Geschrieben am 1. Juni 2016 von für Bücher, Litmag

Roman: Joshua Groß/ Hannah Gebauer: Faunenschnitt

Faunschnitt_Gross_GebauerPhantasie mit PH

– von Alf Mayer

Der Realist fürchtet die Phantasie, nicht umgekehrt. Bei uns in Deutschland besteht der Literaturbetrieb letztendlich nur aus Feiglingen und Verrätern. Zumindest zu 99 Prozent. Und es sieht nicht danach aus, als würde sich hier in absehbarer Zeit irgendetwas ändern. Wer die Phantasie und den Surrealismus so verachtet wie die deutschen Schriftsteller und Kritiker und Professoren, dem bleibt nur übrig, weiterhin ambitionslose, mittelmäßige und nicht überdauernde Kunst zu produzieren. Eine Kunst der Feigheit. Eine Kunst des Verrats, Eine Kunst, die keine Kunst ist, sondern Langeweile.

Diese im Original weit umfänglichere Anklage findet sich gegen Schluss des alles andere als langweiligen dritten Romans von Joshua Groß, dem die Nürnberger Fotografin und Bildhauerin Hannah Gebauer eine sehr eigenwillige vierte Buchdimension hinzugibt. Versteckt ist die Anklage in einer Fußnote, die, aus einem imaginären „Deutschen Literaturalmanach“ (4. Aufl., Heilbronn 2008) zitierend, Leben/ Werk/ Programmatik des fiktiven Schriftstellers Milos Archibald Novalsky entwirft, der auch im Roman auftaucht. 1940 in München während eines Luftangriffs der Franzosen geboren, Anglistik, Orientalistik und Ethnologie studiert, oft im Nahen Osten sowie in Indien und Thailand gewesen, regelmäßig für die „Süddeutsche“ geschrieben, eine Nebenrolle in May Spils „Zur Sache Schätzchen“ und zweimal eine Affäre mit ihr gehabt, mit Jörg Fauser bekannt, Drehbuchautor unrealisierter Filme wie „Vier Gallonen Gallenstein“, dazu Gedichtbände wie „Acid & Birnenernte“, den Roman „Ein moderner Graf von St. Germain“, ein unveröffentlichtes dreitägiges Gespräch mit Reich-Ranicki, eine begonnene Korrespondenz mit Ernst Jünger, Essays wie „Der Realist fürchtet die Phantasie, nicht umgekehrt: Zur Realitätshörigkeit der deutschen Literatur“ oder „Dein Werk ist alles minus die Wirklichkeit: Zum Tod von Jorge Luis Borges“.

Der Einheitsbrei des mittelmäßigen Realismus

Die Phantasie übrigens – dies meine Anmerkung – wurde ohne größere Gegenwehr bei der letzten Rechtschreibreform des „Ph“ beraubt und heißt jetzt schlicht Fantasie, namensgleich fast mit der Fantasy. Der Phallus hingegen wurde zu keinem Fallus, was gewiss die Genderverhältnisse der Kommission widerspiegelt. Milos Archibald Novalsky, hinter dem wir getrost einen programmatischen Joshua Groß vermuten können, sieht in der deutschen Literatur auf breiter Front das Mittelmaß am Werk. Eine große „Vision der Langeweile“, weil „nichts einfacher zu produzieren ist als mittelmäßiger Realismus“. Es sei der einfache Weg ohne Widerstände, in Schreibkursen und bei Texttreffen gefördert. „Wer sich dem mittelmäßigen Realismus verschreibt, erzielt am schnellsten Erfolge. Aber darüber hinaus erwächst kein Werk, kein Stil, keine Eigenheit, keine Besonderheit, nichts Bleibendes. Daraus erwächst nichts als ambitionsloser Einheitsbrei.“
In Wirklichkeit, heißt es in einer anderen Fußnote, ist die Kunst nie realistisch.

