Wo noch Zeichen und Wunder geschehen
Hier Katrin Doerksen mit ihrem zweiten Bericht von der Berlinale. Vorauswahl und Vorschau, Bericht 1 hier.
Old Love läuft nicht nur im Forum, sondern auch in der Kategorie „Fans von Hong Sang-soo mochten auch…“, dabei passiert im Vergleich zu dessen neuem Film Grass hier sogar ungewöhnlich viel. Aber wie der koreanische Regisseur Park Kiyong Blicken und Gesten Bedeutung beimisst, Spaziergänge und gemeinsam eingenommene Mahlzeiten ganz der Banalität enthebt, erinnert unweigerlich an seinen Landsmann. Yoon-hee (Yoo Jung-ah) kehrt nach Jahren in Kanada in ihre Heimat zurück und trifft noch am Flughafen auf Jung-soo (Kim Tae-hoon), mit dem sie in jungen Jahren eine Beziehung und die gemeinsame Liebe zum Theater verband. In den kommenden Tagen flanieren sie durch die Stadt, essen Oktopus und trinken, schweigen viel und erzählen gelegentlich aus ihren Leben, in denen nicht alles gekommen ist wie ursprünglich gedacht.
Einmal gerät Yoon-hee versehentlich in eine der Demonstrationen, die im Dezember 2016 zur Absetzung der Präsidentin Park Geun-hye führten. Sonst sehen wir der Spezifität enthobene Räume, Flughäfen, Bahnhöfe, Warteräume, Treppenhäuser. In einen rohen, digitalen Look bannt Park Kiyong diese metallisch grauen, abweisenden Nichtorte. Er filmt das Paar durch eine Fensterscheibe, so dass die angeklebte Reklame wie eine Mauer zwischen ihnen steht. Nur langsam nähern sie sich wieder an. „Wo immer ich mich aufhalte, ich bin immer nur ein Gast“, stellt Yoon-hee fest. Mit dem Blick einer inzwischen zur Hälfte Fremden schaut sie vom äußeren Rand der Gesellschaft auf ihre alte Heimat wie wir Zuschauer auf den Film: vieles daraus scheint uns vertraut und vieles fremd. Endlich halten sich Yoon-hee und Jung-soo schwer atmend fest im Arm. Einer der bisher herzzerreißendsten Momente der Berlinale.

Anthony Bajon in La prière | The Prayer, FRA 2018, Regie: Cédric Kahn © Les films du Worso / Carole Bethuel
Cédric Kahns Wettbewerbsbeitrag La prière beginnt mit einer Autofahrt in ein abgelegenes Tal inmitten französischer Berge hinein. Ein Tal, in dem noch Zeichen und Wunder geschehen, in dem Bachs „Bist du bei mir, geh ich mit Freuden“, „Couronnée d’étoiles“ und christlicher Rock erklingen, wo bei Parties Mädchen und Jungen getrennt voneinander sitzen und Nonnen Ohrfeigen verteilen, wo Löcher aus dem einzigen Grund gegraben werden, sie anschließend sofort wieder zuzuschütten. Der 22-jährige Thomas (Anthony Bajon), sein Gesicht trägt noch immer kindliche Züge, kommt in dieses Tal, weil die Alternative für ihn der beinahe sichere Tod wäre. Er ist ein Junkie, außer Kontrolle, voller Wut und Hilflosigkeit. Sucht Hilfe in einer katholischen Gemeinschaft junger Männer, bei der jeder Tag aus Gebeten und harter Arbeit auf dem Feld besteht. Handwerklich gibt es an La prière kaum etwas auszusetzen: verschneite Felder im Halbdunkel, Berggipfel in dichtem Nebel, Schotterhänge ohne jeden Halt werden zu Seelenlandschaften des immerfort kämpfenden jungen Mannes. Am Ende bleibt jedoch das schale Gefühl einen anderthalbstündigen Werbespot für die Kirche gesehen zu haben, in dem die vermeintliche Läuterung nur die Ablösung der einen Sucht durch die Andere bedeutet: statt des Heroin jetzt das Evangelium.

