementiert. Das ist  sehr spannend, auch weil Wittekindt ein sehr bewusster Prosaautor ist. Das sieht man zum Beispiel an der clever gemachten Dialektik von Sentenz und narration, die einfach Spaß macht.

Matthias Wittekindt: Der Unfall in der Rue Bisson. Hamburg: Nautilus 2016, 224 Seiten, € 16,00


chop-distanz_ammo_e_coverIn Farbgewittern

(AM) Diese Ausstellung will provozieren, und der Katalog tut es auch. Er kommt daher wie ein Hochglanz-Lifestylemagazin. Models, Luxus, Style, Fashion, Kunst, Werbung, Design. Nur: Es geht um Waffen und Gewalt. Camouflage als Haute Couture auf dem Catwalk, Barbara Vinken über Mode und Militär, Friedrich Kittler über Literatur und Krieg. Die deutsche Kataloghälfte hat eine (israelische?) Soldatin in Khaki-Seidenbluse und Gegenlicht auf dem Cover, die englischsprachige zeigt gravierte und vergoldete Patronenhülsen. Oft muss man zweimal schauen. Der elegante Taser ist nicht von Braun sondern von Burn, wenn auch im gleichen Schriftzug, die elegante, anthrazitfarbene Schutzweste nicht von Fendi, sondern Fend. Die blassolivene Tretmine ist aus Harz, Hanf, Farbstoff und Mohnsamen. Da schweben Korsetts zwischen Rüstung und Fetisch, da gibt es elegante Armbänder im Patronengurt-Look aus Gold und Silber, da zeigt eine Fotostrecke den Millitary Look im Frankfurter Straßenbild. „Waffen wollen frei sein“ lautet die Überschrift zur Waffenproduktion aus dem 3-D-Printer, und ein anderer Text heißt „In Farbgewittern“.

Die zweisprachige (dt./en.) Publikation AMMO – kurz für das englische Wort ammunition (Munition) – aus dem Berliner Distanz Verlag ist kongenialer, integraler Teil der Ausstellung „Unter Waffen. Fire & Forget 2“ im Frankfurter „museum angewandte kunst“, das so heißt, seit dort Matthias Wagner K Direktor ist. Es ist der schneeweiße Richard-Meier-Bau am Museumsufer, nah am Eisernen Steg. Das Städel liegt ein Stückchen flussabwärts. Die Ausstellung folgt den Spuren der Welt der Waffen in Kunst, Mode, Design und Alltagskultur. Das ist interessant, manchmal auch affig, aber insgesamt sehr anregend. Es gibt ein breites Rahmenprogramm und man sollte sich nicht abschrecken lassen vom aufgeblasen pompösen Verbal-Gehabe in Texten und Ankündigungen. Kooperationspartner der Ausstellung ist der „Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen”“, dahinter verstecken sich ein paar Fachbereiche der Frankfurter Uni, Köpfe aus Mainz sind auch dabei. Es gibt Vorträge, Diskussionsrunden und Filmscreenings, insgesamt 14 Einzeltermine. Die ersten drei Termine widmeten sich der Rechtfertigung der Selbstverteidigung, Militärästhetik als Modetrend und Frauen, die im Film zur Waffe greifen. Im Februar gibt es Anthony Manns „Winchester 73“, darauf freue ich mich schon.

Ellen Blumenstein, Daniel Tyradellis, Matthias Wagner K: AMMO. Unter Waffen. Fire & Forget 2. Katalog zur Ausstellung im Frankfurter MAK. Deutsch/ Englisch. Distanz Verlag, Berlin 2016. Magazinformat, 350 Farb- und Schwarzweißabbildungen. 144 Seiten, 24,90 Euro. An der Museumskasse 14,90 Euro.
„Unter Waffen. Fire & Forget 2“,
Ausstellung im museum angewandte kunst, Frankfurt, 10.9.2016 bis 26.3.2017.


51prxdq-u3l-_sx327_bo1204203200_Nicht abschrecken lassen, lohnt sich

(JF) Harte Arbeit, karger Lohn, das scheint seit jeher das Schicksal kleiner Bauern. Doch auf dem Kettererhof im Schwarzwald setzt man auf behutsame Modernisierung. Zwar wird noch immer von früh bis spät gerackert, doch im Kuhstall kontrolliert ein Computer die Fütterung des Viehs. Gemolken wird ebenfalls vollautomatisch. Wer allerdings den Hof übernehmen wird, wenn Bauer Lutz und Gattin Erna sich zur Ruhe setzen, ist ungewiss. Der einzige Sohn lebt mit seiner Familie schon lange in der Stadt.

