Geschrieben am 29. November 2014 von für Bücher, Crimemag

Maigrets Frankreich. Fotografiert von Brassaï, Cartier-Bresson, Doisneau et al.

Maigrets_FrankreichSein Paris?

Mit Commissaire Maigrets Augen durch Frankreich – durch Paris, übers Land, an die Atlantik- und an die Mittelmeerküste und durchs Binnenland. Ein Prachtband verleiht dem Commiassaire Augen – die Kameras von Großmeisterinnen und Großmeistern wie Sabine Weiss, Janine Niepce, Brassaï, Eugène Atget, Robert Doisneau und vielen anderen … Thomas Wörtche schwärmt, wenn auch mit leiser Skepsis.

Neben gnadenlos effektiver Erzählökonomie und einem erstaunlich scheuklappenfreien Blick auf die Welt und auf Homo sapiens ist es vor allem Georges Simenons Vermögen, Atmosphären sowohl zu beschreiben als auch zu erschaffen. Eine kleine schäbige Kneipe in Paris, ein Sonntag auf dem Land, ein schläfriges Dorf im Midi, ein Hafen in der Normandie – zwei, drei Zeilen, ein paar kurze Absätze, und wir wissen, wie es dort aussieht, riecht, und wer sich da aufhält. Das gilt, cum grano salis, sowohl für seine romans durs, also die ohne Maigret, als auch für die romans policiers mit Maigret. Nun ist es aber ziemlich egal – die roman policiers sind keine Polizeiromane und die Non-Maigrets sind meistens Kriminalromane wie die mit Maigret.

Georges Simenon (1963) by Erling Mandelmann von Erling Mandelmann - photo©ErlingMandelmann.ch. Lizenziert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 über Wikimedia Commons - http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Georges_Simenon_(1963)_by_Erling_Mandelmann.jpg#mediaviewer/File:Georges_Simenon_(1963)_by_Erling_Mandelmann.jpg

Georges Simenon (1963) (© ErlingMandelmann.ch./wikimedia commons)

Die Macht der Bilder

Die Macht der Atmosphäre, die mit Gewalt und Verbrechen nur insofern zu tun hat, als alle Simenon’schen Szenarien und Schauplätze ungeachtet der Geographie, Topographie und Soziologie grundsätzlich immer kriminogen sind, ist gewaltig: Georges Simenon hat ein Bild von Frankreich festgeschrieben, das bis heutige seine Gültigkeit hat. Soweit kann man das zumindest behaupten, wenn man sich lediglich auf Simenons Texte bezieht. Michel Carly hat einen wunderbaren Fotoband zusammengestellt, in dem er Texte – meistens ganz knappe, kurze Ausschnitte aus Maigret-Romanen – mit Fotos kombiniert, die denselben Sachverhalt zeigen: eine kleine schäbige Kneipe in Paris, ein Sonntag auf dem Land, ein schläfriges Dorf im Midi, ein Hafen in der Normandie. Und meistens die Menschen, die sich dort tummeln. Und siehe die Korrespondenzen zwischen den Augen der Fotografen, die selbst allesamt an der großen Ikonographierung des 20. Jahrhunderts teil hatten – also Cracks wie Henri Cartier-Bresson, Robert Doisneau, Sabine Weiss, Brassaï (siehe auch hier) und andere – sind evident. Eine zeitliche Koinzidenz? Ein Beweis für die kulturelle Großmacht, die Frankreich in den 20ern, 30ern, 40ern (dennoch!) und 50ern war? Eine Bruderschaft des Geistes?

Jean-Pierre Melville  (Photo by safariunderground.net/wikimedia commons)

Jean-Pierre Melville (Photo by safariunderground.net/wikimedia commons)

Foto vs. Text?

Auffällig ist dabei, dass die Texte und die Fotos nicht im Dialog von Rede und Gegenrede stehen, sondern gleichgerichtet sind, sich gegenseitig bestätigen. So hat also die Kneipe, die wir mit Maigrets Augen sehen, wirklich ausgesehen. Genauso, wie er es erzählt. Und seine Erzählung erfindet eine Kneipe oder eine nächtlich-neblige Straßenszene, die dann später Janine Niepce oder Henri Martini fotografieren.

Das Vorwort des, sagen wir: rechtskatholischen, Schriftstellers Dennis Tillinac, sieht in diesen grandiosen Bild-Text-Kombinationen eine Hommage an „unser Frankreich, unser Paris“, das das Frankreich des Commissaire Maigrets gewesen sei. Das ist insofern wahr, als man in den Texten und Bildern jene wohlige Nostalgie vermittelt bekommt, die ein Antidot zu den klaren, kühlen, abstrakten Bildern Frankreichs darstellen, die Autoren und Filmemacher wie Jean-Patrick Manchette, Jean-Pierre Melville oder Claude Chabrol entworfen haben. Tillinac hingegen meint, durchaus polemisch dagegen gerichtet, „unter dem dünnen, täuschenden Firnis von Modernität lebt Maigrets Frankreich weiter.“ Wenn dem tatsächlich so sein sollte, dann gern das Frankreich, das meisterhaft erzählt, großartig inszeniert und komponiert, genial ausgeleuchtet und brillant ins Bild gesetzt Geschichten aus dem Alltag erzählt, der dann doch immer einen Commissaire als Kommentator braucht.

Der Prachtband, von Diogenes wie immer in solchen Fällen sehr liebevoll gemacht und ausgestattet, ist natürlich auch ohne komplizierte Implikationen ganz und gar wollüstig zu konsumieren. Das Glück beim Blättern, sozusagen …

Thomas Wörtche

Maigrets Frankreich. Fotografiert von Brassaï, Cartier-Bresson, Doisneau et al. Mit Texten von Georges Simenon. Zusammengestellt von Michel Carly. Mit einem Vorwort von Denis Tilliac (La France de Maigret, vue par les maîtres de la photographie des xx ͤ siècle, 2007). Einleitende Texte ins Deutsche übersetzt von Anna von Planta. Zürich: Diogenes Verlag 2014. 216 Seiten 49,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

Tags : , , ,