Goebbels macht Urlaub im Salzkammergut

Der 1989 geborene Joshua Groß, wohnhaft in Nürnberg, geht aufs Ganze. Er will nicht langweilen, nicht kleinkariert und zaghaft sein, er tanzt uns auf vielen Nasen. Gleich im zweiten Absatz von „Faunenschnitt“ kommt das Arung vor, auch Dachskraut oder weißer Dolmetscher, Universumsfinger, badgers dream oder Perzeptionskraut genannt. Eine bewusstseinserweiternde Pflanze, vor allem in der amerikanischen Surfmusik der 1960er Jahre zum ultimativen Heilkraut stilisiert, behauptet die erste der insgesamt zehn Fußnoten des Buches, von denen einige der Wahrheit und die meisten der Phantasie entstammen. Echt ist zum Beispiel das Zitat in Fußnote 5 aus „Auf den Spuren der Partisanen. Zeitgeschichtliche Wanderungen im Salzkammergut“ (2006) und die zugehörige Buchepisode, in der es um die Geheimaktion des österreichischen Widerstandskämpfers Albrecht Gaiswinkler geht, der am 8. April 1945 vom britischen Geheimdienst per Fallschirm über dem Höllengebirge abgesetzt wurde, allerdings über dem falschen Kamm (das Gebirge heißt wirklich so), um Joseph Goebbels zu verhaften oder zu erschießen, der am Grundlsee im Salzkammergut Urlaub machte.

Was würde Astrid Lindgren machen?

Historisch verbürgt ist auch die Aktion Bernhard, die große Geldfälschungsaktion des Sicherheitsdienstes (SD) im Reichssicherheitshauptamt, deren Druckplatten im Toplitzsee landeten (und auch dem Film „Die Fälscher“ zugrunde lagen). Louis Armstrong hat tatsächlich in Nürnberg ein Konzert gegeben, Person der Zeitgeschichte ist Thomas Middelhoff, der als Patient einer Therapeutin vorkommt und davon überzeugt ist, ehrenvoll zu sein. Real ist Boosie Badazz, bis 2014 bekannt als Lil Boosie, ein afroamerikanischer Rapper aus Baton Rouge, dessen Lyrics sich „wie eine nahezu vollständige Sammlung menschlichen Zweifels“ anfühlen. Überhaupt HipHop – Joshua Groß ist da ein Prophet. Die EP (extended play) „Cigarette Boats“ des Rappers Curren$y zählt er zu den größten Errungenschaften der neueren Rap-Geschichte, weil „sie klingt, wie die deutsche Gegenwartsliteratur nie klingen wird“. Einer der „ermessensten Verses“ sei darin der von Styles P. in „Way Out Here (WOH)“, dessen Reime alles haben, „um zu einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit zu werden, die Sehnsucht konserviert“. Zitat: „You can grow weed but I can exhale und grow a cloud.“ (Du magst das Gras aufziehen, aber ich atme aus und lasse eine Wolke wachsen.)

„Alles, was hier steht, altert anders als ich“

Sommerfrische im Salzkammergut, immer wieder ein Ort namens Gößl. Kapitel mit Ruinen verblichener Pharaonenträume, heruntergekommener Empfindsamkeit, einer bissigen Muräne, einem veganen Hund, Ablenkungstherapie, Blaulicht aus der Konservendose, undurchsichtigen Beschwörungsformeln, Most, einem Waranendichter, vernebeltem Sonnendenken, Eisvögeln und Erdumdrehung und der Frage: Was würde Astrid Lindgren machen? Eine Terrorgruppe namens „Das Merkel’sche Kreuz“ stürmt das ZDF-Hauptstadtstudio, und aus Solidarität senden alle öffentlich-rechtlichen Anstalten das Programm des ZDF. In einem frühen Absatz über Frauen, die keine BHs tragen, verkündet der Autor, dreiste Zartheit und merkwürdige Zweifel vereinen zu wollen: „Was ich hier versuche, ist so, als würde man in einem Porno nach Vertraulichkeit suchen … Und mein Hustle hält an. Ich werde mich mythologisch so aufladen, dass ich nach meinem Tod zu einem Sternbild werde.“

An anderer Stelle heißt es: „Alles, was hier steht, altert anders als ich.“ Nach seinem Beruf gefragt, antwortet der Ich-Erzähler einmal: „Ich baue ein begehbares Kaleidoskop.“ Alles Irdische, sagt das Buch anderswo, ist nur eine Brausetablette.

