Zeitgenössische deutsche Autoren mit einem besonderen Blick
Seit Jahren präsentieren die Verlage immer wieder bemerkenswerte Romane von AutorInnen, die aus Einwandererfamilien stammen. Ein weites Feld, auf dem in diesem Herbst eine besonders reiche Ernte einzuholen ist. Von Ulrich Noller
Das spiegelt sich auch auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis, der auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober vergeben wird: Mit Ilija Trojanow, Feridung Zaimoglu und Alina Bronsky stehen gleich drei SchriftstellerInenn, in deren Biographie Migration eine Rolle spielt, auf der diesjährigen Longlist. Ilija Trojanow, geboren 1965 in Bulgarien, kam als Kind nach Deutschland, wuchs später allerdings in Kenia auf. Nach längeren Aufenthalten an verschiedenen Orten der Welt, unter anderem in Bombay, lebt der Reisende unter den zeitgenössischen Autoren heute in Wien. „Macht und Widerstand“, so heißt sein aktueller Roman, der die Zeit des Sozialismus in Bulgarien aufarbeitet – und zugleich Exemplarisches über das Verhältnis zwischen Widerstand und Macht erarbeitet.
Die Familie von Feridun Zaimoglu, geboren 1964, stammt aus der Türkei, und Zaimoglu selbst verbrachte seine ersten Lebensjahre dort. „Siebentürmeviertel“, heißt sein neuer – großer – Wurf: 794 Seiten, 99 Kapitel und um die 30 (Haupt-) Charaktere birgt dieser tolle Roman, der ins Instanbul der 1940er- und 1950er-Jahre entführt. Wolf, den sie auf der Straße den „Arier“ oder „Hitlers Sohn“ nennen, ist mit seinem Vater Franz auf der Flucht vor den Nazis in der Türkei gelandet, weil der Vater einen Türken aus dem wilden Sieben Türme-Viertel kennt, der eine Zeitlang in Deutschland sein Kollege war. Abdullah Bey nimmt die beiden umstandslos auf, und als Vater Franz ein paar Monate später weiter ziehen muss, nimmt er, der schon zwei Kinder hat, Wolf wie einen weiteren Sohn an.
Der „Arier“ wächst nun also auf wie ein Türke, zusammen mit Kurden, Tscherkessen, Zigeunern, Juden, Tschetschenen, Armeniern und, und, und – denn im Sieben-Türme-Viertel war die gelebte Pluralität der Ethnien und Kulturen mit allen Höhen und Tiefen schon gelebter Alltag, als man in Deutschland noch vom tausendjährigen Reich und Übermenscheneinheitlichkeit träumte. Irgendwann, nach dem Krieg, kehrt der Vater zurück, und Wolf muss sich zwischen dem einen und dem anderen entscheiden…
Feridun Zaimoglu veröffentlicht jetzt seit 20 Jahren Theaterstücke und Geschichten. Er hat einen langen Weg genommen, von Veröffentlichungen wie „Kanak Spraak“, mit denen er in den 1990er Jahren dafür eintrat, das Migranten gehört werden – bis hin zu den Romanen der letzten Jahre, mit denen er sich als einer der interessantesten und vielseitigsten deutschen Autoren seiner Generation etabliert hat, der von Roman zu Roman immer noch besser wird.
Davon zeugt auch „Siebentürmeviertel“: Ein opulenter, dichter, konzentrierter, poetischer und fesselnder Roman, der intensiv recherchiert wurde, toll konstruiert ist, voller Abenteuer steckt, vor keinem Abgrund zurückschreckt und mit Charakteren glänzt, die einen so bald nicht mehr loslassen. Und schlau ist er auch: Wie einem Zaimoglu über seine Identifikationsfigur, den „Ariersohn“ Wolf, gewissermaßen von hinten durch die Brust ein paar Essentials übers multikulturelle Zusammenleben in Erinnerung ruft, das hat Klasse.
Alina Bronsky, geboren 1978, kam in Jekaterinenburg zur Welt, Anfang der 1990er Jahre siedelte ihre Familie nach Deutschland über. In „Baba Dunjas letzte Liebe“, erzählt sie, wie immer kurz und knapp und angetrieben von fatalistischem Humor, die Geschichte einer alternden Frau, die entschieden hat, ihren Lebensabend im Dorf der Kindheit zu verbringen – das in der „Todeszone“ rund um das havarierte Kernkraftwerk in Tschernobyl liegt. Mitten drin: Baba Dunja, die Erzählerin, eine alte Frau um die 80, ehemalige Krankenschwester, die im Dorf aufwuchs – und die zurückgekehrt ist, um ihren Lebensabend in Ruhe und weitab von allem da zu genießen, wo sie sich zu Hause wähnt.