Andranic Manet, Sophie Verbeeck in Mes provinciales | A Paris Education, FRA 2018, Regie: Jean Paul Civeyrac © Moby Dick Films/ARP
Ein Abiturient aus irgendeiner französischen Stadt geht zum Filmstudium nach Paris. Er verspricht seiner zurückbleibenden, sich sorgenden Freundin treu zu sein. Aber in Paris rauchen die Frauen lasziv, diskutieren feministische Theorien und sind für die Polyamorie; alle machen Filme oder sind Künstler, also bleibt das Versprechen nicht lange bestehen. Der Panorama-Beitrag Mes Provinciales bestätigt wirklich alle Klischees eines anstrengenden französischen Nachwuchsintellektuellenfilms, er wurde sogar in Schwarzweiß gedreht. Regisseur Jean Paul Civeyrac erhebt die Klischees bewusst zum Programm. Es geht ihm um das Vergangene, um eine romantisierte, idealisierte Sicht auf die Studienzeit, die Entwicklung eines jungen Mannes, die trotzdem nicht zwangsweise zum Erfolg führen muss. Seine Figuren tragen zeitlose Klamotten, Haarschnitte, die sowohl in die 1960er Jahre passen würden als auch in das Paris von heute. Mes Provinciales ist in der Gegenwart angesiedelt, aber er sehnt sich nach altmodischen Werten, nach selbstvergessenem Lernen, nach großen Regiemeistern, sucht Rat in den Schriften von Deleuze und Pasolini, ist erstaunlich losgelöst von allem Gegenwärtigen. Filmstudenten wird das sicher Spaß machen. Allen anderen dürfte es wenig geben.

Léonore Ekstrand in Toppen av ingenting | The Real Estate, SWE/GBR 2018, Regie: Axel Petersén, Måns Månsson © Pierre Björk
Nichts mit skandinavischem Minimalismus und cleaner Eleganz. In Toppen av ingenting (The Real Estate) sieht Schweden ziemlich keimig aus. Das liegt vor allem an den Farben des Films. Die Regisseure Axel Petersén und Måns Månsson führen den aktuellen Orange-and-Teal-Trend ad absurdum, schrauben Kontrast und Sättigung hoch, so dass selbst kaltes weißes Neonlicht noch einen hässlich grünen Stich bekommt. Die Hässlichkeit setzt sich in den meisten Figuren fort, innerlich wie äußerlich: Egoismus, Habgier und Skrupellosigkeit, gerötete Haut, riesige Poren und Falten. In extremen Nahen richtet die Kamera sich auf Details wie die am Glas klebenden Überreste einer Bloody Mary. Dabei geht es eigentlich um Immobilien. Die 68-jährige Nojet (Léonore Ekstrand) hat ein Mietshaus von ihrem verstorbenen Vater geerbt: es ist schlecht verwaltet, voller illegaler Untermieter und die hohe Immigrantenquote hält die Kaufinteressenten noch zusätzlich ab. Um das Objekt loszuwerden, muss Nojet zu unlauteren Methoden greifen. Umso überraschender, dass sich mang der allgemeinen Abscheulichkeit sogar noch Momente rauer Schönheit finden: eine Sexszene mit geradezu tierischem Grunzen, weiblicher Haut und Schamhaar 60+ sieht man im Kino nicht alle Tage.

Sara Casu, Alba Rohrwacher, Valeria Golino in Figlia mia | Daughter of Mine, ITA/DEU/CHE 2018, Regie: Laura Bispuri © Vivo film / Colorado Film / Match Factory Productions / Bord Cadre Films / Valerio Bispuri
Eine Dramatik von felliniesken Ausmaßen
Angelica (Alba Rohrwacher) hält die Fliegenklatsche im Anschlag: das Summen der Insekten will einfach nicht verstummen und sie ist ständig zum Zuschlagen bereit. Sie lebt allein, nur mit einigen Tieren auf einem abgelegenen Grundstück auf Sardinien. Der Räumungsbefehl steht ins Haus, die Schulden haben sich einfach zu lange aufgetürmt. Nach der burschikosen Albanerin in Vergine giurata spielt Rohrwacher im zweiten Wettbewerbsfilm der Italienerin Laura Bispuri das glatte Gegenteil: eine Frau, die abends in der Bar die Männer um Drinks anbettelt, die aber auch vor nichts Angst zu haben scheint. Die neunjährige Vittoria (Sara Casu) entdeckt sofort ihre Faszination für diese ungestüme Frau und läuft immer wieder zu ihrem Hof. Als ihre Mutter Tina (Valeria Golino) davon erfährt, ist sie nicht begeistert und sucht auf dem örtlichen Spielplatz nach ihrer Tochter. Aber da kennt sie Angelica schlecht, die mit dem wohlbehüteten Mädchen stattdessen die sardische Ödnis durchstreift, auf stürmischen Felsenklippen balanciert, verwinkelte Höhlen durchmisst. Außerdem lässt sich die Ähnlichkeit nicht verleugnen, das Geheimnis des Films bleibt nicht lange geheim: Angelica ist natürlich Vittorias richtige Mutter.
