Geschrieben am 1. September 2020 von für Crimemag, CrimeMag September 2020

Alf Mayer bei Garry Disher

Hirsch ist zurück

Ein Treffen und ein Interview mit Garry Disher – von Alf Mayer

„Hope Hill Drive“, jetzt Ende August im Unionsverlag erschienen, war in Australien ein Bestseller, der bisher größte kommerzielle Erfolg für Garry Disher, dies nach rund 50 Romanen und in seinem siebzigsten Lebensjahr, mit dem Setting seines Herkunftsorts, einem kleinen, kargen Kaff im Weizen & Wolle-Land drei Stunden nördlich von Adelaide. Im Hinterland.

Peace“, so der australische Originaltitel, mit der Silhouette eines Ponys hinter Stacheldraht (im Roman kommt eine Tierverstümmelung vor), war bei meiner Ankunft in Australien Ende Januar dieses Jahres bereits in den Airport-Buchhandlungen nicht zu übersehen, war dort eines der üblichen zehn prominent ausgestellten Bücher. Mehr an Auswahl ist da kaum. Das war auch in den sonstigen Hauptverkaufsstellen, den Postämtern und den „Target“-Warenhäusern, die in vielen Orten down under der Buchhandlungsersatz sind. Der Roman war am 5. November 2019 beim Melbourner Verlag Text Publishing erschienen, Verleger Michael Heyward und sein Team hatten Geld für eine Marketingkampagne in die Hand genommen, und es hatte sich gelohnt. Zwei Monate später war das Buch immer noch präsent, no small deed in einem literarisch so ausgedörrten Land wie Australien.

Garry Disher auf seiner Landstraße © Darren James/ Text Publishing

Wie es der Zufall will, lebt unsere australische Freundin Rosie ja nur zwei Landstraßenecken von Garry Disher entfernt auf der Mornington Peninsula. Bis in die 50er Jahre war diese Halbinsel südlich von Melbourne nur per Schiff erreichbar, es gab kaum Verkehrswege, heute wird die S-Bahnlinie mit Hochdruck ausgebaut, um die vor allem an den Wochenenden überfüllten Straßen zu entlasten. Rosie und Garry wohnen, beide mit Bedacht, abseits der Hauptverkehrsströme. Es ist sehr ländlich. Pferdekoppeln, manchmal eine kleine Bio-Farm, der Strand nicht fern, die Häuser weit verstreut, Orte ohne Ortskern, höchstens mit einem kleinen Einkaufszentrum. Die Straße zu Garry Dishers Haus ist ungeteert, ein von Baumkronen beinahe komplett überwucherter langer Hohlweg, was für einen schönen Lichteinfall sorgt – das neue, offizielle Verlagsfoto wurde dort aufgenommen. Sein Grundstück ist beachtlich groß, wenn ich mich richtig erinnere, ein Hektar, von Wald und Gebüsch umschlossene Obstbäume, ordentlich viele Gemüsebeete, Rasen, und mitten drin ein altes Holzhaus. Urgemütlich und männlich, die vordere Haushälfte ein einziger hoher Raum bis unters Dach, das eher kleine und recht karge Arbeitszimmer auf der Schattenseite des Hauses. Wir waren zum Kaffee, bekamen zum Abschied einen Arm voller Rhabarber.

Garry war gut gelaunt. Relaxt. Ich versuchte, ihm Politisches zu den damals wütenden Bränden zu entlocken – siehe auch den CrimeMag-Schwerpunkt „Wildfire Australia“ im März dieses Jahres –, er hielt sich eher bedeckt. Ein Autor äußere sich in seinen Büchern und mit seinen Figuren, nicht mit politischen Statements, meinte er. Dass er die Klimaleugner-Regierung von Scott Morrison mehr als befremdlich fand, war ihm aber anzumerken. Ebenso seltsam berührt zeigte er sich vom Erfolg all der „country crime novels“, mit denen australische Autoren gerade weltweit reüssieren, oft literarisch nicht die besten. Klar, dass er hier etwas zu verteidigen hat.