Dass die Welt auf dem Lande alles andere als in Ordnung ist, weiß die Provinzliteratur seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Alexa Rudolphs Kriminalroman „Das Schweigen der Schweine“ ist da keine Ausnahme. Wer sich von dem Juxtitel des als ‚Schwarzwald Krimi‘ apostrophierten Buches nicht abschrecken lässt, darf sich auf subtil und atmosphärisch dicht erzählte Spannungsprosa freuen. Die Handlung nimmt rasch Fahrt auf. In der Wäsche findet sich ein Hühnerfuß, und auf der Fußmatte liegt ein Schafskopf. Dann verschwindet die dreijährige Enkelin der Ketterers spurlos. Die Polizei ist also schon da, als es den ersten Toten gibt. Und es bleibt nicht bei einer Leiche. Kommissar Poensgen steht vor einem Rätsel, das sich allerdings im weiteren Verlauf des Romans fast von selbst löst, denn er hat es mit auskunftsfreudigen, wenn auch nicht immer wahrheitsliebenden Menschen zu tun. Letzteres wundert wenig, schließlich ist lebt es sich mit der Lüge scheinbar einfacher. Also erfährt der Kommissar die ganze Geschichte erst, als jemand eben dieses Zustands überdrüssig ist.  Und am Ende wird ein doppeltes Grab ausgehoben.

Für einen weiteren Fall gut ist allerdings der Ermittler. Kommissar Poensgen sitzt im Rollstuhl, sieht aus wie Wikileaks-Gründer Julian Asssange und hat Charisma. Eine solche Figur erfindet man nicht für einen einzigen Auftritt.

Alexa Rudolph: Das Schweigen der Schweine. Schwarzwald Krimi. 272 Seiten. Köln: Emons 2016. € 11,90.


Schmitt neu.inddSchlag nach bei Ambler

(AM) „Rumäniens Hitler heißt Corneliu Codreanu, und General Zizi Cantacuzino ist sein Göring. Codreanu war Rechtsanwalt, bevor er seine Partei, die „Liga des Erzengel Michael“ gegründet hat. Später nannte sich diese Partei „Eiserne Garde“. Dann gefiel ihnen ein neuer Name besser: „Vaterlandspartei“. Der Name aber ist ohne Bedeutung. Das Parteiprogramm ist das alte Lied: Antisemitismus, ein Korporativstaat und ein Bündnis mit Deutschland, „um Rumänien vor der jüdisch-bolschewistischen Gefahr zu retten“. Sie tragen grüne Hemden, und wenn sie nicht gerade Geld sammeln, widmen sie sich politischen Anschlägen und Terrorismus.“ So heißt es auf Seite 137/1838 von Eric Amblers „Ungewöhnliche Gefahr“ von 1937 (!), seinem zweiten Roman, in dem der verschuldete Journalist Kenton zu einem Spion wider Willen wird; eine der positiven Figuren ist übrigens ein KGB-Agent namens Andreas Zaleshoff.

Wie nahe der stets gut recherchierende Ambler schon in seinen frühen Büchern an der Wirklichkeit lag, das lässt sich jetzt – neben allem sonstigen Erkenntnisgewinn – aus einer Biographie eben jenes Corneliu Zelea Codreanu ersehen. Ihr Autor ist Oliver Jens Schmitt, in Österreich lehrender Schweizer Professor für die Geschichte Südosteuropas. Corneliu Zelea Codreanu, apostelgleich, in die Nähe Christ gerückt, gehört zu den großen charismatischen Führern extremer politischer Ideologien im Europa der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts. Außerhalb Rumänen fast ganz vergessen, dort heute noch von einigen neofaschistischen Nostalgikern verehrt, mobilisierte der Sohn eines Deutschlehrers aus der ostrumänischen Provinz die Gesellschaft vom Bauern bis zum Aristokraten, von Studenten bis zu den Arbeitern. Er versprach einen „Neuen Menschen“, ein neues, großes und starkes Rumänien. Die Ideologie der rumänischen Legion steht im Urteil der Historiker eigenständig neben dem deutschen Nationalsozialismus und dem italienischen Faschismus. Eric Ambler kommt im Buch nur mit einem Nebensatz vor. Aber dafür haben Sie ja CrimeMag. (Siehe auch unseren Klassiker-Check mit Eric Ambler.)

Oliver Jens Schmitt: Capitan Codreanu. Aufstieg und Fall des rumänischen Faschistenführers. Zsolnay, Wien 2016. 336 Seiten, 26 Euro.


51fcusmhq3l-_sx316_bo1204203200_Widrige Geschäfte

(rum) Den Pygmäen von Obergiesing nennen sie Alois Womack, einen so schwarzen, wie urbayrischen Tausendsassa, ein musikalischer Alleinunterhalter, der auch mal kongolesische Tänze aufführt, wobei er vom Kongo so viel Ahnung hat wie Max Bronskis Münchner Antiquitätenhändler Gossec, ein Mann mit nilpferdartiger Stresstoleranz und einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Als die Polizei mutmaßlich anlasslos auf der Straße einen Schwarzen kontrolliert, mischt sich Gossec ein und sitzt am Ende einen Tag lang neben Alois Womack im Knast. Die beiden freunden sich an und schon bald hat Gossec Gelegenheit, seinem neuen Kumpel aus der Klemme zu helfen. Denn der liefert die Musik zum Fest einer Immobilienfirma, die da – sozusagen als Paradiesvogel der Branche – mit sozialen Projekten von sich reden macht. Am Morgen nach der Party ist die Assistentin der Geschäftsleitung tot und Womack liegt bewusstlos neben ihr. Höchste Zeit für Gossec nachzuforschen, wobei er sich nebenher einen handfesten Schlagabtausch mit einem Geldeintreiber liefert und zudem ein paar Sozialstunden ableisten muss, was er in der Braustube eines nahen Klosters macht.