Die Landschaften, die in den Fels gehauene Nekropole, die Figuren, ihre geschliffen ungeschliffenen Dialoge – alles in Figlia Mia hat eine verzweifelte Dramatik von felliniesken Ausmaßen. Dabei interessiert Bispuri kaum, was in thematisch ähnlich gelagerten Fernsehfilmen der Punkt wäre: die Gefühlswelt des hin und her gerissenen Kindes. Vittoria geht als eine der am wenigsten nervigsten Kinderrollen in die Filmgeschichte ein. Sie sagt einfach zu Angelica: „Du bist meine Mutter, stimmt’s?“ Damit ist es für sie schon irgendwie ok. Die eigentlichen Probleme liegen in der Unreife, dem Anspruchsdenken und Intrigieren der Erwachsenen. Den verschobenen Prioritäten der Umwelt: schon Vittorias Altersgenossinnen geben ständig mit wahrscheinlich ausgedachten Jungsgeschichten an, aus den Radios schallt Italoschlagerpop mit schlüpfrigen Texten. In Figlia Mia geht es um den Unterschied zwischen Mädchen und Frau und was den Übergang eigentlich ausmacht, es geht auch um die Erfahrung als Mädchen in einer sexbesessenen Welt heranzuwachsen. Laura Bispuri bannt diese Welt in ungezähmte Bilder, heftig rauschendes Korn, Unschärfen, eine wackelnde Kamera, immerfort treibende Musik. Von mir aus können Transit und Figlia Mia einfach alle Preise der Berlinale untereinander aufteilen.

Rosamund Pike, Daniel Brühl in 7 Days in Entebbe | 7 Tage in Entebbe; USA/GBR 2018, Regie: José Padilha © Liam Daniel
Es nimmt kein Ende mit den Wettbewerbsfilmen. Außer Konkurrenz läuft am Montag José Padilhas 7 Days In Entebbe über die 1976er Entführung einer Air-France-Maschine durch Terroristen der Volksfront zur Befreiung Palästinas und der Revolutionären Zellen. Der Film funktioniert gut als unterhaltender Polit-Actionthriller, schneidet in hoher Frequenz zwischen den Entführern (Daniel Brühl und Rosamund Pike spielen Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann) und den Verhandlungen im israelischen Kabinett unter Jitzchak Rabin und Schimon Peres hin und her. Das hält ordentlich die Spannung aufrecht, aber trotzdem krankt der Film an zahlreichen Ungereimtheiten: das fängt zum Beispiel mit den in die Parallelmontagen eingewobenen Tanztheaterproben an, die dem Gesehenen nicht wirklich eine Ebene hinzufügen, aber dafür wie ein künstlerischer Alibi-Anspruch anmuten. Seltsam auch die Inkonsequenz im Umgang mit Sprache: immer wieder spricht Rosamund Pike einige Brocken Deutsch mit Brühl, dann wieder Englisch, aus teils unerfindlichen Gründen. Die palästinensischen Terroristen plaudern miteinander auf arabisch, im israelischen Kabinett wird aber kein einziges Mal Iwrit gesprochen.

