
Kurzbesprechungen von Joachim Feldmann (JF) und Alf Mayer (AM):
Steve Cavanagh: Liar. Der dritte Fall für Eddie Flynn
John Connolly: Shadow Voices. 300 Years of Irish Genre Fiction
S.A. Cosby: My Darkest Prayer
Jose Dalisay: Last Call Manila
James Dickey: Wenn es dunkel ist. Ausgewählte Gedichte
Tommie Goerz: Im Tal
Nevala & Karlsson: Zwielicht. Verrat.
Mary Paulson-Ellis: Das Erbe von Solomon Farthing
Don Winslow: City of Dreams

Biografie und Historie, sinnhaft verknüpft
(JF) Nordfrankreich gegen Ende des ersten Weltkriegs. Ein Häuflein britischer Soldaten, unter ihnen gerade erst eingezogene, blutjunge Rekruten, hat sich auf einem verlassenen Bauernhof in unmittelbarer Nähe zur Front eingerichtet. Mit Wetten und Glückspielchen um Habseligkeiten von geringem materiellem Wert vertreiben sie sich die Zeit. Dann kommt der Befehl zum Angriff, der für die meisten den sicheren Tod bedeuten würde. Doch ihr Anführer, Captain Godfrey Farthing, hält das Schreiben geheim, denn er will, dass seine Männer heil nach Hause kommen. Einen Toten hat es bereits gegeben, das ist zwei Jahre her. Die Schuld daran lastet schwer auf Farthings Gewissen, obwohl er sich laut Kriegsrecht nichts vorzuwerfen hat.
Fast ein Jahrhundert später spürt der Enkel des Offiziers den alten Geschichten nach. Aber nicht aus historischem Interesse. Solomon Farthing ermittelt die Erben, wenn ein Nachlass nicht sofort zuzuordnen ist, und lebt von der Provision. Ein mühseliges Geschäft für einen Herrn im Pensionsalter ohne Rücklagen, aber mit Spielschulden. Doch als ein hochbetagter Bewohner eines Edinburgher Altenheims stirbt und 50.000 Pfund, eingenäht in seinen Anzug, hinterlässt, wittert Farthing die große Chance, sich zu sanieren und beginnt mit der Detektivarbeit. Dass deren Ergebnis ganz anders ausfällt als erwartet, überrascht nicht. Denn wir haben es mit dem zweiten Roman der schottischen Autorin Mary Paulson-Ellis zu tun, deren virtuos komponiertes Debüt „Die andere Mrs. Walker“ Maßstäbe für historisches Erzählen setzte (meine Besprechung „Bilderstarke Prosa“ hier).
Wie sein Vorgänger, dessen Hauptpersonal in Nebenrollen wieder auftaucht, erzählt Das Erbe von Solomon Farthing eine vielfach verflochtene Geschichte von den langen Schatten des scheinbar Vergangenen. Und wieder spielen unscheinbare Gegenstände – Würfel, ein silbernes Abzeichen, ein blauer Pfandschein – eine große Rolle, denn sie verknüpfen auf sinnlich erfahrbare Weise Biografie und Historie. Und eine tragikomische Figur wie der glücklose Erbenermittler Solomon Farthing gewinnt ungeahnte Größe.
Mary Paulson-Ellis: Das Erbe von Solomon Farthing (The Inheritance of Solomon Farthing, 2019). Deutsch von Kathrin Bielfeldt. Ariadne Verlag, Hamburg, 2023. 477 Seiten, 25 Euro.