Recht ungelenk spürt Gossec nach sechs Jahren Pause in seinem fünften Abenteuer den Imobilienhaien nach, deckt erst unlautere, schließlich kriminelle Geschäftspraktiken auf, denen das Mordopfer vermutlich auf die Schliche gekommen war. Die Geschichte entwickelt sich einigermaßen absehbar, ist aber dennoch jede Minute wert, die man ihr widmet. Denn Bronski, alias Franz-Maria Sonner, hat seinen Erzähler Gossec mit scharfem Blick und feinem Sensorium ausgestattet, was ihn zu erstklassigen Charakterisierungen befähigt. Spielend durchdringt er die Oberfläche und weiß das Vorgefundene in beiläufig gedrechselte, so kenntnisreiche, wie spitzfindige Betrachtungen des Lebens (oder zumindest Teilen davon) zu verwandeln. München ist Gossecs Biotop, das Thema, um das es geht jedoch längst nicht lokal begrenzt. Aber in München trifft Gossec auf so manche endemische Art, wie etwa Alois Womack, der schlichte Erwartungshaltungen und Klischees dermaßen skrupellos bedient, dass er davon bestens leben kann. Das ist wieder mal bissig, pointiert und doch wunderbar entspannt erzählt.

Max Bronski: Der Pygmäe von Obergiesing. Roman. Kunstmann-Verlag, München 2016. 168 Seiten, 15 Euro.


Mord auf Bestellung von Jack LondonThriller mit Marxelementen

(AM) Am 22. November jährt sich Jack Londons Todestag zum hundertsten Mal. „Mord auf Bestellung“ ist gewiss sein seltsamstes Buch. Neuübersetzt von Eike Schönfeld, mit erhellenden Anmerkungen versehen und von Freddy Langer per  Nachwort in den Kontext gestellt, erlaubt dieser Klassiker jetzt eine Neuentdeckung. Der Manesse-Verlag macht vor, wie so etwas fundiert geht – anders als das gerade mit den unkommentierten, eher desinteressiert wirkenden Wiederauflagen von Eric Ambler bei Hoffmann & Campe geschieht. Nun also „Das Mordbüro“, wie das Buch in den bisherigen deutschen Auflagen und in meinem Kopf immer hieß. Es ist halb Thesen-, halb Agentenroman, halb Thriller, halb Sozialsatire und ehrlich gesagt, ein wenig uneben, aber eben nicht uninteressant. Jack London, lange Jahre Mitglied der Socialist Party der Vereinigten Staaten, hatte die Idee von  Sinclair Lewis vorgeschlagen bekommen, blieb irgendwann stecken, hinterließ ein Fragment. Es wurde rund 50 Jahre später von dem frischgebacken Edgar-Preisträger Robert L. Fish vollendet, bald schon mit Diana Rigg (ja, der von „Schirm, Charme und Melone“) als „Mörder GmbH“ verfilmt. Freddy Langer geht darauf ausführlich ein.

Ohne Moral würde sich selbst die Schwerkraft auflösen, heißt es in dem moralphilosophischen Thriller, der eine tödlich programmierte Sozialmaschine im Zentrum hat, die nur mit dem Tod ihres Schöpfers gestoppt werden kann. Es ist ein Auftragsbüro für Mord. Sinnvollen, moralisch vertretbaren, ja notwendigen Mord: 10.000 Dollar für einen Polizeichef; 100.000 Dollar für einen zweitrangigen Monarchen; eine halbe Million für Seine Majestät, den König von England – Diskretion garantiert. „Sie zahlen, wir morden!“ lautet die Devise der New Yorker Attentatsagentur. Einzige Bedingung: Die Liquidation des Opfers muss sozial nützlich und legitim sein …

100 Jahre nach seinem Tod ist es keine schlechte Sache, auf diese unterhaltsame Weise mit Jack Londons politischer Philosophie unterwegs zu sein. Es ist ein Agententhriller, in dem auch Marx, Nietzsche, Herbert Spencer und Darwin ihre Fährten legen.

Jack London: Mord auf Bestellung. Ein Agententhriller (The Assassination Bureau Ltd.; 1910/ 1963). Vervollständigt von Robert L. Fish. Aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönefeld, Nachwort von Freddy Langer. Manesse Verlag, Zürich 2016. 272 Seiten, 24,95 Euro.