Was ihn denn am ländlichen Setting anziehe, fragte ich. Seine Antwort: Meist sei der Schauplatz eines Kriminalromans ja eine Stadt, der Detektiv kenne sich dort bestens aus, Harry Bosch zum Beispiel in Los Angeles oder Rebus in Edinburgh. Sie sind Insider. Peter Temples Cashin hingegen ist aus Melbourne aufs Land gezogen und ein Outsider. Dishers Constable Paul „Hirsch“ Hirschhausen ist ins Hinterland strafversetzt. In „Bitter Wash Road“ muss er sich erst einmal in einer völlig neuen Umgebung zurechtfinden, kennt weder Leute noch lokale Gesetze, wird nicht akzeptiert. Wenn er ermittelt, beginnt das bei Null. Überall. Alles, was er tut, hat Konsequenzen, die er nicht überschaut. Er ermittelt sozusagen doppelt, für sich und für die Aufklärung eines Verbrechens. Er ist auf einer Reise. Es gibt keine Ruhe. Keine Heimat. Keinen Mittelpunkt. Alles ist peripher. Sogar die Straßen, auf denen er fährt, werden zum Schauplatz, beeinflussen die Handlung. Jeder Ort bedeutet neue Informationen, Irritationen, Fehler, Sackgassen, Latenz. Mit anderen Worten: Ein kleines Kaff kann für einen Autor und seine Leser weit aufregender und „neuer“ sein als jede Stadt. „And you end up with a novel“, lächelte Garry Disher.

„Hope Hill Drive“, Originalausgabe, AUS Nov 2019

In „Hope Hill Drive“, dem neuen Buch mit Hirsch, ist der Polizist inzwischen in seinem Tiverton angekommen, kennt inzwischen seine Schäfchen. Disher macht aus dem kleinen ländlichen Kosmos ein großartiges Buch. Auch Übersetzer Peter Torberg ist von dem Roman hellauf begeistert. Er sagt: „Wenn ein Autor sich beständig selbst übertrifft, dann ist das auch für den Übersetzer ein Fest.“ Torberg übersetzt Disher seit 2005, seit „Flugrausch“, kennt ihn also so gut wie vielleicht sonst nur sein Lektor. „Hope Hill Drive“ ist der achte Disher-Roman, den er aus einem lakonischen australischen Englisch in ein schnörkellos klares Deutsch gebracht hat. „Ich bekomme aus seinen Büchern mehr über Australien mit als aus einem Reiseführer oder aus der Zeitung“, sagt Torberg. „Das ist ein Mann, der richtig schreiben gelernt hat. Es macht großen Spaß, ihn zu übersetzen.“ Disher selbst hat er bei einer Lesereise in München als Gentleman erlebt, „ein sehr bescheidener, ruhiger Typ, er passt zu seinen Büchern“, sagt Torberg. „Das ist ein Autor, der seine Figuren niemals in die Pfanne haut. Das ist ein feiner Mensch, sehr sympathisch.“
Torberg, der mit seiner Übersetzerarbeit eine fünfköpfige Familie ernährt, sich als „Angehöriger der holzverarbeitenden Industrie“ bezeichnet und vor 35 Jahren seinen Einstieg mit Raymond Federman für Enzensbergers Andere Bibliothek hatte, hat weit über 150 Bücher ins Deutsche gebracht. Er freut sich, wenn auch andere Autoren ihre Übersetzer behalten „wie bei den Synchronsprechern“.Disher ist sein Favorit, an ihm imponiert ihm, „dass er mit jedem Buch etwas auf die Schippe drauflegt, dass er immer noch besser wird“.

Hier der Anfang von „Hope Hill Drive“: „So kurz vor Weihnachten hatte die winterliche Sonne ordentlich Kraft, und Ziegelwände, Blechdächer, Asphalt und das roterdige Flachland strahlten die aufgestaute Hitze all der heißen Tage ab. An diesem Donnerstagvormittag kam obendrein noch ein Grasfeuer dazu.“ Bald kommen auch noch ein entlaufener Hund und gestohlener Kupferdraht. Routinearbeit für Hirsch, der sich inzwischen an seinem Verbannungsort eingelebt und Respekt verschafft hat. Wo andere Kriminalromane mit einem brutalen Verbrechen und einem Schock beginnen, ist es bei Garry Disher der kleine Provinzalltag, der sich zu einem atemberaubenden Kleinstadtpanorama entwickelt. Disher hat dabei seine Erzählfäden straff in der Hand. Er ist ein Meister des Plots, sinniert darüber bei seinen täglichen Spaziergängen wochenlang. Seine Figuren und ihre Konflikte sind glaubhaft. 