Ein Sarg von vielen, stellvertretend beachtet
(AM) Ohne Förderung wäre dieser Roman vermutlich nicht auf den deutschsprachigen Markt gelangt. Und es wäre klar ein Verlust. Zu verdanken ist dieser Blick in die philippinische Literatur – und damit in die gesellschaftliche Realität – dem gemeinnützigen literarischen Verein Litprom e.V., dessen „Weltempfänger“ wir regelmäßig bei uns vorstellen. Mitte März 2023 ist zudem ein neuer Postcast gestartet, mit dem unser Redaktions- und Weltempfänger-Jurymitglied Sonja Hartl „Auf Weltempfang“ geht und mit Übersetzerinnen und Übersetzern sowie einem weiterem Mitglied der Jury über das Übersetzen von globalen Literaturen spricht (siehe hier und hier).
Litprom wurde 1980 aus Anlass des Buchmesse-Schwerpunkts Schwarzafrika in Frankfurt gegründet und ist seit 1984 auch als Anlaufstelle für die Förderung von Übersetzungen belletristischer Werke aus Afrika, Asien und Lateinamerika ins Deutsche aktiv. Das Programm soll den literarischen Kulturaustausch verstärken und die Veröffentlichung zeitgenössischer Literatur befördern, tut das auch mit großer Effizienz. Ungezählte Entdeckungen haben wir ihm mittlerweile zu verdanken. Finanziert wird das wird aus Mitteln des Auswärtigen Amtes und des Schweizer SüdKulturFonds und befördert von viel Herzblut und kundigem Engagement. Auch die Übersetzung von Last Call Manila wurde damit gefördert, oder um es deutlicher zu sagen: ermöglicht. Nur so können tolle Verlage wie etwa hier Transit solche Bücher herausbringen.
Der Roman stammt aus dem Jahr 2008, er hat nicht einen einzigen Tag an Aktualität und Relevanz verloren. Sein Autor Jose Dalisay, Jahrgang 1974, ist einer der bekanntesten und produktivsten Schriftsteller der Philippinen, Autor von über 20 Büchern (fünf davon Romane) und von 23 Drehbüchern. Die Liste seiner Auszeichnungen ist immens, darunter alleine 16 Mal das Äquivalet des Pulitzer Preises. In Italien und Frankreich ist er übersetzt, sein erster Roman stammt von 1992, in Deutschland ist Dalisay noch völlig unbekannt. Ähnlich wenig wissen wir von Thema dieses Buches – von den „unsichtbaren“ Schicksalen der Arbeitsmigrantinnen und –migranten, die uns der Roman personifiziert und in aller brutalen Realität vor Augen führt. Nach Einschätzung der philippinischen Regierung verdingen sich jährlich rund acht Millionen „Oversea Workers“ zu nicht selten sklavenhaften Bedingungen irgendwo auf der Welt, heißt es im Buch. Und weiter: „Tatsächlich waren es mit Sicherheit ein paar Millionen Filipinos mehr, die auf keiner Liste, nur in den vagen Erinnerungen der Zurückgebliebenen auftauchten – die Verschwundenen und die freiwillig Ausgewanderten, die Leichtfüßigen und die Gerissenen, die Auferstandenen und die Wiedergeborenen.“ 600 von ihnen kommen jedes Jahr in einem Sarg zurück. Einem dieser Särge folgt der Roman…
Jose Dalisay: Last Call Manila (Soledad’s Sister, 2008). Aus dem Englischen von Niko Fröba. Transit Buchverlag, Berlin 2023. Hardcover, 208 Seiten, 22 Euro.

So breit, dass die Zeilen atmen können
(AM) Wir kennen ihn nur als Autor von „Deliverance“ (Flussfahrt, 1970), der Romanvorlage für den John-Boorman-Film „Beim Sterben ist jeder der Erste“. Der aus Georgia stammende James Dickey aber war mehr. Vor allem war er Poet, von Jimmy Carter berufen, sogar der erste Poet Laureate der Vereinigten Staaten; zur Amtseinführung Carters schrieb er das Gedicht „The Strength of Fields“. Als „Die Kraft der Felder“ findet es sich in der von Christophe Fricker besorgten und übersetzten Gedichtauswahl Wenn es dunkel ist, zum 100. Geburtstag von James Dickey bei den Berliner Weissbooks erschienen.