51ljdyfxqll-_sx312_bo1204203200_Viele Tote & mangelnde Recherche

(JF) Für alles gibt es eine Erklärung, lautet eine eherne Thrillerregel. Je mysteriöser die Ausgangssituation, desto einleuchtender die Auflösung. Aber nicht jedem ist es gegeben, die richtige Spur zu verfolgen. August Maler ist so einer. Mit wachsender Verzweiflung hat der Kriminalkommissar im Fall der 18 Toten, die man eines Morgens in einer Bungalowsiedlung an der Isar fand, ermittelt. Ohne Ergebnis. Das ist zwanzig Jahre her, Maler ist schwerkrank und längst in Pension. Als eine alte Dame, die als bis zuletzt in der Siedlung lebte, ermordet aufgefunden wird, übernimmt eine junge Kollegin den Fall und rollt mit der Unterstützung des alten Kriminalisten die ganze Geschichte noch einmal auf. Eva Schnee scheint prädestiniert für die Aufgabe, ist sie doch selbst psychisch höchst labil. So will es zumindest die Logik des Genres.

„Die Siedlung der Toten“, der neue Thriller eines unter dem Pseudonym  Max Landorff publizierenden Routiniers, ist ein fast perfektes Produkt. Die Ingredienzien stimmen, der Plot  ist clever ausgedacht und das Timing rasant. Da fallen kleine Fehler bei der Herstellung  umso mehr ins Auge. Die Gegenwartshandlung spielt, nimmt man die Datierung ernst, im September und Oktober 2015. Rückblenden in die Zeit „vor fünfzig Jahren“ müssten dementsprechend ins Jahr 1965 führen. Also ist ein Satz wie „Und sie trug ein T-Shirt mit dem Namen ihrer Lieblingsband, ‚The Monkeys‘“ (sic!) gleich mehrfach falsch. Erst im September dieses Jahres nämlich erschien die berühmte Anzeige, in der „vier verrückte Jungs zwischen 17 und 21 Jahren“ gesucht wurden, um in einer Fernsehserie mitzuspielen. Die lief in Deutschland erst ab 1967, und zwar unter dem korrekten Titel „The Monkees“. Und T-Shirts mit Fanmotiven dürften hierzulande in den sechziger Jahren ziemlich selten gewesen sein.

Prophetische Begabung hätte auch jemand haben müssen, der 1965 bei einer Feier in der Neubausiedlung zur Gitarre „If you’re going to San Francisco …“ sang, um daraufhin von einem anderen Partygast als „Hippie“ bezeichnet zu werden.

Aber vielleicht sollte man sogar dankbar dafür sein, dass dem Lektorat diese popkulturellen Fehlleistungen entgangen sind, identifizieren sie den Roman doch als Erzeugnis menschlicher Einbildungskraft. Ein Schreibautomat hätte sicherlich vorher bei Wikipedia recherchiert.

Max Landorff: Die Siedlung der Toten. Thriller. 317 Seiten. Frankfurt: Scherz 2016. € 14,99.


 

chop_gr-dietmar-dath-superheldenchop-gr-gunther-reinhardt-twin-peaksFingerfood, sehr ordentlich

(AM) Reclams Universal-Bibliothek, die älteste deutschsprachige Taschenbuchreihe, bekommt eine (noch) kleine Schwester. 100 Seiten, 100 Minuten, das ist die Taktzahl einer neuen Reihe, mit der im Reclam-Verlag gerade das Programm aufgefrischt wird. Asterix, David Bowie, Jane Austen, die Gilmore Girls, John F. Kennedy, die Menschenrechte, die Reformation, Ovid, Ötzi, Resilienz und die beiden ab hier mit genau 200 Worten vorgestellten „Superhelden“ und „Twin Peaks“ gehören zur ersten Staffel. Gemeinsames Stilmittel ist eine persönliche Herangehensweise. Der Autor als Reiseführer und Conférencière.
„Rolling Stone“-Autor Gunther Reinhardt etwa erzählt, wie „Twin peaks“ für ihn die erste Fernsehserie war, die man ohne sich zu schämen verschlingen „und über die man als Geisteswissenschaftler in der Uni-Mensa – und bald sogar in Seminaren – fachsimpeln“ konnte, „ohne sich als Kulturmuffel zu outen“. Dietmar Dath, der schon als Kind Großteile seines Taschengelds in den Erwerb von Superhelden-Comics steckte, hatte es da deutlich schwerer, sein Interesse für „dieses Zeug“ zu legitimieren, dennoch hat er es auch damit längst, wie wir wissen, ins Feuilleton der FAZ geschafft (womit er nicht angibt).
100 Seiten, 100 Minuten, das reicht natürlich nicht für allzu viele Tauchgänge, aber in beiden Fällen sind es ziemlich vergnügliche Exkursionen mit viel Informationsgehalt geworden. Gunther Reinhardt zeichnet zentrale Handlungsmotive, narrative Besonderheiten, die besondere Ästhetik, die Charaktere und Serienmacher nach und macht deutlich, wie sehr „Twin Peaks“ das Fernsehen revolutioniert hat. Dietmar Daths Leistung, das Superhelden-Universum im Schnelldurchlauf zu durchleuchten, ist beinahe noch höher zu veranschlagen. Eine pfiffige Kapitelaufteilung, eingestreute Infokästen und ein fast süffiger Erzählton machen die schmalen Bände sehr lesbar. Am Ende gibt es jeweils noch weiterführende Lektüretipps.