Den Ort Tiverton gibt es nicht in der Realität, ganz nahebei aber liegt Burra, wo Disher am 15. August 1949 geboren wurde. Jedes Weihnachten besucht er dort immer noch Verwandte. Er lächelte, als ich ihm sagte: Hirsch ist ein wenig zu Hal Challis geworden, der Hirte seiner Gemeinde (mit dem er insgesamt sieben Romane auf der Mornington Peninsula bestritten hat, eine der ganz großen Serien der Kriminalliteratur). Von Hirsch, das ist die gute Nachricht, gibt es bald Band Drei.

Alf Mayer: Als wir uns das letzte Mal hier auf der Mornington Peninsula getroffen haben, war „Bitter Wash Road“ gerade abgeschlossen. Ich erinnere mich genau, dass du das Buch als ein Stand-alone gesehen hast, als einen Ausflug in die Landschaft deiner Kindheit. Wie kam es jetzt zu „Hope Hill Drive“?

Garry Disher: Hirsch hat mich nicht allein gelassen. Er hat mir immer gesagt, dass ich mit ihm noch nicht fertig bin.

Erscheint am 3.11.20 in Australien

In Australien erscheint jetzt im Herbst sogar schon ein dritter Roman mit Hirsch. Können wir dazu mehr erfahren?

Hirsch #3 trägt in Australien den Titel „Consolation“ (Trost) und kommt Anfang November heraus. Australische Kriminalromane sind bei uns ein wenig zum Klischee geworden, zum sogenannten „Outback Noir“, es gibt sie von Jane Harper, Chris Hammer und etlichen anderen. (Ironisch ist es , wenn die Epigonen Disher dann als Blurb den „Goldstandard“ bescheinigen – d. Red.)Sie spielen gerne auf dem Land, im trocken-heißen dürren Buschfeuer-Country. Um das zu konterkarieren lasse ich „Consolation“ im Winter spielen. Eisiger Wind, Regen, Fahrzeuge, die im Schlamm stecken, grün sprießende Getreidefelder und Schnee auf den nächsten Hügeln. So ist es da auch oft, wenn ich an Weihnachten bei meinen Geschwistern bin. –

Und wann spielt das Buch?

Es ist im Jahr 2019 angesiedelt. Eigentlich wollte ich es heute spielen lassen. Covid 19 fasziniert mich. Ich wollte unsere Reaktionen darauf mit zum Thema machen, aber dann ist mir klar geworden, dass die Pandemie noch keineswegs vorbei ist. Wir alle wissen nicht, wie das ausgeht und wie lange uns das noch beschäftigen wird. Hier bei uns im Bundesstaat Victoria erleben wir gerade den zweiten Lockdown. Alles, was ich dazu geschrieben hätte, wäre dem Risiko ausgesetzt gewesen, bei Erscheinen veraltet zu sein.

Ist ein zweiter Roman mit dem schon sehr eigenwilligen Polizisten Auhl aus „Kaltes Licht“ irgendwo im Busch? 

Alan Auhl ist auch so einer, der mich nicht in Ruhe lässt. Er hört nicht auf, mir auf die Schulter zu tippen, dass ich mich um ihn kümmern soll. Mich erreichen ständig Briefe und E-Mails von Lesern – auch aus Deutschland –, die wieder etwas von ihm lesen wollen.

Dann frage ich noch nach einer dritten Figur von dir. Gibt es auch ein Wiedersehen mit dem Räuber Wyatt?

Ganz sicher. Die Wyatt-Romane sind mir eine willkommene Abwechslung von meinen anderen, etwas komplexeren Kriminalromanen. Wyatt ist ein ziemlich unkomplizierter Charakter. Er weiß, was er tut. Er weiß, was er will. Ich muss mir keine Sorgen um sein Seelenheil machen oder um seine Zweifel und Skrupel. Er hat nämlich keine. Ihm folge ich mit kalten, harten, lapidaren und kurzen Sätzen.

Du schreibst deine Bücher noch immer mit der Hand? 