Das überformatige, wertige Hardcover ist ein Lyrikband wie er sein muss: Seiten und Satzspiegel so breit, dass die Zeilen und die Worte atmen können. Die Übersetzung erstklassig. Ein Nachwort wie das von Christophe Fricker würde ich mir öfter auch in anderen Büchern wünschen, denn kaum jemand (nein: niemand) hat sich mit einem Autor so auseinandergesetzt wie sein Übersetzer/ seine Übersetzerin. Für Fricker war es auch eine körperliche Erfahrung. Denn „James Dickey drängt vorwärts“. Seine Gedichte zum Marathon oder zum Mondflug liest man nicht nur, man macht sie mit. Das typische Dickey-Gedicht ist eines der Meditation über eine Erinnerung oder eine Erfahrung, gibt hochverdichtet Sinneseindrücke wieder.
Herausgeber Fricker teilt seine auf „The Whole Motion: Collected Poems 1945-1992“ beruhende Auswahl in drei Kapitel: Familie, Naturmystik, Amerika. Auch der berühmte „Apollo“-Zyklus ist dabei. Auf Einladung des amerikanischen Nachrichtenmagazins „Life“ war der ehemalige Kampfflieger Dickey nach Florida zur Crew der Apollo 8 gereist, schrieb dann „Auf die erste bemannte Mondumrundung“ und „Der feste Grund des Mondes“. (… Keine anderen Männer, konnten/ Die Schuhe ausziehen und fliegen…)
Ich bin anders geworden, seitdem/ Meine Stimme den Reichen gefällt, heißt es in „Ein Folksänger der Dreißiger Jahre“. Sein Gedicht „Zucker“ beginnt der jahrzehntelange Alkoholiker Dickey mit „Ich hatte nachts Durst wie ein Prinz Wie ein König … “ Sein Romanhauptwerk „Alnilam“ (1987, 682 Seiten, ein „Moby Dick“ der Lüfte; „Prometheus Blind“ überschrieb die NYT ihre Rezension) wartet immer noch auf Übersetzung: eine von einem erblindeten Vater über seinen Sohn erzählte Fliegergeschichte zwischen Weltkrieg und Metaphysik, James Salter und Saint-Exupéry im Quadrat, teils zweispaltig gesetzt und in Licht und Dunkel geteilt, erhöhte Sinneswahrnehmung auf jeder Seite…
James Dickey: Wenn es dunkel ist. Gedichte. Ausgewählt, herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Christophe Fricker. Essay von Joshua Mehigan. Weissbooks Verlag, Berlin 2023. Hardcover, 112 Seiten, 22 Euro.

Tragödien klassischer Dimension
(JF) Im letzten Kapitel des Romans sitzt der Held in der Falle. Das Ende scheint nah. Und der Autor kann zeigen, dass er die Erzähltechniken der klassischen Moderne aus dem Effeff beherrscht. Interpunktionsloser Bewusstseinsstrom wie beim alten Joyce? Kein Problem, aber nur für ein paar Seiten, schließlich haben wir es mit Spannungsliteratur zu tun. Wir wollen wissen, wie es weitergeht, wenn Danny Ryan aus seinem Rausch, verursacht von einer Handvoll magischer Pilze, erwacht.
Es wird schlimm, soviel kann man getrost verraten. Aber nicht so schlimm, dass nicht noch genug Leben für einen weiteren Band in dem irischen Mobster mit dem weichen Herzen stecken würde. Dann wäre Don Winslows Trilogie über verfeindete Mafia-Familien irischer und italienischer Herkunft in Providence/Rhode Island komplett. Wenn es soweit ist, so war zu hören, werde er den Schriftstellerberuf an den Nagel hängen, um sich mit ganzer Kraft dem Kampf gegen eine mögliche zweite Präsidentschaft Donald Trumps zu widmen. Das ist ehrenvoll, aber bedauerlich. Denn Winslow erweist sich in City of Dreams, dem zweiten Band der Saga, als Erzähler auf der Höhe seiner Kunst.