Dietmar Dath: Superhelden. 100 Seiten. Reclam Verlag, Stuttgart 2016. Broschiert, 100 Seiten, 9 Abb., 10 Euro.
Gunther Reinhardt: Twin Peaks. 100 Seiten. Reclam Verlag, Stuttgart 2016. Broschiert, 100 Seiten, 7 Abb., 10 Euro.


Steidl_Bogmail_Cover.inddWissen als Waffe

(rum) Geballtes Wissen fällt in Patrick McGinleys Debüt „Bogmail“ einen Mann. Nicht ausversehen, sondern ganz und gar absichtlich. Mit Band 25 der Enzyclopaedia Britannica schlägt der Kneipenbesitzer Roarty seinem lästigen Barkeeper den Schädel ein und verscharrt dessen Leiche im irischen Moor. Dabei war der Mann vor allem Opfer einer fixen Idee. Roarty fand, er sei ein böser Mensch und müsse weg. Ist die wohl geplante Tat zunächst eine Befreiung, wird sie bald zur Last. Bogmailer (eine Zusammensetzung aus bog für Moor und Blackmailer, also Erpresser) nennt sich der Briefschreiber, der Geld von Roarty fordert und diese Forderung unterstreicht, indem er dem Dorfpolizisten einen Fuß des Opfers schickt. Roarty ist sich sicher, den Bogmailer unter seinen Gästen zu finden. Im Verdacht hat er einen zugezogenen Engländer.

Den Mikrokosmos eines Dorfes in der im Nordwesten gelegenen irischen Grafschaft Donegal fängt der 1937 geborene  Patrick McGinley (nicht zu verwechseln mit dem deutschen Autor gleichen Namens) mit spitzer Feder ein. Im Zentrum stehen dabei jene, die sich an Roartys Tresen tummeln, etwa ein Polizist, der sich jeden Morgen bei einem Pint Black and Tan über seine kriminalistische Intuition auslässt, ein Engländer, der für ein Londoner Bergbauunternehmen arbeitet und sich langsam ins Kneipengefüge trinkt, oder ein Dorfintellektueller, dessen Berichte für den Donegal Dispatch allenfalls lose an die Realität anknüpfen. Während dort also ordentlich was weggekippt wird, entspinnen sich großartig belanglose Gespräche über die Schnepfenjagd, Regenwürmer, die weibliche Sexualität, es bahnen sich Intrigen an und der mit seinem Verbrechen hadernde Roarty hört genau hin, um so vielleicht seinen Erpresser auszumachen. Und es gibt weitere Verwicklungen, die für Unruhe im engen Dorfgeflecht sorgen.

Als pornografisch und beleidigend für die Dorfbevölkerung wurde das Buch bei seinem Erscheinen 1978 gebrandmarkt. Es ist weder das eine, noch das andere. McGinley weiß um die zahlreichen Spielarten menschlicher Niedertracht und hat eine diebische Freude daran, das vermeintliche Dorfidyll samt den Mechanismen, nach denen das Zusammenleben funktioniert, mit wildem Humor in präziser Prosa und kunstvoll gedrechselten Dialogen zu zerlegen – und es anschließend wieder zusammenzufügen. Schön, dass man das jetzt auch in einer guten Übersetzung nachlesen kann.

Patrick McGinley: Bogmail. Roman. (Original: Bogmail, London, 1978, Neuauflage: Dublin, 2013). Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl-Verlag, 343 Seiten, 24 Euro.


DNA von Yrsa SigurdardottirHier müssen sogar die Fliegen den Opfertod erleiden

(AM) Das hatte ich auch noch nicht: die Opfer-Perspektive einer Stubenfliege, der ein anscheinend böser Mensch (der Mörder????) beim Sterben zusieht oder es zumindest teilnahmslos in Kauf nimmt. Es ist der Anfang von Kapitel 3, zuvor war schon ein Mordopfer mit Klebeband umwickelt und dann mit einem erst einmal noch unbenannt bleibenden Haushaltsgerät unsagbares Leid angetan worden. Jetzt aber auf Seite 42 die Stubenfliege, die sich an dem kleinen Kellerfenster abkämpft: „Ihre Kraft schwand … Sie legte eine Verschnaufpause ein…“ Wirklich, steht da so auf Seite 45.