Durch eine Tastatur kann ich nicht denken. Meine Kreativität steht in direkter Verbindung mit meiner Hand, so kann ich schnell schreiben, mich leicht korrigieren, Anmerkungen und Fußnoten machen. Das geschieht alles instinktiv. Die handgeschriebene Rohfassung tippe ich dann regelmäßig ab, meistens ist das am Nachmittag. Dabei mache ich schon Korrekturen. Das erste getippte Manuskript ist also bereits die zweite Fassung.

Du hast mir mal einmal gesagt, dass du dir viele Sätze beim Spazierengehen  überlegst. Du bist ein passionierter Spaziergänger?

Ja, ich gehe hier auf der Halbinsel regelmäßig an der Balnarring Beach und an der Point Leo Beach entlang.  Ich lebe ja hier auf dem Land, mein normaler täglicher Spaziergang führt die nächstgelegenen Feldwege, das variiert nicht sehr. Wenn ich an die Küste will, wohin es von mir aus nicht weit ist, wechsle ich ab.

Du bezeichnest dich selbst als verlässlich. Von dir könne man jedes Jahr ein Buch erwarten. Gilt das auch für die Zukunft? Können wir uns für jedes Jahr auf einen neuen Disher einstellen?

Ich kann mir nicht vorstellen, je etwas anderes zu machen als Schreiben, und hoffe, dass mein Geist, meine Kreativität und meine Gesundheit mir jedes Jahr ein Buch erlauben. Wenn das einmal nachlassen sollte, hoffe ich, dass gute Freunde mich darauf aufmerksam machen.

Gibt es da draußen bereits eine neue Hauptfigur, die wir irgendwann kennenlernen? 

Ich liebe es, an meine Grenzen zu gehen, und eine neue Hauptfigur zu erfinden ist ein Teil davon. Jetzt, seitdem Hirsch #3 in der Druckerei ist, spiele ich mit der Idee, einen Helden wider Willen zu erfinden.

Deine nächste Lesetour durch Deutschland ist wann geplant? 

Ich würde liebend gerne wieder nach Deutschland kommen. Bisher war ich dreimal da und habe jede Minute genossen. Aber solange der Virus so aktiv ist, bin ich sehr zurückhaltend, mich in ein Flugzeug, einen Zug oder mit Fremden in einen geschlossenen Raum zu setzen. Es dauert also noch.

„Hope Hill Drive“/ „Peace“ war in Australien ein Riesenerfolg. Wie fühlt sich das an?

Mein australischer Verlag hat für dieses Buch wirklich kräftig in das Marketing investiert. Das Ziel war es, neue Leser für meine Art Literatur zu finden, und das hat sich ausgezahlt. Dafür bin ich sehr dankbar, aber ich bin auch realistisch. Mein Verlag kann nicht in jedes meiner Bücher so investieren. Ich hoffe also, dass meine neuen Leser bei mir bleiben.

Sind Kriminalromane die Literatur unserer Zeit?

(nickt heftig) Das glaube ich in der Tat. Kriminalromane packen aktuelle Themen an wie häusliche Gewalt, Rassismus, Ungerechtigkeit, Schwulenfeindlichkeit, sie erforschen auch, was Korruption und Verbrechen in unserer Gesellschaft anrichten – die so genannte höhere Literatur lässt uns in dieser Hinsicht eher im Stich–, und sie erzählen gute Geschichten. Kriminalromane mögen eskapistisch sein, manche von ihnen sind Schund, aber die guten fordern uns intellektuell ebenso sehr wie sie uns unterhalten. Sie sind Literatur im besten Sinn.

Garry Disher: Hope Hill Drive (Peace, 2019). Übersetzt von Peter Torberg. Unionsverlag, Zürich 2020. 336 Seiten, Hardcover, 22 Euro.

PS. Hirsch hört in „Hope Hill Drive“ immer Musik, wenn er im Polizeigeländewagen unterwegs ist. Einmal ist es Chicagos ’25 or 6 to 4′, das er einen der größten Songs nennt, die je geschrieben wurden – „and Hirsch didn’t make these claims lightly“. Siehe auch unser Krimigedicht.

Siehe auch den Besuch von Alf Mayer 2016: Der Schauplatz als Charakter

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