Vergils „Aeneis“, die römische Variante von „Illias“ und „Odyssee“, liefert nicht nur die Motti, sondern dient auch als Vorlage für die Gestaltung des Plots. Danny Ryan, der beschädigte Held, wird betrogen und muss leiden, aber bleibt dennoch Sieger, zumindest zeitweise. Seine Irrfahrt führt ihn nach Hollywood, wo er sich selbst als Filmheld begegnet. Doch die große Nähe zur Traumwelt tut ihm nicht gut. Das Ende ist entsprechend tragisch. Aber schon geht es weiter nach Las Vegas – Stoff für den dritten Band „City in Ruins“, dessen Erscheinen für das kommende Jahr angekündigt ist.
Wie gewohnt ist der Plot aus vielen, rasant aufeinander folgenden Einzelszenen zusammengesetzt. Erzählt wird in knappen, oft elliptischen Sätzen. Gesprochen auch. Elmore Leonards Dialogkunst hat in Don Winslow einen gelehrigen Adepten gefunden. Gelegentlich wirkt das manieriert und könnte Nerven kosten, wäre der Roman sehr viel länger. Aber Winslow weiß eben, wie man sich kurz fasst. Auch wenn es um Tragödien von klassischen Dimensionen geht.
Don Winslow: City of Dreams. Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch. Harper-Collins, Hamburg 2023. 368 Seiten, 24 Euro.

Genre-Literatur aus drei Jahrhunderten
(AM) „Ich muss Ihnen ja sagen, Sie schreiben wirklich sehr gut. Haben Sie es denn nie in Erwägung gezogen, sich literarisch einer Gattung zu widmen, die Ihrem Talent angemessener wäre?“ Der irische Thrillerautor John Connolly (u.a. 20 Charlie Parker-Romane) wurde das bei einem Preis-Bankett in Dublin von einem Jurymitglied gefragt. Er berichtet diesen Vorfall in der Einleitung zur von ihm herausgegebenen monumentalen Anthologie Shadow Voices, tröstet sich damit, dass mit genau solchen Äußerungen bereits vor 100 Jahren schon andere Autoren konfrontiert waren (und belegt das mit Zitaten). Er konstatiert, dass eben auch noch im 21. Jahrhundert die Anerkennung von „genre fiction“ – sei es als Detektiv-, Science Fiction, Horror-, Liebes- oder Fantasy-Literatur – immer noch zu wünschen übrig lässt.

Mit 300 Years of Irish Genre Fiction. A History in Stories, so der Untertitel, macht Connolly daraus eine Tugend – und uns ein Geschenk. Seine ziegelstein-dicke Anthologie versammelt „Diebe! Vampire! Mörder! Detektive! Aliens! Gangster! Monster! Feen! Gespenster! Kannibalen!“ aus drei Jahrhunderten. Aufgenommen wurden nur in Irland geborene Autoren. Sie haben der Literatur Gulliver, Dracula und die Welt von Narnia gegeben, gehörten zu den Pionieren der Kriminalliteratur und der „Gothics“, setzten Wegmarken für „woman’s popular fiction“. Insgesamt 70 von ihnen versammelt das Buch. Sie alle werden – wie Connolly und Declan Burke das bereits in der gigantischen Anthologie „Books to Die For“ (2016) gemacht haben – mit einer Biografie eingeführt, die auch innerhalb des Genres verortet und zudem die Karriere erzählt. Das macht das Buch zu einer doppelten Erzählband: Zum einen sind da die Genre-Geschichten, zum anderen funkelnde Porträts ihrer Autoren und Autorinnen.