Ok, eine Frau schreibt hier über Frauen, die überfallen und grauslig umgebracht werden. Im ersten Fall ist es ein in den Hals gerammtes Staubsaugerrohr, das Gerät wird vom bösen Mörder eingeschaltet, ehe er geht. Er ist nicht gern dabei beim Sterben. Auch von der Fliege wendet er sich ab; also, zumindest die Person, die vielleicht der Mörder sein könnte. Wir brauchen ja falsche Fährten und Sackgassen und McGuffins. Irgendwann wird es dann doch ein ganz ordentlicher Ermittlungsroman. „Das Motiv ist ok“, habe ich mir notiert. Der Mörder ist nicht der Gärtner, aber so etwas Ähnliches. Ich bin mit diesem als Thriller bezeichneten Kriminalroman nicht warm geworden, was gewiss nicht daran liegt, dass er aus Island kommt und mir Weisheiten präsentiert werden wie: „Isländische Mörder gestehen zwar in der Regel, wenn sie gefasst werden…“

Yrsa Sigurðardóttir ist eine in Deutschland bekannte und viel gelesene Autorin. „Das letzte Ritual“, „Das gefrorene Licht“, „Das glühende Grab“, „Die eisblaue Spur“, „Feuernacht“, „Todesschiff“, Geisterfjord“, Seelen im Eis“ oder „Nebelmord“ heißen ihre Romane. Die meisten kreisen um die laut Verlagswerbung „humorvolle, alleinerziehende Ermittlerin, Rechtsanwältin Þóra Gudmundsdottir“, der sie „einen deutschen Liebhaber, den Ex-Polizisten Matthias, zur Seite gestellt hat“. In „DNA“ tritt erstmals Kommissar Huldar von der Kripo Reykjavik auf, der mit der Psychologin Freya zusammenarbeiten muss „mit der er vor kurzem nach einer Kneipentour unter falschen Angaben die Nacht verbracht hat“. I’m not excited.

Yrsa Sigurðardóttir: DNA. Aus dem Isländischen von Anika Wolff. Verlag btb, München 2016. 480 Seiten, 19,99 Euro.


51mdqe66ivl-_sx311_bo1204203200_Zwischen Tora und Toten

(rum) 15 Jahre lang arbeitete Sal Cupertine als Auftragskiller für eine Chicagoer Mafia, wurde nie erwischt. Doch dann brennen ihm ein einziges Mal die Sicherungen durch. Er tötet drei FBI-Beamte, fürchtet anschließend selbst um sein Leben. Stattdessen wird er zwischen gefrorenen Rinderhälften in Kühllastern nach Las Vegas geschleust, wo ein neues Leben auf ihn wartet – als Nachwuchsrabbi David Cohen.

Der 1971 geborene Autor und Journalist Tod Goldberg hat sich diese Geschichte ausgedacht und treibt sie mit trockenem Humor voran. So hat sich Cupertine zwar mit den wichtigsten Schriften des Judentums beschäftigt, doch stammt manches, was er da als Rabbi äußert, nicht aus der Tora, sondern aus Songs von Bruce Springsteen und Neil Young. Der Schwiegersohn des Tempelvorstehers ist Kopf der örtlichen Mobster und hat den Chicagoer Killer kommen lassen, weil der sich um ein ganz spezielles Geschäftsfeld kümmern soll.

Aus einer kurzen Erzählung hat der in Kalifornien lebende Tod Goldberg (der selbst aus einer jüdischen Familie stammt) diese Geschichte entwickelt. Und das merkt man ihr gelegentlich an. Zunächst temporeich, verliert sie im Mittelteil deutlich an Schwung. Da versucht sich der Rabbi-Novize in seinem neuem Leben zurecht zu finden, dabei weder an Flucht, noch an seine Frau und sein Kind in Chicago zu denken und überhaupt alles unter einen Hut zu bringen. Er ist auf der einen Seite intelligenter Killer, der, mit der Empathie einer Kartoffel ausgestattet, auch als Rabbi nur Mord zur Problemlösung in Erwägung zieht, als er merkt, wie weit die kriminellen Netzwerke doch reichen und wie schwer es ist, ihnen zu entkommen. Gleichzeitig versucht er die religiösen Texte zu verinnerlichen und ist Seelsorger in der jüdischen Gemeinde. Das ist gelegentlich ziemlich komisch, auch weil es so gar nicht zusammenpassen will. So ganz überzeugend allerdings ist die Figur hier nicht.

Einen lange parallel laufenden Erzählstrang widmet Goldberg einem ehemaligen FBI-Beamten, der sich an Cupertines Fersen geheftet hat und ihn zur Strecke bringen will. Klar, dass sich die beiden begegnen werden und klar, dass der Roman im Wesentlichen daraus seine Spannung bezieht, was dann doch etwas dünn ist. Dennoch: Über weite Strecken erzählt Goldberg hier eine reichlich schräge, mit Szenen voll schneidendem Witz gespickte, handfeste, aber unterhaltsame Gangstergeschichte.

Tod Goldberg: Gangsterland. Roman. (Original: Gangsterland, Berkeley; 2014). Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet. C.Bertelsmann. 382 Seiten, 14,99 Euro.