Joshua Groß will nicht langweilig sein. Kann es gar nicht. Er gehört zu unseren Ausnahmeautoren, trinkt als Narr den Nektar himmelaufwärts, um den fränkischen Schriftstellerpatron Jean Paul zu zitieren.

litMag_MagischeRosinen_U1_OKSahra Wagenknecht hatte keine Einwände

„Bewusstseinspfannkuchen“ hieß seine kurze surreale Erzählung, den Lyrikband „Ich will dich nicht ins Unendliche weiterdenken“ gab es nur in einer limitierten Auflage von 72 Stück. Die größere Erzählung „Magische Rosinen“ trug den Untertitel: „Die Geschichte von Mascarpone und Sahra Wagenknecht. Novelle aus dem Spätkapitalismus“ und kam dem jungen Deutsch-Rapper und der linken Politikerin ganz schön frech nahe: „Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zwar beabsichtigt, die Figuren dieses Buches sollten aber nicht mit ihren Vorbildern verwechselt werden.“ Aus dem Büro von Sahra Wagenknecht hieß es auf vorsichtige Anfrage des Verlages, sie sei die Letzte, die in die Freiheit der Kunst eingreifen werde. „Der Trost von Telefonzellen“ war der Titel des Debütromans von Joshua Groß. Zwei junge Bohemiens rollen darin in einem alten VW-Bus durch Franken, sind auf der Suche nach dem Sinn des Lebens oder zumindest nach einer coolen Haltung, rauchen Wasserpfeife und kiffen sich was. Der eine ist angehender Maler, der Erzähler Emil ein Lyriker, der in Songzitaten schwelgt. Erhellendes von Joshua Groß über Hip-Hop findet sich übrigens im Suhrkamp-Logbuch.

Die Kritik sah in den „Telefonzellen“ die amerikanische Beatnik-Literatur eines Richard Brautigan, Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William S. Burroughs ebenso gespiegelt wie den magischen Realismus eines Julio Cortázar. Ganz schön viel Lob für ein Debüt. Der Roman interagierte aufs Schönste mit den Fotos von Philippe Gerlach. Nicht jeder Verlag würde so etwas ermöglichen. Joshua Groß ist da in einem guten, feinen Haus.

Lesen mit scharfem Messer

Der starfruit Verlag in Fürth wird von Manfred Rothenberger, dem Leiter des Instituts für Moderne Kunst in Nürnberg, geführt. Die Bücher sind nicht nur, wie man so gern pauschal sagt, bestens ausgestattet. Sie unternehmen einen künstlerischer Austausch von Wortkunst und Bildkunst, sind immer wieder Kandidaten für die schönsten Bücher des Jahres der Stiftung Buchkunst. So auch die „Magischen Rosinen“ von Joshua Groß, die ein Schwarzweiß-Fotoessay von Philippe Gerlach begleitete. Die Nürnberger Fotografin und Bildhauerin Hannah Gebauer, die Groß‘ Gedichtband komplimentierte, gibt nun auch „Faunenschnitt“ eine im buchstäblichen Sinne zusätzliche Dimension.

So viel sei verraten: Sie brauchen als Leser ein scharfes Messer dazu. Und den notwendigen Willensakt. Selten spürte ich so viel Gänsehaut bei der Aneignung eines Buches wie bei der Lektüre von „Faunenschnitt“. Dieses Buch ist eine außergewöhnliche Erfahrung, der Spaßfaktor dabei hoch. Eine Frischzellenkur für die Perzeption. Auf der vorletzten Romanseite notiert der Erzähler: „Es wird erst zu Veränderungen kommen, wenn die Zarten und Komplexen verstehen, dass sie in Wirklichkeit die Mutigen sind.“