Nicht jede Geschichte, gesteht Connelly, sei ein Meisterwerk, unterhaltsam aber seien sie alle. Genau das zeichne ja schließlich Genreliteratur aus, sie priorisiere Vergnügen, sei mit einer emotionalen Wirkung auf den Leser zufrieden, indem sie unterhalte. So viel könne man von einem Buch erwarten. Dieses hier liefert das in Hülle und Fülle. Connolly bedankt sich zu Recht bei Brian Showers und dessen Swan River Press. Zweimal im Jahr erscheint dort das Journal The Green Book: Writings on Irish Gothic, Supernatural and Fantastic Literature, inzwischen bei Ausgabe 23 angelangt. Irland hat eine große literarische Tradition, dieses Buch spiegelt sie.
John Connolly: Shadow Voices. 300 Years of Irish Genre Fiction. A History in Stories. Hodder & Stoughton, London 2021. 1078 Seiten, Hardcover, 25 GBP. – Connollys website hier.

Zwei Fälscherinnen
(JF) Dass Leichen, die man sicher verbuddelt glaubt, plötzlich wieder auftauchen, ist ein beliebtes Element von Thriller-Plots. Es ist also naheliegend, dass das schwedische Autorenduo Tiina Nevala und Henrik Karlsson seinen Protagonistinnen diese Erfahrung nicht erspart. Denn könnten die Kunsthistorikerin Nea Hallgren und die Malerin Nadezhda Volkova, von deren anfänglichen Aktivitäten im internationalen Geschäft mit gefälschten Bildern ein im vergangenen Jahr erschienener, origineller Spannungsroman mit dem Titel „Dämmerung. Falsch“ erzählt, ungestört weiter den Kunstmarkt an der Nase herumführen, würde der jetzt vorliegende zweite Band – Zwielicht. Verrat. – der als Trilogie angelegten Reihe überflüssig.
Aber wie die Dinge stehen, bleibt das Leben dort für die beiden Stockholmer Fälscherinnen aufregend. Weiterhin sorgen korrupte Polizisten, russische Mafiosi (oder Geheimagenten?) und heimische Gangster mit südosteuropäischem Migrationshintergrund für Spannung. Gekonnte Szenenwechsel und pointierte Dialoge tun ein Übriges. Und da der Roman mit einem veritablen Cliffhanger endet, sieht man dem dritten Band, dem garantiert auch wieder das irreführende Etikett „Stockholmkrimi“ aufgepappt werden wird, gespannt entgegen.
Nevala & Karlsson: Zwielicht. Verrat (Och skuggan faller, 2022) Aus dem Schwedischen von Karoline Hippe. DuMont, Köln 2023. 382 Seiten, 12 Euro.

Großer Wurf in schlichter Gestalt
(AM) Zwei Tote gibt es in diesem Buch – jenseits der Kriegserlebnisse, die eine Rolle spielen –, eigentlich sind es zwei Kriminalfälle, aber da ist niemand, der sich darum kümmern würde. Wir als Leser müssen mit uns selbst ausmachen, was wir davon halten. Warum haben wir uns auch für einen Niemand interessiert. Für das Leben des fränkischen Bauern Toni Rosser, 1968 mit 71 völlig einsam in seinem abgelegenen Weiler droben im Tal gestorben. Ja, „im Tal droben“, sagen sie drunten im Dorf. (Im meinem Allgäuer Dialekt gibt es das auch, da fährt man nach Füssen „nauf“ und nach Ulm „na“, runter.)