Schweine von Carl-Johan VallgrenWelt aus den Fugen, sogar die Schamlippen hängen schief

(AM) Das hatte ich auch noch nicht (II): einen Roman, der sich die Mühe macht, eine Thai-Stripperin, die der Hauptprotagonist nicht anzustarren umhin kann, solcherart zu beschreiben: „Die spitzen Brüste mit den fast schwarzen Warzenhöfen, das Schamhaar zu einem Herz frisiert, eine Schamlippe größer als die andere. Irgendwie hing sie fast ein wenig traurig herunter.“ (Echt, Seite 165.)

Ist schon eine traurige, ungleich groß herunterhängende Welt, durch die Schweden-Autor Carl-Johan Vallgren seinen „von den Dämonen der Vergangenheit heimgesuchten“ Privatermittler Danny Katz waten lässt. Der war schon in „Schattenjunge“ unterwegs, jetzt ist die Freundin seines Dealers verschwunden und es wird noch eine Schippe „Sex.Gier.Sucht“ (Klappentext, außen) und „Perversion und Gewalt“ (Klappentext, innen) draufgelegt. Wer es dreckig haben will und „brutal und rabenschwarz“ (Klappentext, hinten), dem wird hier eine „fast schmerzhafte Lektüre“ (ebenfalls hinten) offeriert.

Pustekuchen. Zwar geht es hier ungewaschen und eklig zu, finden sich Frauen in Käfigen, gibt es uninspirierte Pornoszenen und Rückblicke auf ein Bordell in einem Konzentrationslager, wird eine Nadel direkt in ein Auge gestochen, aber es ist einfach nur der übliche Wurstsalat solcher Machwerkschinken. Die freilich ihre Leser haben und eine Kritik nicht brauchen. Überhaupt, was soll’s. Jedem Tierchen sein Pläsierchen: „In jeder Minute sterben 108 Menschen auf der Welt… Jede Stunde 6480. Jeden Tag 155520. Welche Rolle spielt da einer mehr oder weniger? Und wenn es sich noch so sehr um ein Schwein handelte.“ (Seite 353.)

Seinen ersten Thriller „Schattenjunge“ veröffentlichte Carl-Johan Vallgren 2013 in Schweden unter den Pseudonym „Lucifer“. Und jetzt „Schweine“ wird von „Crime. Das True-Crime-Magazin vom stern“ empfohlen, das freilich ist für keine der Seiten ein Kompliment. Ob die Bücher auch gelesen werden, bevor es solche Sticker gibt? Am perversesten an solchen aus Brühwürfel-Nihilismus und Instant-Noir zusammengebrauten Büchern finde ich immer, wenn im Klappentext so etwas steht: „… ist er heute mit seiner Frau und seinen drei Kinder in Stockholm zu Hause.“ Pecuniam non olet, aber die Kinder tun mir trotzdem leid.

Carl-Johan Vallgren: Schweine (Svinen, 2015). Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann. Heyne Encore, München 2016. Paperback, Klappenbroschur, 400 Seiten, 16,99 Euro.


41rngw42gol-_sx302_bo1204203200_Aus der Zeit gefallener Schauerroman

(AR) The Loney. Ein „ein rauher, nutzloser englischer Küstenstreifen“ an der Irischen See, ein mythischer, „gefährlicher Ort“ außerhalb einer immer schneller werdenden Welt. Dorthin ist 1976 eine Gruppe Pilger unterwegs, die, wie schon so oft, am Schrein der heiligen Anne für einen der ihren beten möchte. Andrew, ein stummer, sonderbarer Junge auf der Schwelle zum Erwachsenen, soll von Gott „geheilt“ und seine Eltern damit erlöst werden. Doch die Dorfgemeinschaft ist zerrüttet. Father Wilfred, der Gemeindepfarrer, mit dem sie The Loney zu besuchen pflegten, starb erst wenige Monate zuvor auf seltsame Weise, und auch wenn niemand wagen würde es auszusprechen, so hat es wahrscheinlich mit diesem Ort zu tun. Dazu kommt, dass der „Neue“, Father Bernard, ein Christentum predigt, dass der Gruppe fremd ist – so ganz ohne Schuld und Selbstkasteiung. Tonto, Andrews jüngerer Bruder, erzählt die Geschichte dieser unheilvollen Reis, die von Anfang an unter keinem guten Stern steht. Es ist eine Geschichte von aus Verzweiflung geborenem spirituellem Wahn, fehlgeleiteter Liebe und den dunklen, alles verschlingenden Kräften hinter den Dingen.

„Loney“, das vielbeachtete, mit dem Costa Book Award für das beste Debüt des Jahres 2016 erste Buch von Andrew Michael Hurley, ist eine waschechte gothic novel. Langsam, ja gar behutsam baut der Autor seinen Roman vor dem Lesepublikum auf, lenkt es mit Sätzen, die so schön sind, dass man sein Zimmer damit tapezieren möchte, von der sich leise anschleichenden Bedrohung ab, nur um es in den letzten Kapiteln vollends und nachhaltig zu verstören. „Die Hölle war ein Ort, an dem Kinderlogik herrschte. Ewig währende Schadenfreude.“ Ein beeindruckendes Buch. Ebenso wie der Ort, von dem es erzählt, wirkt es mit seiner barocken Schwere, der unaufgeregten, lyrischen Sprache und der atmosphärisch aufgeladenen Ereignislosigkeit wie ein Anachronismus. Als wäre es uns aus einem verstaubten Bücherregal direkt vor die Füße gefallen. „Selten sind Debütromane so vollendet“, schrieb der Telegraph. Stimmt. Aber das ist nicht alles. „Loney“ ist die Art von Literatur, die mich daran erinnert, warum ich ursprünglich mal mit dem Lesen angefangen habe: Weil meine Nase irgendwann in einem Buch wie diesem verschwand und bis heute nicht wieder auftauchte.

