Geschrieben am 18. Oktober 2019 von für Actors on Stage, Allgemein, Litmag, News, Specials

Meret Hottinger: Was am Ende des Tages übrig bleibt

Meret Hottinger in Tim Zulauf „Deviare – Vier Agenten – Part of a Movie“
Kunst-Biennale Venedig. FOTO: Tim Zulauf


An einem stillen Sonntagnachmittag, irgendwo am Stadtrand, in einem Kulturraum. Zwei Schauspieler auf der Hinterbühne – mein Kollege und ich. Wir warten und hören, wie die die Zuschauer in den Saal strömen. Es sind viele, an diesem Sonntag. Flüstern, Rascheln und Hüsteln. Wir machen Witze über unsere Kostüme, lachen kurz Tränen, checken nochmals die Requisiten, letzte Eisenbahn, letzte gegenseitige Umarmung, dreimal Spucken, Körper schütteln, einander auf die Schulter klopfen und dann wird es hell auf der Bühne.

Wir treten auf – schauen dabei ins Publikum. Da sitzen sie. Lauter silberweiße Rentner*innen, manche davon mit Rollator oder im Rollstuhl, weit und breit keine Kinder zu sehen. Wo bleiben sie nur? Die Leitung des Hauses hat kurzerhand entschieden, die Bewohnerinnen eines Altersheims einzuladen. Mitsamt Belegschaft. Wir spielen “Peer Gynt” in einer Fassung für siebenjährige Kinder, ein Familienstück. Was nun? Warum hat man uns niemand informiert? Und dann dieser Text. Er scheint mir plötzlich so unendlich kindisch, so brutal vereinfacht. Kindgerecht konzipiert eben. Mein Kollege und ich wechseln plötzlich die Tonart, spielen die Szenen für dieses Publikum, das wohl weit über Siebzig ist, wir improvisieren und erfinden das Stück quasi neu. Es gibt keine andere Option, es geht um Alles oder Nichts, die Welt zusammengeschrumpft auf dieses kleine Theater am Stadtrand und das Ende des Stücks – der Tod, der auf Peer Gynt wartet. Was eben am Ende des Tages übrig bleibt.

Tosender Applaus, begeisterte Gesichter. Dann, im Anschluss angeregte Gespräche und Händeschütteln. Und wir beide blinzeln uns ungläubig an, können es immer noch nicht fassen. Das alles erscheint uns beinah grotesk. Und doch macht es absolut Sinn. Auch wenn kein Mensch darüber schreiben wird und keine potentiellen Arbeitgeber*innen im Publikum saßen. Das ist für mich gesellschaftspolitische Relevanz fern von jeglichen Trends, wichtigen Themen. Und die Dringlichkeit wird hier nicht als persönliche Erfüllung der eigenen Wünsche abgefeiert, sondern durch die Umstände unmittelbar umgesetzt. Unspektakulär eben und unsexy. Mein Kollege und ich bauen ab, räumen zusammen und fahren nach Hause. Beglückt und zufrieden. Es ist der schönste Beruf.

Als Kind wollte ich Königin von England werden, in der ersten Klasse dann Pilotin, Matrosin oder Entdeckerin und als 9-Jährige dann – tatata: Schauspielerin. So habe ich das damals meinem Cousin im Brustton der absoluten Überzeugung auf einer Schaukel verkündet. Eine berühmte Schauspielerin. Mein Cousin meinte, das dürfte schwierig werden. Meinen Wunsch habe ich darum abends im Bett gegenüber dem lieben Gott mit Rauschebart immer und immer wieder klar und deutlich formuliert. Der Wunsch war unbedingt. Doris Day, Kathrine Hepburn, Lauren Bacall – meine damaligen Idole. Heute bin ich zwar Schauspielerin – thanks, God! – jedoch das mit dem “berühmt” hat dieser nette Herr wohl wegen seiner altersbedingten Amnesie irgendwie vergessen.

Trotzdem arbeite ich seit 25 Jahren in diesem Beruf. Seit 20 Jahren bin ich Mitglied der  Theaterformation Digitalbühne Zürich aka 400asa, seit 17 Jahren bin ich Mutter und ernähre mich und meine Familie mit Theaterarbeit. Die hat sich verändert, ich spiele nicht einfach nur, ich schreibe, konzipiere, gebe Kurse, spreche Texte ein, spiele in VR-Filmen, probe im Motion Capturing-Anzug, singe und choreografiere, mache Eingaben bei den Institutionen undundund.

Viele Rollen, viele Hüte. Und es werden immer mehr. Eine neue Rolle, eine neue Figur oder gar ein neues Stück zu spielen, ist für mich nach wie vor wie Weihnachten. Dieser Moment, kurz vor dem Geschenke auspacken. Einen Text lesen und neu interpretieren zu dürfen, in die Rolle, ins Kostüm zu schlüpfen und dabei Neues über sich selbst zu entdecken (von dem man eigentlich wusste, dass es schon immer da war), ist für mich nach wie vor unglaublich beglückend.

Aber das ist nicht mein Alltag. Der gleicht oft jenem Sonntagnachmittag, irgendwo am Stadtrand. Weihnachten ist eben nur einmal im Jahr. Aber zum Glück gibt es noch den etwas bescheideneren Osterhasen, den mag ich auch.

MERET HOTTINGER
Foto von Ona Pinkus


BIO Meret Hottinger schloss nach der Matura und dem Vorkurs an der Schule für Gestaltung Zürich ihre Ausbildung an der Scuola Teatro Dimitri mit Diplom ab. Seit 1998 Mitglied der Digitalbühne Zürich aka 400asa. Mit der Produktion Medeää (Regie: Samuel Schwarz), tourte sie in Dänemark (Zentropa-Studios), am Schauspielhaus Hamburg u.a. Am Theater Basel in den Produktionen  Meienbergs Tod (Lukas Bärfuss)  und Miss Sara Sampson  (E.G. Lessing) zu sehen. Hauptrolle im SRF-Spielfilm Lous Waschsalon (Regie: Katalin Gödrös). 2005- 2007 Ensemblemitglied am Theater Neumarkt, Regie bei Maria Stuart (nach F. Schiller) u.a. Ab 2010 mit Tim Zulauf & KMU Produktionen in Deviare – Vier Agenten – Part of a Movie an der Biennale Venedig. Mit Jeannot Hunziker erarbeitet und spielt sie das Familienkonzert Peer Gynt, wofür sie eine eigene Fassung schrieb. Für die Digitalbühne-Produktionen Die Endemiten und Der Tod des Tintagiles schrieb sie Theatertexte.

AKTUELL Ab Herbst 2019 steht Meret Hottinger mit Pulp.Noir  in ABSURD LAUT CAMUS auf der Bühne.

LINKS
http://www.schauspieler.ch/profil/meret-hottinger/images
http://digital-buehne-zurich.ch/
https://www.youtube.com/watch?v=7ew7aO6p8OE

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