Joaquin Phoenix und Jonah Hill in Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot, USA 2018, Regie: Gus Van Sant © 2018 AMAZON CONTENT SERVICES LLC / Scott Patrick Green
Halleluja, Gus Van Sant hat mal wieder einen Film gedreht, der kein kompletter Mist ist. Don’t Worry, He Won’t Get Far On Foot läuft im Wettbewerb und basiert auf den Memoiren des Cartoonisten John Callahan (Joaquin Phoenix). Der sich meist mit folgenden Worten vorstellte: „Mein Name ist John. Ich bin Alkoholiker.“ Und dazu seit einem Autounfall querschnittsgelähmt, was ihn glücklicherweise nicht daran hindert an Gruppentreffen der Anonymen Alkoholiker teilzunehmen (in Nebenrollen fast nicht wiederzuerkennen: Beth Ditto und Jonah Hill), eine Freundin (Rooney Mara) zu finden, seine Cartoons beim New Yorker einzureichen und zero fucks zu geben. Auch wenn der New Yorker ihn nicht veröffentlicht, dafür aber andere Magazine. Callahan reißt zeichnend Witze über Mitglieder des Ku Klux Klan, über Schwule und Lesben, über Kleinwüchsige und Schwarze, Behinderte, Fette; jeden Tag flattern Beschwerden in die Redaktionen, manchmal auch Drohungen.
Die Leser arbeiten sich an Callahans Zeichnungen ab und Gus Van Sant spiegelt diesen Prozess in seinen persönlichen Kämpfen. Am Ende kommt es darauf an, dass Callahan sich nicht als bemitleidenswertes Opfer betrachtet. Dass er seine eigenen Fehler einsieht, sich entschuldigt. Nur so kann er aufhören, seine Wut gegen Andere zu richten. In Zeiten eines Amerika, das zwischen Trumps Rassismus auf der einen und PC-Wahn auf der anderen Seite hin und her gerissen scheint, bräuchten wir mehr Leute wie John Callahan. Und mehr Filme wie Don’t Worry, He Won’t Get Far On Foot.
Apropos Donald Trump. Er taucht auch kurz in Lauren Greenfields Generation Wealth auf, als Symptom einer Kultur in ihrer spätrömischen Dekadenzphase. Gesellschaften gebärden sich kurz vor ihrem Untergang am dekadentesten, erklärt ein Experte zu Beginn des Dokumentarfilms. Eigentlich ist Lauren Greenfield in erster Linie eine dokumentarisch arbeitende Fotografin, ihre weitwinkligen, kontrastreichen Bilder von weiblicher Jugendkultur, von der Jagd nach Schönheit und Geld wurden in unzähligen Ausstellungen und Bildbänden festgehalten, zuletzt eben auch in dem Buch Generation Wealth. Für den dazugehörigen Film hat Greenfield ihre ehemaligen Models aufgesucht, die sie zum Teil seit den 1990er Jahren begleitet: Pornosternchen und Sexarbeiterinnen, Hedgefondsmanager_Innen, Oligarchen, Kinder reicher Eltern, Rap- und Rockstars, Leute, die kaum etwas besitzen aber trotzdem zum Club gehören wollen. Der Exzess, die puren Ausschweifungen wecken eine kranke Faszination: eine Mutter steckt ihre Fünfjährige für einen Schönheitswettbewerb ins Showgirlkostüm, ein Vater schleppt seinen Sohn mit 14 zum ersten Mal in den Puff, ein Paar baut das größte Haus Amerikas nach dem Vorbild von Versailles, in Schränken stapeln sich Birkin-Bags, in den Clubs rieseln Dollarscheine auf blanke Ärsche.
Lauren Greenfields Blick ist aber nicht rein voyeuristisch. Sie kommt aus der Kulturanthropologie, sucht den verfremdenden Blick auf das Eigene, strebt stets einen Erkenntnisgewinn an. Um dem Lechzen nach Reichtum eine neue Perspektive abzugewinnen, fügt sie Generation Wealth einen selbstkritischen Aspekt hinzu, richtet die Kamera auf ihre eigene Sucht: den oft unverhältnismäßigen Drang nach immer noch mehr Arbeit, unter der die Familie am meisten leidet. So weit, so gut. Aber noch dazu – und das verträgt sich mit Kulturanthropologie nun wirklich überhaupt nicht – lässt sie die Freudianerin heraushängen. Am Ende muss sich der von der FBI gesuchte Hedgefondsmanager als reuiger Vater präsentieren und das Partygirl als zufrieden mit ihrem aktuellen Job in einem Kosmetiksalon. Alle analysieren ihre Kindheit, alle haben etwas gelernt, alle sind geläutert. Ein heftiger Schwung mit der Moralkeule. Also unbedingt anschauen – und im Zweifel zehn Minuten vor Schluss ausschalten.