Andrew Michael Hurley: Loney. Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. Gebundene Ausgabe. Ullstein, Berlin 2016. 384 Seiten, 22 Euro.


41bbb7dvkxl-_sx303_bo1204203200_Wilder Ritt durch die Gärten der Erkenntnis

(AM) Philosophen sind Detektive. Sie suchen Sinn und Verknüpfung, wollen Antworten und stellen Fragen, die sonst niemand hat. Inspektor Slavoj Žižek ist ein besonders notorischer Fall, der Titel „Weniger als nichts“ für sein Opus Magnum purer Euphemismus. Das Ding hat Ziegelsteindicke. 1408 Seiten. Das einen ganzen Stapel Kriminalromane aufwiegende Werk gibt es jetzt als Taschenbuch und um 20 Euro erschwinglicher als das Hardcover es war. Wie Columbo lungert Slavoj Žižek manchmal scheinbar absichtslos in den Türrahmen philosophischer Gebäude, klingelt an den Türen von Fichte, Spinoza, Freud, Marx, Kant, Heidegger, Platon, Badiou und immer wieder bei Lacan, sucht den Weg zu Hegel, bei dem ein derart großer Erkenntnisschatz liegen muss, dass es solch eine große Expedition lohnt. Arbeitstitel: „Hegel auf die Füße stellen.“ Für Žižek steht fest: Die Moderne begann mit Hegel. Und sie wird mit Hegel enden. Mit ihm sei zum ersten Mal deutlich geworden, dass wir „die Realität“ gar nicht „als absolutes Ganzes“ begreifen können.

Um dem nachzugehen,  rüttelt er an vielen Denkgebäuden, untersucht Kino wie Kriminalromane auf ihr Verhältnis zur dialektisch gerade ja durch die Fiktion behaupteten Realität. „Eppur si muove“, Galileos heimlich gemurmelten Satz, „Sie bewegt sich doch“, den er 1633 beim Abschwören seiner Theorie vor der Inquisition heimlich gemurmelt haben soll, ist sein Leitbild. „The Truth Is Out There“ sagt schließlich nicht nur die Tagline der „X-Files“. Sternenstaub und Meteoritensplitter, erstaunlich viele Witze, Abschweifungen in die Musik- und Filmgeschichte, zum Orgasmus der Frau, zu Pöbel und Sex, zum Vierer aus Schrecken, Angst, Mut und Enthusiasmus und dann auch noch die Quantenphysik, ein Reichtum an Assoziation und Veranschaulichung erwartet die Leser. Undiszipliniert war Žižek schon immer, hier ist es Programm. In seinem Kino, wo er oft die Plots im Sinne Lacans psychoanalytisch liest, laufen Hunderte Filme, zum Beispiel Western mit Charles Bronson, „The King’s Speech“ und „The Black Swan“, Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“, Hal Ashbys „Willkommen Mr. Chance“, die „Short Cuts“ von Robert Altman und dessen „subliminale Realität“ – mit ihren bedeutungslosen, mechanischen Schocks, eine Abwesenheit des unerreichbaren und schwer fassbaren Zentrums wie bei Kafkas „Schloss“. Wir treffen Dashiell Hammett vor dem Kongressausschuss für Un-Amerikanische Umtriebe (HUAC) und immer wieder  Gilbert K. Chesterton. In „Was unrecht ist an der Welt“ schrieb er 1924: „Gerade die verlorenen Prozesse der Weltgeschichte hätten vielleicht die Welt erlösen können.“

Die erste Entscheidung muss immer die falsche Wahl sein, denn nur die falsche Wahl schafft die Bedingungen, sich richtig zu entscheiden, findet Žižek. Wenn das, was wir als Realität erfahren, seine Konsistenz bewahren soll, muss es durch eine „virtuelle“ Fiktion ergänzt werden. Chesterton hat diese bereits vom Panoptikum-Erfinder Jeremy Bentham erkannte Paradoxie in seiner „Verteidigung des Schundromans“ so gefasst: „Literatur und Geschichten sind zwei sehr verschiedene Dinge. Die Literatur ist ein Luxus, die Geschichten sind eine Notwendigkeit.“

Slavoj Žižek: Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus (Less Than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism, 2012). Aus dem Englischen von Frank Born. suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Berlin 2016. Broschur, 1408 Seiten, 29 Euro.

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