Im Tal, das ist nur ein kleiner Weiler am Rand des Frankenwalds, zwei Gehöfte, auf Sandsteinquader gestelltes Fachwerk, eine Wand am Bach. Da wächst der Toni bei einem jähzornigen Vater auf, unter dessen Gewaltausbrüchen er sich wegzuducken lernt wie vor dem Wetter. „Das Gewitter kommt, entlädt sich“, heißt es bei Tommi Goerz lakonisch. Und: „Weil er der Toni ist, ist der Vater wütend.“ Heftige Kindheit also. Metzgerlehre. Davonlaufen in den Ersten Weltkrieg. Verwundung. Grabenkrieg. Manchmal eine vom Toni geschlachtete Sau für die Kameraden. „Keine 20 ist er jetzt, schon ein alter Hase.“ Als er heimkommt, steht die Tür offen, das Haus leer und verwüstet, der Vater verstorben. Er selbst sieht ihm aber inzwischen zum Fürchten ähnlich, wird auch von noch lange von ihm verfolgt werden. Ein Vaterroman, und einer vom Überleben.
Tommie Goerz umreißt das denkbar knapp. Die Innenwelt muss sich in diesem Buch, in dieser einfachen Bauernwelt, mit wenig Wort begnügen, wie überhaupt der ganze Roman eine immer wuchtiger werdende Lektion in Schlichtheit ist. In einfacher Sprache, bergbachklar, erfahren wir von einem kargen, auch wortkargen und vorgeprägten einsamen Leben am Rande unserer Welt. Der Toni ist ein Außenseiter, ein Niemand. Er wird Bauer, wird Flößer (sehr interessant, was Goerz hier ausgegraben hat), landet wieder im Krieg, Schauplatz Italien. Er desertiert, haust im Gebirge. Einmal, am Horizont, gibt es die Gründung der (Partisanen-) „Republicca dell’Ossola“. Mit krummem Kreuz und einem Kriegsbein kommt er heim. Er macht nichts mehr, lebt nur so dahin in seinem Weiler. Er mag die Leute nicht, sie stören. Der Schatten seines Vaters aber, der ihm schon das Liebste nahm, sorgt für eine weitere Tragödie. Sie hat geradezu klassisch-griechisches Ausmaß.
Tommie Goerz erzählt das meisterhaft ökonomisch. Leben und Jahreszeiten ziehen dahin, die Kapitel sind manchmal nur eineinhalb Seiten lang. Viel Weiß. Viel Raum. Wortlose Tiefe. Und Abgrund. Nach „Meier“ und „Frenzel“ erneut ein schnörkellos guter Roman. Tommie Goerz gehört zu den Großen.
Noch ein persönlicher Nachsatz: Selbst bäuerlicher Herkunft, Kindheit keine Idylle, die Großmutter und ein uralter Liliputaner, der Willi, als Geschichtenerzähler ein Trost, bin ich empfindlich, wenn es in der Literatur „aufs Land geht“. Völliges Fake z.B., wenn auch derzeit auf der Krimibestenliste: Jochen Rausch „Im toten Winkel“ (meine Besprechung hier). Tommie Goerz hingegen ist geerdet – kennt Wind und Wetter und Bäume, er kann käsen, kann schlachten und misten, Zäune setzen, Tiere hüten und sie beim Melken ruhig halten. Er hat extra nochmal auf einer Alpe im Piemont hospitiert – und schreibt hier den Land- & Vaterroman, von dem es nur wenig Seriöses gibt, in unser Jahrhundert weiter. Das ist alles andere als rückwärtsgewandt, sondern eine Entschlackungskur fürs Erzählen.
Tommie Goerz: Im Tal. Roman. ars vivendi-Verlag, Cadolzburg 2023. 232 Seiten, Hardcover, 22 Euro.

Wer kümmert sich um die Dritten?
(AM) Buch drei eines Autors hat es schwer in der Wahrnehmung, zumindest bei der Kritik, so lautet ein Axiom im Literaturbetrieb, Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Entdeckerfreuden sind verrauscht, der Autor bekannt gemacht und eingeordnet, ihn zum dritten Mal zu besprechen, hätte fast etwas von Pflichtaufgabe, das Buch wird sich schon selbst behaupten, lieber eine neue Sau durchs Dorf, so sind die Mechanismen.