HKS 13 und die Credits

Gestaltet wurde das Buch von Timo Reger, Nürnberg. Die Herstellung besorgte die DZA Druckerei zu Altenburg, die auf eine 400jährige Geschichte zurückblicken kann.
Farblich nimmt die Typografie direkten Bezug auf den temporeichen Text. Die Egyptienne, 1956 von Adrian Frutiger entworfen, als Grund- und Headlineschrift zitiert sowohl den klassischen Kriminalroman, die Ästhetik des Film Noir wie auch die Plattencover des Cool Jazz und des Bebop. Dies wird ironisch gebrochen durch die durchgehend verwendete Farbe Rot für die komplette Typografie des Innenteils. Der warme Rotton (HKS 13) entspricht dem Klang des Textes und steigert den Kontrast zwischen Schrift und Bild. Die Fotografien Hannah Gebauers entstanden On-Location in Gössl am Grundlsee in Österreich, dem Hauptschauplatz des Textes. Sie ergänzen die Handlung um assoziative Räume. Gedruckt wurde „Faunenschnitt“ auf FLY Weiß 05, einem spezialgeglätteten Natur-Papier mit 1,2-fachem Volumen von PapierUnion (80 g/qm), mit angenehmer Haptik und guter Farbwiedergabe. Die doppelseitigen, randabfallenden Fotos sind in Schmetterlingsbindung zwischen die verschiedenen Textlagen eingebunden. Man kann sie nur betrachten, indem man wie durch ein Schlüsselloch von oben oder unten in die geschlossen Seiten blickt oder indem man die Seiten aufreißt oder schneidet und dabei in Kauf nimmt, Bild und Buch zu beschädigen. Diese Möglichkeit der Interaktion mit dem Buchobjekt war ein wesentlicher Aspekt der Konzeption, den Hannah Gebauer in den Gestaltungsprozess einbrachte.

Die Erstauflage mit 1.500 Exemplaren verspricht, eine bibliophile Rarität zu werden. Joshua Groß muss man aber nicht nur deshalb im Auge behalten.

Alf Mayer

PS: Faunenschnitt bezeichnet das plötzliche Verschwinden von vielen zuvor prägenden Organismen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Erdgeschichte, etwa durch das Massensterben von Organismen. Man darf bei dem Buchtitel aber auch den römischen Halbgott denken, Pendant des griechischen Pan, an Mallarmés Gedicht „L’Après-midi d’un faune“ (ca. 1866) und an Debussys Vertonung „Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns“, außerdem steckt Joshua Groß genug Bargfeld’sches hinein, damit man auch eine Verbeugung vor Arno Schmidt und seinem Kurzroman „Aus dem Leben eines Fauns“ sehen kann.

PPS: In der Neuzeit wurde der Begriff Perzeption von René Descartes als perceptio ab imaginatione et a sensibus (Erfassen durch Vorstellung und Sinne) definiert. Gottfried Wilhelm Leibniz rückte auch Schlaf und Traum, das ganze Thema des Unbewussten hinzu. „Auf ihnen beruhen unsere unbestimmten Eindrücke, unser Geschmack, unsere Wahrnehmungsbilder der sinnlichen Qualitäten, welche alle in ihrem Zusammensein klar, jedoch ihren einzelnen Teilen nach verworren sind; auf ihnen beruhen die ins Unendliche gehenden Eindrücke, die die uns umgebenden Körper auf uns machen, und somit die Verknüpfung, in der jedes Wesen mit dem übrigen Universum steht. Ja man kann sagen, dass vermöge dieser kleinen Perzeptionen die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht und mit der Vergangenheit erfüllt ist, dass alles miteinander zusammenstimmt und dass Augen, die so durchdringend wären wie die Gottes, in der geringsten Substanz die ganze Reihenfolge der Bewegungen des Universums lesen könnten.“ (Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Einleitung)

Joshua Groß/ Hannah Gebauer: Faunenschnitt. Herausgegeben von Manfred Rothenberger und Institut für moderne Kunst Nürnberg. starfruit publications, Fürth 2016. 124 Seiten, sowie 12 nicht paginierte doppelseitige Farbfotografien in japanischer Bindung. Hardcover, 24 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autor. Interview mit dem Autor.

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