Was auch bestens klappt, nachdem der stets krähende Hahn ihrer Nachbarin, der ehemaligen Melkerin Marja, tot vom Zaun gefallen und zu Suppe geworden ist. Eines Tages taucht ein Mann samt kleinem, süßem Mädchen auf, der sich in Tschernowo ansiedeln will, offensichtlich aus Rache der Mutter gegenüber setzt er die an sich kerngesunde Tochter der Strahlung aus. Das können die Verstrahlten natürlich nicht zulassen, und schon ist´s vorbei mit der Ruhe und die merkwürdige Ordnung der Dinge im Dorf ist dahin…
Wie gewohnt umschreibt und durchmisst Bronsky auch in dieser Geschichte (menschliche, zeitgeschichtliche) Abgründe mit schwarzem Humor und schrulligen Charakteren, in einer gut temperierten Mischung aus Wärme und Biss. Keine große Geschichte, aber eine, die für eine Prime Time-Lektüre durchaus trägt.
Apropos Deutscher Buchpreis: Man möchte ja nicht unbedingt in der Haut dieser Juroren stecken, die aus dem riesigen Marktvolumen ein paar Bücher aussuchen müssen, für die sie den Daumen heben, während andere, die möglicherweise nicht viel schlechter sind, außen vor bleiben. Entsprechend groß ist dann auch meist das Genörgel, wenn dieser oder jener favorisierte Autor außen vor bleibt. Das kann man als das übliche Geklapper ignorieren – oder mitnörgeln.
Mosern ließe sich zum Beispiel dann über die Nicht-Nominierung des Romans „Null bis unendlich“ von Lena Gorelik, die 1981 in St. Petersburg das Licht der Welt erblickte und 1992 nach Deutschland übersiedelte. Diese verzwickte Liebesgeschichte zweier Hochbegabter, die einander immer wieder (fast) verpassen, ist eines der Bücher dieses Herbstes, die am meisten Spaß machen. Es ist wirklich großartig, wie Lena Gorelik es schafft, auf akrobatische Weise leicht und unterhaltsam zu schreiben, ohne Tiefe und Anspruch vermissen zu lassen.
Und dann wäre, weiter mit moserigem Unterton in Richtung Buchpreis-Jury, „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ von Matthias Nawrat, geboren 1979 in Opole/Polen. Nawrat, der 1989 nach Bamberg umsiedelte und dort aufwuchs, erzählt in seinem dritten Roman polnisch-deutsche Geschichte von der deutschen Besatzung 1939 über die Zeit des Kommunismus bis zur Wende und ein wenig darüber hinaus mit den Mitteln des Schelmen- und des Familienromans, und das erzähltechnisch so versiert wie lebendig und unterhaltsam. Auch dies: ein bester Roman des Jahres, keine Frage.
Bleibt die Frage, was es mit der „Migrantenliteratur“ auf sich hat. Es ist, wie es immer ist mit dem Wort „Migrant“ bzw. „Migration“: Es sagt alles und nichts, man weiß sofort was gemeint ist – aber es wird der Sache kaum gerecht. Ilija Trojanow, Feridun Zaimoglu, Alina Bronsky, Lena Gorelik und Matthias Nawrat – sie alle sind Einwanderer, aus verschiedenen Gebieten, mit ganz unterschiedlicher Wirkung des Wandelns zwischen den Kulturen auf ihr Schreiben. Aber Migranten, die Migrationsliteratur schreiben? Das wohl kaum. Sie sind zeitgenössische deutsche Autoren mit einem besonderen Blick – und ihre Romane gehören in der deutschen Literatur mit zum Besten, was man derzeit lesen kann.
Ulrich Noller
Ilija Trojanow: Macht und Widerstand. Roman. Hardcover. Fischer Verlag 2015. 480 Seiten. 24,99 Euro.
Feridun Zaimoglu: Siebentürmeviertel. Roman. Gebunden. KiWi 2015. 800 Seiten. 24,99 Euro.
Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe. Roman. Gebunden. KiWi 2015. 160 Seiten. 16,00 Euro.
Lena Gorelik: Null bis unendlich. Roman. Gebunden. Rowohlt 2015. 304 Seiten. 19,95 Euro.
Matthias Nawrat: Die vielen Tode unseres Opas Jurek. Roman. Gebunden. Rowohlt 2015. 416 Seiten. 22,95 Euro.