Mit nur zwei Romanen hat S.A. Cosby sich diesseits und jenseits des Teichs eine Reputation als einer der besten Autoren des Noir erworben. „Blacktop Wasteland“ erreichte viel Aufmerksamkeit und Platz 2 der Krimibestenliste, „Die Rache der Väter“ (Razorblade Tears) fand sich auf Obamas Sommerleseliste, stand auf der NYT-Bestsellerliste, Filmrechte verkauft. Ein halbes Jahr nach Erscheinen erhielt Cosby den ersten Lizenzscheck, es war mehr als er die ganzen letzten fünf Jahre verdient hatte.
Nun also My Darkest Prayer als Nummer Drei, mit einem schwarzen Bestatter in einer Kleinstadt in Virginia im Mittelpunkt. Es macht die Sache nicht einfacher, dass es in Wirklichkeit sein Debüt als Krimiautor war, 2019 in den USA beim kleinen Verlag Intrigue Publishing ohne jedes Aufsehen als Paperback erschienen, 1500 Auflage, und nun auch dort – nach allerlei Literaturpreisen für Shawn Andre Cosby – bei Flatiron Books neu aufgelegt. Ende Oktober 2023 kommt dann schon „Der letzte Wolf“ auf Deutsch (All the Sinners Bleed) mit dem schwarzen Sheriff Titus Crow aus „Rache der Väter“. Cosby hat einen Lauf, da hat ein Autor Energie und noch viel zu erzählen.
Die Fantasy-Trilogie „Brotherhood of the Blade“, „House of Swords“ und „The Invitation“, 2014 bis 2017 entstanden, über den Schwertmacher Catlow Credence, die zum Teil sogar in Bayern spielt, lassen wir mal außen vor. „My Darkest Prayer“ hat es schwer genug. Dabei sind die ersten zwei Sätze, die Cosby lange, sehr lange, mit sich herumtrug, ehe er das Buch begann, wirklich ein Hammer:
„Ich kümmere mich um die Leichen.“
Das sage ich immer, wenn die Leute fragen, womit ich mein Geld verdiene.
S.A. Cosby: My Darkest Prayer (2019/2022). Aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Bürger. Ars vivendi, Cadolzburg 2023. 280 Seiten, Hardcover, 24 Euro.

Die Tricks funktionieren
(JF) Wer lügt in „Liar“, Steve Cavanaghs drittem Roman um den gewieften New Yorker Anwalt Eddie Flynn? Sein alter Freund Leonard Howell, der Flynn engagiert, um bei der Lösegeldübergabe für seine entführte Tochter die Polizei hinters Licht zu führen? Der Strafverteidiger Max Copeland, dem jedes Mittel recht ist, seinen üblen Mandanten das Fell zu retten? Oder vielleicht sogar Flynn selbst?
Getrost darf man alle diese Fragen bejahen und noch ein paar andere Figuren dieses nach bewährtem Muster gestrickten Thrillers hinzufügen. Bewährt heißt hier, dass die alten Erzähltricks des Genres noch immer bemerkenswert gut funktionieren, vom penibel ausgearbeiteten Racheplan bis hin zur perfekten Tarnung. Immer nützlich, wenn es darum geht, überraschende Wendungen im Plot hinreichend zu erklären. Dass geübte Leserinnen dennoch bald ahnen dürften, was es mit der „alten Lüge, die tödlich ist“ auf sich hat, von der auf dem Titel des mehr als 500 Seiten starken Taschenbuches die Rede ist, tut der Spannung keinen Abbruch. Denn Steve Cavanagh, in seiner nordirischen Heimat lange selbst als Anwalt tätig, weiß, was er tut. Auch wenn es um die Anfertigung literarischer Konfektionsware geht, die ihren Zweck perfekt erfüllt.
Steve Cavanagh: Liar. Der dritte Fall für Eddie Flynn (The Liar, 2017). Aus dem Englischen von Jörg Ingwersen. Goldmann Taschenbuch, München 2023. 504 Seiten, 16 Euro.